Gut geturnt

von Christian Rakow

Berlin, 20. November 2010. Das ist selten: Szenenapplaus fürs Bühnenbild, für eine himmelhoch aufragende, rotweiß gestreifte Tambourtrommel von Bert Neumann. Wenn sich ihre Seiten öffnen, verwandelt sie sich in ein kolossales Zirkuszelt mit rotierenden Aluvorhängen, Stoffbahnen mit Propagandadrucken und einem Panoramafoto vom Grunewald. Heillos durchstrauchelt Sophie Rois als galizischer Jude Kaftan diesen Bilderwald. "Berlin, da bin ich. Wo bist Du?"

"Im hypertrophischen Wachstum zur Vielmillionenmetropole erhielt sich ein Rest von Peripheriecharakter", so beschreibt Walter Mehring in einem der vielen epischen Einschübe seines Großstadtpanoramas "Der Kaufmann von Berlin" (1929) das historische "Preußisch-Berlin". Mit diesem "Peripheriecharakter" ist nicht nur eine Nische fernab der assimilierten jüdischen Kultur angesprochen: das ländliche, kleinhändlerische Scheunenviertel, die Gegend um die Volksbühne. Mehrings Blick zurück in die Inflationszeit 1923 visiert überhaupt die leere Mitte der Weimarer Republik an: eine fragile Demokratie unter dem Druck von Peripherien, zwischen rechten und linken Revolutionären, außenpolitisch isoliert, von Reparationslasten bedrückt.

"Berlin ist cool geworden"

Diese diffuse Kräftekonstellation muss Frank Castorf interessiert haben, bedeutet sie doch einen Kontrapunkt zu unserer Ära, in der sich Berlin in der "Mitte" konsolidiert. "Berlin war mal eine kalte und eine heiße Stadt, jetzt ist sie cool geworden", lautet sein gut gepflegtes Bonmot, das Castorf dem "Kaufmann von Berlin" im Programmheft beigibt. Dass die Uraufführung 1929 von Erwin Piscator besorgt wurde – nach seinem Weggang von der Volksbühne zum Nollendorfplatz (wo sie schnell Zielscheibe nationalsozialistischer Hetze wurde) –, spielt der Wiederentdeckung zusätzlich in die Karten. Schließlich legt Piscators politische Montageästhetik, mit Video und Episierung, eine Traditionslinie an, die bis zu Castorf selbst führt.

Eingekürzt sind die pathetischen Dimensionen der Stückhandlung. Mit einhundert Dollar steigt der Jude Kaftan während der Inflation zum Bankier auf, wird bald unwissentlich von antisemitischen Putschisten als Finanzier eingespannt, ehe er durch die Währungsstabilisierung nicht nur sein Vermögen, sondern, während ein Pogrom wütet, auch seine Tochter Jessi verliert. Der Tod der Tochter fehlt bei Castorf (stattdessen endet es etwas profaner mit dem Eintritt in die Prostitution). Alle anderen Geschehnisse klingen in einem großen Stimmengewirr an, das die Inszenierung schrill orchestriert.

Feuerritt auf Flakgeschütz

Der Akzent liegt auf den nationalistischen Rändern, deren Echoraum durch Reflexionen auf die Walter-Rathenau-Attentäter um Ernst von Salomon und die Organisation Consul verbreitert wird. Dieter Mann gibt bei seinem Gastauftritt an der Volksbühne wunderbar gemessen den antisemitischen Strippenzieher Dr. Müller (wie das Great Barrier Reef in der Brandung des Castorf'schen Wuseltheaters). Wildjagend umspielt ihn ein Marc Hosemann in Höchstform mit diversen durchgeknallten Rechtsauslegerauftritten, sekundiert von Mex Schlüpfer, der aasig seine SA-Chargen hinkauzt.

Und Kaftan? Er durchläuft bei Sophie Rois eine Assimilationsbewegung vom wirr staunenden Hundert-Dollar-Juden (mit Bart und Pelzmütze) zum buchhalterischen Anzugträger mit Pilzkopffrisur. Durchweg bleibt er lieblich naiv. Einfachste Additionen fallen ihm so schwer wie Grundschülern eine Differenzialgleichung. Das Klischee vom gierigen Juden ist gründlich weginszeniert. Für Power seitens der Seinigen sorgen abwechselnd eine fabulös garstige Margarita Breitkreiz als seine Tochter Jessi und Maria Kwiatkowsky als selbige Jessi, wenn sie das finale Pogrom zionistisch konterkariert und durch einen Feuerritt auf einem Flakgeschütz beantwortet.

Politik wird Popanzspektakel

Überall wird gegen den Strich gelesen, sprießen die Travestien. Haltungen wechseln im Sekundentakt. Figuren werden in Zitatkonglomerate pulverisiert. Mindestens am Anfang ergibt das einen schönen Historienschwank. Auf die vier Stunden Gesamtdauer gesehen, drängt sich dann aber doch die Frage auf, wozu der abnehmend lustige Mummenschanz eigentlich angesetzt ist. Die Balance zwischen Mitte und Peripherie gerät in der allumfassenden Dezentrierung von Figuren und Motiven jedenfalls bald aus dem Blick.

Mehring zeigt, wie Kapital politisch instrumentalisiert wird und sich letztlich gegen den Kapitalisten Kaftan selbst wendet. Eine Fabel mit tragikomischer Ironie. Castorf treibt sie weiter in den Sarkasmus: Im Zeichen des Kapitals verwandelt sich bei ihm alle Politik in Popanzspektakel. Auf einen dialektischen Rückschluss oder auch nur einen Hauch existenzieller Grundierung wartet man vergebens. Nirgends gibt das Spektakel den Blick frei auf eine Politik, die das Kapital ihrerseits zu bändigen wagte. So bleibt die historisch – mit Blick auf die aufkommenden Bewegungen der 1930er Jahre – reichlich unschuldige Lektüre auch aktuell wenig anschlussfähig. Und man bestaunt und bedauert eine Inszenierung, die viele Salti schlägt, ohne ein Mal auf den Füßen zu landen.


Der Kaufmann von Berlin
von Walter Mehring
Regie: Frank Castorf, Bühne: Bert Neumann, Kostüme: Tabea Braun, Video: Jens Crull, Kamera: Mathias Klütz, Licht: Lothar Baumgarte, Dramaturgie: Sebastian Kaiser.
Mit: Bärbel Bolle, Margarita Breitkreiz, Marc Hosemann, Maria Kwiatkowsky, Dieter Mann, Sophie Rois, Mex Schlüpfer und Volker Spengler.

www.volksbuehne-berlin.de


Mehr zu Frank Castorf gibt's im nachtkritik-Lexikon. Und wer Lust auf noch mehr Kaufmänner hat, lese über Shakespeares "Kaufmann von Venedig", etwa in den Inszenierungen von Armin Petras am Berliner Maxim-Gorki-Theater oder von Elmar Goerden in Bochum. Auf welchen Bühnen die Kontrakte des Kaufmanns von Elfriede Jelinek jüngst zu sehen waren, können Sie ebenfalls im nachtkritik-Lexikon erfahren.

 

Kritikenrundschau

Castorf verspüre einen aufklärerischen Auftrag, meint Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (22.11.2010), und zwar "angesichts der nachgewachsenen und zugezogenen glatten Leute, die hier in Mitte wohnen und die keine Ahnung von der Lokalgeschichte haben." Dieses Bildungsanliegen habe ihm "von einem seiner vielen Ex-Dramaturgen den Vorwurf eingebracht, er wolle ein Märkisches Museum aus der Volksbühne machen. Doch da besteht keine Gefahr. Denn für einen Heimatkundelehrer verfügt Castorf zwar über das nötige brennende Interesse, was ihm jedoch fehlt, ist jegliche vermittlerische Geduld. Seine Inszenierung führt vor allem zweierlei vor: die Omnipotenz der Schauspieler und die Unkundigkeit des beschämten und ermüdeten Zuschauers." Von einem gelungenen Abend könne "trotz aller assoziativen und schauspielerischen Energie nicht die Rede sein, eher von einer wilden, interessanten dramaturgischen Katastrophe. Aber Gelungenheit ist nun mal eine Kategorie, die einen wie Frank Castorf langweilt."

Im Tagesspiegel (22.11.2010) schreibt Andreas Schäfer: "Sich im Stoff verlieren! Ist das nur einer der vielen Kalauer, die in der Luft liegen, oder Castorf'sche Selbstironie? Es lag nicht nur 1923 und 1929 viel in der Luft, sondern auch vor dieser Inszenierung, einem Coup der Volksbühnendramaturgie. Es kommt viel zusammen. Die Wiederentdeckung eines vergessenen Autors mit einem noch mehr vergessenen Skandalstück, das rund um den Bülowplatz im Scheunenviertel spielt, quasi am Ort der Volksbühne. Inflationssorge, Terrorwarnungen. Die Spannung war also groß - und verflüchtigte sich schnell während der schläfrigen Betrachtung eines Bilderreigens, eines vierstündigen George-Grosz-Gedenkpanoramas." Castorf inszeniere nicht, sondern male "das Grelle, Chaotische, Klischeehafte nach und blättert eine Art dreidimensionales Wimmelbuch der Zwanziger durch. (...) Es liegt ein süßlicher Historismus in der Luft, das Sentiment eines Briefmarkensammlers, das sich mit dem derben Humor einer Boulevardbude mischt. Mensch, damals war ja wat los jewesen!"

Die Welt (22.11.2010) widmet sich dem "Kaufmann von Berlin" in einer Kurzkritik, von der online nicht zu entscheiden ist, ob sie von Ulrich Weinzierl oder Elmar Krekeler stammt. Darin heißt es: Castorf "erkannte zwar, dass Mehrings Textmonster kaum als Steinbruch für eine schicke Parabelrevue auf die Gegenwart taugt. Er wollte es trotzdem spielen. Und so machte er eine Historienrevue draus: übers antisemitische, geldgeile, militaristische Weimardeutschland, über den unaufhaltsamen Aufstieg der braunen Brut. Türen klemmen. Der Text klemmt. Die Souffleuse hat ordentlich zu tun. Die Schauspieler haben es auch. Wie in Fieberschüben müssen sie Tonlagen und Rollen wechseln. Es wird ausgiebig jiddisch gesprochen. Was muss man eingenommen haben, fragen wir uns, um zu verstehen, was da abgeht?"

Mehr kann Georg Kasch in der Berliner Morgenpost (22.11.2010) diesem "Kaufmann von Berlin" abgewinnen. "Mehrings ausuferndes Stück ist eine literarische Wiederentdeckung, spitz und ironisch wie Tucholsky, kraftvoll und lebensnah wie Döblin, auch eine lebenspralle Berlin-Studie". Nicht dem "Aufstieg und Fall eines Ostjuden", sondern breiten "Milieu-Exkursionen" gelte Castorfs Aufmerksamkeit. Es sei ein "wüster, oft oberflächlicher Bilderbogen", der insbesondere durch Dieter Manns Gastauftritt "Momente der Tiefenschärfe" erhalte. Ebenso gelungen sei das Bühnenbild von Bert Neumann, in dem das Grunewald-Foto eine bittere Pointe liefere. Eingangs retuschiert, entdecke man später, wenn die Retusche schwindet, dort das Schild "Juden sind in unseren deutschen Wäldern nicht erwünscht." Fazit: "Hätte der Abend ein paar mehr Zuspitzungen dieser Art und weniger Leerlauf gehabt – er hätte ein großer werden können."

In der Märkischen Allgemeinen Zeitung (22.11.2010) nimmt Frank Dietschreit diese Aufführung und ihre "hinlänglich bekannten Bühnen-Späße" weniger gelassen: "Linker Antisemitismus" lautet sein Vorwurf an Mehrings Stück und seine Hervorholung aus dem "Theater-Giftschrank" durch Castorf: "Die von Mehring erfundenen und von Castorf auf die Bühne geschickten Juden sind Karikaturen ihrer selbst, brüllen in unverständlichem Jiddisch laut durcheinander, wollen Geschäfte um jeden Preis machen. Was in der Finanzkrise zum Glück keine Rolle spielte, hier kommt es zum Tragen: Das antisemitische, auch von der politischen Linken bediente Vorurteil vom raffgierigen Juden." Dieses Klischee, so der Kritiker, werde "auch nicht dadurch dementiert, dass Castorf die Rolle des Kaftan mit einer Frau besetzt."

Genau diesen Punkt sieht Hartmut Krug im Deutschlandfunk (Kultur heute, 21.11.2010) anders. Nicht nur mit der "souverän kabarettistischen" Einstiegsszenene entgehe Castorf dem Antisemitismus- wie dem Philosemitismus-Vorwurf, sondern auch "weil Sophie Rois diesen Kaftan als einen naiv-träumerischen, vor allem um seine kranke Tochter besorgten Menschen spielt". Castorf habe "das politische Erklärstück als historisches Spektakel inszeniert". Jedoch agiere darin jeder Schauspieler "wie er will und wie er sich fühlt oder sieht, und immer pflegt er dabei mit expressiver Überdeutlichkeit seinen eigenen, selbstgenügsamen Stil." Es sei "ein Schreitheater mit oft undeutlicher Artikulation, dem man eine Regiearbeit mit den Schauspielern nicht anmerkt." Trotz der Auftritte von Dieter Mann ("ein erratischer Kraftblock in einer zerfaserten Inszenierung") zeigt sich der Kritiker konsterniert: "Selten wurde so deutlich, dass Frank Castorf, verdienter Regisseur der Volksbühne, ästhetisch und inszenatorisch in einer Sackgasse gelandet ist."

Castorf "sieht die historische Kontinuität von Rassismus, Chauvinismus und seelenfressendem Kapitalismus", schreibt Jürgen Otten in der Frankfurter Rundschau (24.11.2010): "Deswegen dieses Stück. Deswegen die Radikalität der Mittel, das Vorlaut-Aufdringliche, das viele Besucher so verstört, dass sie schon zur Pause das Weite suchen." Dabei erkläre sich die Inszenierung erst von hinten und sei sinnvoll, obwohl der Abend miserabel durchchoreografiert sei und die Aussetzer enervierten: "Die Inszenierung ergibt politisch Sinn. Weil sie beschreibt, wie pervers der Prozess einer Akkulturation verlaufen kann, und wie verheerend und fremdgesteuert Faschismus auch im Einzelnen entsteht."

Weit weniger kann Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (24.11.2010) mit dem Abend anfangen: "Castorf walzt Mehrings deftige Collage zumeist äußerst uninspiriert durch trockene erzählerische Passagen und banal-überdrehte Soloeinlagen vier Stunden lang aus." Ansonsten werde "sattsam gejiddelt, berlinert, gebrüllt, gekreischt. Manchmal versteht man ansatzweise, dass der kritisch-polemische Autor einst Themen wie Antisemitismus, Nationalismus, Kapitalismus, Faschismus aufgespießt hatte." Immerhin lässt sich Frau Basinger von der Idee betören, "die außergewöhnliche Sophie Rois als Kaftan zu besetzen, wie um den Konflikt zwischen ursprünglicher und angenommener Seinsform zu verdeutlichen. Zuerst in orthodoxer Tracht mit Bart, dann im Geschäftsanzug ohne Bart, am Schluss im roten Paillettenkleidchen zeigt sie diesen ewigen Juden als kokettes wie getriebenes Energie- und Nervenbündel im Stil vergnügter Stummfilm-Ästhetik.

"Die einmontierten Vulgarismen aus Zilles 'Huren-Gesprächen', die historischen Ausflüge in die links- und rechtsradikalen Gespensterdebatten der zwanziger Jahre samt Ernst von Salomons nationalbolschewistischem Geplauder - das hat so viel Sprengkraft wie ein nass gewordener Silvesterkracher", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (3.12.2010), "auch wenn Marc Hosemann Ernst von Salomon sehr komisch als eine Art verstrahlten Groucho Marx spielt." Fazit des kurzen Texts: "Rezessionsboulevard und Kolportage, nur dass sich das arg zäh und zunehmend melancholisch und trist dahinschleppt."


Kommentare  
Der Kaufmann von Berlin, Berlin: nur noch leere Mechanik
das problem bei castorfs arbeiten ist doch inzwischen die ständige effekthascherei, erinnerte der cechov abend an gefallsüchtigen kuhdammboulevard mit angestrengten lachern auf comedy tv nivea, so ist bei dem kaufmann abend nur noch leere mechanik zu bestaunen. man wagt es kaum zu sagen, aber die volksbühne sollte endlich aus dem angestengten posen herausfinden und wieder lockerer werden. das ist alles so krampfig,gewollt,angestrengt, deswegen ein tip von frankie aus hollywood : relax,don ´t do it, if you don ´t want do it. vielleicht löst sich so die arschverkrampfung.
Der Kaufmann von Berlin, Berlin: Rettung vor dem Einschlafen
Bislang habe ich immer ausgehalten. Bei allen Castorf-Inszenierungen.
Bei dieser Inszenierung war ich froh, nicht den Beruf des Theaterkritikers ausüben zu müssen: ich konnte in der Pause gehen. (Obwohl ich davon gehört habe, dass sich Kritiker trotzdem vorzeitig aus dem Staub machen oder sich zwischendurch ein Nickerchen gönnen.)
Castorf präferiert mittlerweile ein blutleeres Opa-Theater, das, abgesehen vielleicht von den Obszönitäten, kaum noch jemand aufschrecken dürfte. Des Regisseurs zentrales Anliegen – die Darstellung der historischen Etappen der 20er Jahre – wurde ihm auch zum Verhängnis. Er durchläuft so ziemlich alle wichtigen Themen, z.B. Inflation, Ruhrgebietsbesetzung, Spekulationen, rechts- und linksradikale Aufruhre und versucht verkrampft, ihnen mit seinem Personal Leben einzuhauchen – was ihm aber nicht recht gelingen mag. Die Verhandlungen von Genua werden ebenso erwähnt wie die Ermordungen von Erzberger und Rathenau, wie die Marine-Brigade Ehrhardt und die Organisation Consul - und nach einem Zeitsprung ist man auch schon bei der Besetzung des Ruhrgebiets angelangt. Das Abhandeln und Streifen diverser Stationen war wohl das Ziel, eingekleidet in ein gefälliges Sprechtheater ohne Spannungsbogen.
Den 2. Teil kenne ich nicht, aber ich würde mich nicht wundern, wenn Castorf auch noch Karl Radek eingebaut hat. Der erwähnte kurioserweise lobend den rechten Freiheitskämpfer Schlageter, da der sein „uneigennütziges Blut“ nicht für die Profitgeier verspritzt habe. Wer weiß, vielleicht wähnte sich Castorf auch als Anwalt der Gegner des Spekulationskapitalismus und hat sich damit anprangernd in die negativen Mechanismen der Marktwirtschaft eingemischt. Wenn schon, wollen wir einen fairen Kapitalismus!
Immerhin, Spengler wirkt mit dem aufgeklebten borstigen Schnurrbart intelligenter als sonst und Mex Schlüpfer macht sich in der französischen Uniform besser als in der reichsdeutschen Militärmontur. Die Kneipen-Szene rettete mich wenigstens vor dem Einschlafen.
Der Kaufmann von Berlin, Berlin: Humorlosigkeit und Zynismus
Ich finde es sehr schade, wenn Theatermacher keinen Sinn mehr im Theater sehen und dann trotzdem für viel Geld eine große Bühne bespielen.
Das ist alles, was mir von diesem Abend hängen geblieben ist: Humorlosigkeit, Zynismus, Verachtung (Welt?Theater?Wir alle?), und Schauspieler die ihren Text nicht können. Ja, es gibt den Anfang vom zweiten Teil, an dem die Leute da oben auf einmal so wirken, als hätten sie Lust auf das wobei wir zuschauen sollen und miteinander spielen. Aber sonst...
Castorfs Kaufmann von Berlin: Sophie Rois vs. Isabelle Huppert
@ Flohbär
Da ist nun so viel passiert und doch nichts los gewesen? Vielleicht könnten wir uns ja Nächsten eine Theaterkarte teilen? Sie berichten vom ersten Teil und ich komme dann nach der Pause und kommentiere den Rest. Das ist effizient, spart Geld und wertvolle Lebenszeit. Bei Un Tramway von Warlikowski hätte das allerdings nicht funktioniert, da musste man 2,5 Stunden am Stück ausharren, was aber alles in allem ganz unterhaltsam war. Ob nun Sophie Rois als Kaftan oder Isabelle Huppert als Blanche DuBois die bessere Entscheidung war, werde ich erst am Donnerstag heraus bekommen. Warlikowski ist ja so was wie ein Edel-Castorf, Haute Couture trifft den Klempner auf den Champs-Élysées, richtig geschrien wird da eher weniger und geschlagen und vergewaltigt nur hinter der Bowlingbahn. Das Designer-Klo bleibt auch sauber, nicht wie bei Castorf. Es wird mit Sicherheit auch schöner gesungen, aber im Vergleich zu Endstation Amerika hat Castorf auf jeden Fall die Nase vorn.
Der Kaufmann von Berlin, Berlin: ist doch kein Privatfernsehen
Ich findes es überhaupt nicht schade, wenn Theatermacher die Sinnlosigkeit ihres Tuns infrage stellen, sie thematisieren, und es so wirkte, als sei alles negative Dialektik. Sinnlos ist das Stück auf keinen Fall (es sei denn, man hat seine Sinne beschränt), wie immer wurden viele Sinne angesprochen. Bei aller Kritik an das Textvergessen (das passiert bei Premieren nun mal) bietet Castorf wieder mal Castorfs Lesart der Gegenwart an, und das unter Zuhilfenahme der Vergangenheit. So funktioniert Theater. Es muß sich nicht immer alles erschließen, das ist vielmehr doch gerade das Erotische, das Sinnattrahierende an so einem Abend, und eben hier versteckt sich der Humor. Warum nur ist Zynismus immer die Totschlagkeule, ich finde Castorf zeigt uns sehr wohl, daß unsere Erwartungshaltung schon das Problem ist, womit wir alles auch immer positiv aufladen. Also: Nochmal hingehen, nochmal anschauen und nicht gleich urteilen mit verurteilen verwelchsern (danke Jandl). Schließlich liest man Adorno auch nicht mal eben so am Abend duch oder Luhmann. Ist doch kein Privatfernsehen, das!
Castorfs Kaufmann von Berlin: kein Jamais-vu
@Stefan:
Ich möchte von dieser Aufführung keineswegs abraten, gebe Ihnen aber einen Ratschlag: Trinken Sie entgegen Ihrer Gewohnheit vorher eine Flasche Wein oder greifen Sie zu einem sonstigen Genussmittel mit ähnlicher Wirkung. Vielleicht könnte das bei dieser Inszenierung ganz hilfreich sein...
Möglicherweise mag es an Castorfs vorgerücktem Alter liegen – jedenfalls kam es mir manchmal so vor, als befände ich mich in einem Stück von Peymann, nur dass bei dem nicht so viel gebrüllt wird. Der Boulevard-Charakter vieler Szenen lässt sich durch artistische Effekte auch nicht künstlich aufwerten. Wäre das mein erster Castorf gewesen, hätte mir die Inszenierung womöglich zugesagt. So blieb nur ein schales Déjà-vu-Erlebnis, wo ich doch ein Jamais-vu-Erlebnis erhoffte. Alles wirkte irgendwie abgedroschen, war lediglich in eine neue Umgebung verpflanzt. Diese raubeinigen, geistig unterbelichteten Soldatentypen, von Hosemann und Schlüpfer gespielt, habe ich schon etliche Male gesehen, auch in diesem Haus. Hosemann, von Ulrich Seidler als „großartigster Bühnen-Rotzberliner“ gefeiert, rotzt tatsächlich ein wenig herum, aber keineswegs brillant. Einmal unternimmt seine Figur sogar einen Ausflug ins Erotische: in einer Kneipe werden, soweit ich verstanden habe, Sprüche über anale und vaginale Dehnungen zum Besten gegeben. Neben den derb-kraftvollen Auftritten war dies auch ein Teilaspekt des vulgären Repertoires, das selbst den begriffsstutzigen Zuschauern begreiflich machen soll, dass bei der Schwarzen Reichswehr die Sau rausgelassen wurde. Da Castorf gern in eine Textvorlage eingreift – in einer Frankfurter Zentrale wird das Regisseurstheater genannt – hätte ich mich nicht gewundert, wenn der Meister, um seine Slapstick-Meisterschaft zu demonstrieren, deutsche Truppenübungen auf sowjetischem Territorium präsentiert, was ja laut Rapallo-Vertrag erlaubt war. Mit diesem Kunstgriff hätte er noch etwas reingepackt.
Manch einer meint, wenn er nur Szenen sieht, dabei müsste sich doch etwas denken lassen. Ansonsten finden sich kaum Inhalte, die dazu geeignet wären, den Denkapparat aus seiner Lethargie zu reißen. Der Zuschauer wird auf seine reine Sinnlichkeit zurückgeworfen und kann sich voll und ganz auf optische Reize konzentrieren: Schaltungen im Gehirn kommen wegen zu schwacher Impulse erst gar nicht zustande.
Stefan, falls Sie Materialfetischist sind und auf Tradition setzen, kommen Sie im „Kaufmann“ voll auf Ihre Kosten. Man erzählt, dass in der Volksbühne Requisiten über eine längere Zeit hinweg aufbewahrt werden. Das Fehlen der Werktreue wird durch Objekttreue ersetzt.
Irgendwann kommen in der Inszenierung gewisse Blecheimer zum Einsatz. Wahrscheinlich sind es diejenigen, die schon in „Schuld und Sühne“ benutzt wurden, und zwar in jener Szene, als sich Raskolnikow (Wuttke) und Marmeladow hemmungslos besaufen, um anschließend den Mageninhalt in die bereitstehenden silbrigen Behälter zu entladen.
Der Kaufmann von Berlin, Volksbühne: kann man sich Inszenierungen schönsaufen?
@ Flohbär
Na da bin ich aber froh, das Sie kein Jamais-vu-Erlebnis hatten, denn Sie wissen schon, das solche Phänomene in gewohnter Umgebung und da zähle ich das Innere von Theatern schon irgendwie dazu, von beginnender geistiger Verwirrung zeugen. Aber mit dem Déjà vu ist es ja sehr ähnlich. Müsste ich mir da jetzt ernsthaft Sorgen um Sie machen? Vielleicht sollte ich mich sicherheitshalber in der Requisite der Volksbühne erkundigen, ob die Eimer tatsächlich schon so alt sind, oder doch eher eine Sinnestäuschung Ihrerseits vorlag. Ansonsten gute Besserung. Dann wäre da noch ein weiterer Vorschlag, öfter mal das Theater oder zumindest die Sitzreihe wechseln. Man sollte sich nirgends zu heimisch fühlen, sonst verwechselt man das noch irgendwann mit seinem Wohnzimmer und sucht ständig die Fernbedienung unterm Sitz. Aber Sie haben schon Recht, es fällt den hiesigen Theatern bisweilen schon schwer einen noch wirklich zu verblüffen. Mich verblüfft aber auf jeden Fall ihr immenses Erinnerungsvermögen, wenn ich nicht irgendwann angefangen hätte mir alles aufzuschreiben, würde ich nach einem Jahr wahrscheinlich alles für total neu halten. Deshalb bleibe ich lieber vor der Vorstellung abstinent und nehme die hochprozentigen Sachen danach, als Digestif oder Verrisserle wie man so sagt. Das ist auch besser wegen der Länge der Castorfinszenierungen und der Gefahr hinwegzudämmern oder anderer altersbedingter Gebrechen, von den Schaltungen im Gehirn mal ganz abgesehen. Und ob man sich Theaterstücke wirklich schön saufen kann, wage ich noch zu bezweifeln. In der Volksbühne wurde das zumindest früher öfter versucht, da rollten schon einige Male die Bierflaschen nicht nur auf der Bühne. Diese Leute mit Kurt Krömer wieder ins Theater zu bekommen, sind aber wohl gescheitert.
Der Kaufmann von Berlin, Volksbühne: ein Vorhaben
Ich sollte mich weniger auf Nachtkritik herumtreiben. Ich werde die kommenden Abende mit Peggy Pickitt, Un Tramway und dem Castorf-Kaufmann verbringen und meine Vorfreude ist schon etwas getrübt. Ich warte mal die ersten beiden ab, bevor ich mich für oder gegen Alkohol zum Castorf entscheide.
Der Kaufmann von Berlin, Volksbühne: das Krawatten-Publikum
@Stefan:
Jetzt reiten Sie mal nicht auf einer harmlosen Bemerkung rum, Stefan. Déjà-vu und jamais-vu sind Wendungen, die auch im nicht-pathologischen, bildlichen Sinn gebraucht werden. Ein Jamais-vu-Erlebnis hätte ich gern erlebt, im Sinne von: das ist neu, habe ich ja noch nie gesehen! Eine beginnende Verwirrung habe ich damit nicht gemeint.
Auch ich war bei der Aufführung nüchtern, bin im Theater fast immer nüchtern, dachte aber, dass eine andere Person den Abend durch einen Kunstgriff ins ästhetisch Erhabene wandeln könnte. Man könnte den Abend retten, indem man ihn mit anderen Augen sieht. Aber wenn alle Stricke reißen, halten Sie sich eben an Sophie Rois, die spielt konstant passabel.
Diesmal hatte ich tatsächlich die Perspektive gewechselt: ich saß ziemlich weit hinten. Vor mir entrollte sich das Panorama von einem Publikum, das aus auffällig vielen älteren Herren mit Krawatte bestand. Nichts mit bierseligen Krömer-Existenzen. Vermutlich betreibt die Volksbühne mittlerweile Werbung in Seniorenheimen. Zugegeben, Castorf besitzt auch einen unwiderstehlichen Altherren-Charme. Wahrscheinlich ist es ein verändertes Image der Volksbühne oder das Thema, das ältere Jahrgänge anlockte. Stefan, wenn Sie einen pyknischen Einschlag, also eine rundlich-kompakte Wuchsform besitzen, sind sie dort genau richtig. Ausnahmsweise könnten Sie auch mal eine Krawatte tragen, dann fallen Sie nicht weiter auf. Nun, ich will nicht spekulieren. Vielleicht ist auch das Potential an interessierten Zuschauern, die irgendwo zwischen 55 und 75 Jahren angesiedelt sind, inzwischen erschöpft.
Bitte keine Privatchats!
Mein Gott, schon wieder dieser selbstgefällige Privatchat von Flohbär und Konsorten. Das ist doch ein Mißbrauch von Öffentlichkeit, den ihr hier betreibt. Mich interessiert euer Alkoholkonsum und Terminplan nicht!
Der Kaufmann von Berlin, Volksbühne: Narren fressen
warum sendet sie aber dann nachtkritik? hat nachtkritik
einen narren an ihnen gefressen
an bär mit floh + konsortium?!
Der Kaufmann von Berlin, Volksbühne: schreiben Sie Wichtiges!
@Fucc:
Dann äußern Sie sich doch bitte zum Stück, sofern Sie etwas Wichtiges mitzuteilen haben. Ich habe das bereits getan - und die "Konsorten" schreiben in der Regel recht ausführlich über ihre Eindrücke. Im Gegensatz zu Ihnen, Fucc - besonders wortmächtig scheinen Sie ja nicht zu sein.
Was ich über das Publikum geschrieben habe, hätte auch an Hinz und Kunz adressiert sein können.
Kaufmann von Berlin, VB: leider eine Fan-Veranstaltung
Flohbär, das war ein Sonderabend, 120 Jahre Volksbühnenbewegung. Echt, das lag das Durchschnittsalter wirlich bei 65. Ich befürchtete schlimmstes. Doch man ging einfach zur Pause. Die dann blieben fraten sich in meinem Umfeld, ob das alles geladene Gäste waren, die einfach so gehen. "Nein!" sagte ein Verantwortlicher. Also saßen noch mehr in den Reihen und spätestens nach dem zweiten Kanonenschlag kam es dann, es bereite ihnen keine Freude.
Ich finde es nur Schade, dass es so wenige Leute gibt, die dieses Theater mögen. Ich gehe gern in die Volksbühne, lasse mich provozieren und setze mich auseinander. Auch wenn Castorf lieber auf Cuba weilt und zwei Tage vor der Premiere rumbrüllt, nein ein Peymann ist er nicht, keinesfalls. Das wäre ein zu lieber Opa. Ein Stachel steckt in Castorf. Er sollte sich nur endlich darauf besinnen. Woran liegt es, dass die Schauspieler den Text so wenig können? Mann hatte echt eine komplizierte Rolle, da fehlte wohl die Probezeit. Bei Sprengler gehört es dazu, der war eh unglaublich gut, wie auch Mann, Hosemann und Rois.
Insgesamt lohnt es sich für einen Castorffan hinzugehen. der Rest, der leider immer größer wird, bleibe lieber zu Hause. Die Volksbühne wird leider eine Fanveranstaltung. Schade.
Kaufmann von Berlin, VB: alles sehr expressiv
@ 10
Dann trinken Sie doch Muckefucc. Vielleicht gibt es ja außer Ihnen doch noch Leute die das interessiert. Schreiben Sie erstmal was, dann können Sie nämlich selber mit gestalten und Mitglied im Konsortium werden, die Stellung des primus inter pares ist noch frei.

@ Flohbär
Ich wollte Ihnen wirklich nicht zu nahe treten. Das war natürlich nur ein Scherz. Ich gehöre noch nicht zu den von Ihnen gesichteten älteren Jahrgängen und nach einer passenden Krawatte müsste ich bei mir ganz hinten im Schrank suchen. Wahrscheinlich wäre die dann noch von meinem Tanzstundenabschlußball aus den 80er Jahren und jetzt wieder topmodern. In der Volksbühne ist ja Retro immer schick. Auf die Idee, die Theaterzuschauer in Konstitutionstypen einzuteilen, muss man aber erst mal kommen. Betreiben Sie da eigentlich Phänomenologie wenn Sie da so gelangweilt bei Castorf sitzen? Der neidische und eher biedere Schopenhauer hat ja dem Genussmenschen Hegel zum Beispiel auch eine „Bierwirtsphysiognomie“ bescheinigt. Man ist halt was man isst oder so ähnlich.
Die Physiognomien der Darsteller, um mal wieder auf die Inszenierung zurück zu kommen, sind ja in den Kritiken, besonders in der von Ihnen schon zitierten von Ulrich Seidler und in der von Andreas Schäfer ja auch ein Thema. Es werden Vergleiche zu George Grosz oder Zille gezogen. Grosz mit seinen Dada-Anklängen und Beiträgen zu linken Satirezeitschriften finde ich übrigens sehr passend. Nun weiß ich nicht ob Castorf sich an Dada versucht hat, aber Walter Mehring ist ja auf jeden Fall auch diesem Umkreis zuzurechnen und hat viele satirische Sachen in den einschlägigen Zeitungen verfasst. Da ist es doch nur folgerichtig, dass Castorf das nun noch weiter überspitzt. Und Mehring war kein Kind von Traurigkeit, man nähme da nur sein Gedicht „Der Coitus im Dreimäderlhaus“. Wenn man das Stück so liest, ist das auch alles sehr expressiv, das kann man ja heute so auf einer Bühne gar nicht mehr bringen.
Nun werden wahrscheinlich zu dieser Inszenierung kaum Leute hingegangen sein, die das alles noch selbst erlebt haben, vielleicht höchstens noch als Kind. Mein seliger Großvater war ja gebürtiger Wilmersdorfer und in den 20er Jahren kein Kostverächter, wie aus meiner Familie kolportiert wird und aktives Mitglied in einem sozialdemokratischen Männergesangsverein. Leider ist nicht bekannt, ob er ins Theater ging und die Piskatorbühne besuchte. In seiner Statur wäre er übrigens auch als Groszkarikatur durchgegangen, er war eben auch ein Genussmensch, was ihm nach 33 allerdings vergangen ist, aber das ist eine andere Geschichte. Er hat jedenfalls Berlin verlassen und ist mit seiner Familie in die Brandenburgische Provinz gezogen, fast ein Fallada-Schicksal a la Kleiner Mann. Naja, die rundlich-kompakte Wuchsform meines Großvaters habe ich nicht geerbt, auch kann ich nicht singen, aber vielleicht sind da ja noch ein paar andere versteckte Gene in mir, die sich noch nicht gezeigt haben, in Berlin bin ich zumindest schon mal wieder angekommen.
Kaufmann von Berlin, VB: Angst vor Agamben
Dieses blöde Ge-Sie-tze geht mir sowieso auf die Nerven. Das soll wohl ein letzter Versuch der Selbsterhebung sein? - Also gut, du hast dich zum Kaufmann geäußert und wir haben es zur Notiz genommen! Weltbwegendes ist nicht heraus gekommen! Und ich habe Angsr davor, dass nun wieder in den nächsten 48 Volksbühnenbeiträgen das Gespräch auf Agamben und den Hund kommt!
Kaufmann von Berlin, VB: expressionistisch ist es allemal
@ich:
Die Textfehler haben mich nicht gestört, daran habe ich mich mittlerweile gewöhnt. Angesichts des zu absolvierenden Pensums ist das verzeihlich, ja allzumenschlich. Der Kräftige am Tresen ohne Bierwirtsphysiognomie...äh Spengler hat trotzdem vital und unverwüstlich gespielt. Doch manchmal reichen gelungene Einzelaktionen, hervorragendes Virtuosentum einfach nicht aus, denn es zählt das Ganze. Übrigens bin ich kein Castorf-Gegner: „Nach Moskau! Nach Moskau“ hat mir gut gefallen. In diesem Stück waren wegen des Tschechow-Stoffes auch schon viele ältere Jahrgänge vertreten – was mich nicht im Geringsten stört -, aber die Pensionäre im „Kaufmann“ wirkten wie zufällig hereingeraten, als hätten sie wahllos eine x-beliebige Veranstaltung im Kulturbetrieb begutachtet. Das muss tatsächlich am Fest gelegen haben. Dass die Volksbühne zu einer Fanveranstaltung geworden ist, dagegen ist nichts auszusetzen – leider gibt es zu wenig Fans.
@Stefan:
Inzwischen scheinen die Verweise auf Georg Grosz Mode geworden zu sein, vor allem, wenn es sich um ein Stück aus den 20er-Jahren handelt, wie bei „Dickicht der Städte“ im BE. Allerdings hat das Personal in „Dickicht“ durchweg Masken auf, Castorf hingegen verzichtet auf einen Maskenball und versucht, einige Personen, die auch als Typen zu verstehen sind, durch karikierende Überzeichnung in ihrer Eigenheit zu verschärfen. Durch ihre Wortwahl werden die Figuren zu Karikaturen, nicht durch die Verkleidung, wenngleich Sophie Rois anfangs „extrem“ jüdisch kostümiert ist und die optisch zerbrechliche Kwiatkowsky mal eine kupferrote Perücke trägt. Mit Dadaismus hat Castorf vorläufig noch nichts am Hut – hier war nichts zu spüren von Hugo Ball, Hülsenbeck und Tristan Tzara. Stefan, immerhin wurde der Volkbühnenchef der damaligen Zeit gerecht: expressionistisch ist es allemal.
Kaufmann von Berlin, VB: ein bisschen Mäßigung
nur falls es sie interessiert-mich nervt es auch und ich teile auch die agamben phobie von fucc.ein bisschen mässigung bei allem verständlichen narcissmus wäre schön...;-)

(Liebe Diskutanten,

der zuständige Redakteur bittet ebenfalls um Mäßigung - nicht Agamben und Co. stehen im Fokus dieses Forums, sondern das Theater im Allgemeinen und die hier besprochenen Inszenierungen im Besonderen. Ich erinnere also noch mal daran, dass - gerade auch bei aller Lust an Frotzelein und Attacken - die Themenbezogenheit der Beiträge klar werden sollte.

MfG, Georg Kasch für die Redaktion)
Der Kaufmann von Berlin, Volksbühne: ein Spaß für Wortfeldforscher
@ 10

Nö, Fucc, gegen das, was Sie Terminpläne schimpfen, ist nichts, aber auch garnichts einzuwenden ! Sind Sie noch nie, es geht mir jetzt wirklich anhand Ihres hiesigen Kommentars ums Theater im Allgemeinen bezogen auf das konkrete Kaufmann-Beispiel jetzt und
hier, mit jemandem ins Theater gegangen ? Haben Sie sich noch nie für einen speziellen Abend einen speziellen Partner/Partnerin "ausgesucht" ?? Und warum muß mich das kalt lassen, wenn ich die Gelegenheit qua Wink bekomme, mit Prospero, Stefan oder Flohbär, getrennt voneinander sehr wohl, mich tatsächlich nicht nur auf das selbe Stück, dieselbe Inszenierung, sondern auch denselben Abend zu beziehen ??? Bitte, machen Sie mir das etwas verständlicher !
Ein Wortfeldforscher hätte hier zudem einen Spaß: Konsorten, Assistenten, Kompagnons, geistige Zwillinge, Alter-Egos, multiple Persönlichkeiten, Castorf-Fanclubs.
Was ich bislang zum Mehring-Abend hörte, schreckt mich jedenfalls nicht hinreichend ab, und da Castorf nun einmal russophil ist, werde ich es, wenn der Abend im Berlin des Abmittejanuar2011 laufen sollte, statt mit Alkohol ganz ähnlich wie die Exilrussen in Berlin der 20er-Jahre halten, wie ich sie mir jetzt als Besucher des 1929-Stückes vorstelle, gab damals schon eine viertel Million Russen in Berlin (!!), und: Kwas trinken !!!

post scriptum:
Fucc, wirklich, mehr Humor: Flohbär hat einmal geschrieben, daß ein
Prospero-Verriß für ihn sozusagen ein Fingerzeig für einen zu besuchenden Abend ausmacht, nun: Prospero hat "Peggy Picket" verrissen..
Kaufmann von Berlin: Karten für nach der Pause?
@13:
Was die Anzahl der „Fans“ anbelangt, täuschen Sie sich. Die Volksbühne hat im ersten Halbjahr 2010 mehr Karten verkauft (63 000) als die Schaubühne (55 000) und das Gorki (51 000).
In der Volksbühne scheinen sich die Leute manchmal nur deshalb zu verlieren, weil sie im Vergleich zu den anderen Theatern mehr Sitzplätze hat. Würde das Publikum einer ausverkauften Gorki-Aufführung in die Volksbühne verpflanzt werden, wäre immer noch eine Menge Platz. Durch das Aneinandergerücktsein sind die Gorki-Gänger mehr Tuchfühlung gewohnt, in der Volksbühne hat man mehr Reichweite, mehr gefühlten Aktionsradius. In den letzten beiden Castorf-Inszenierungen war die Hütte doch recht voll. Sie brauchen also keine neuen Anhänger zu rekrutieren.
Allerdings gibt es wohl kaum ein Theater, bei dem so viele Leute in der Pause abwandern. Castorf sollte Karten für die erste oder zweite Hälfte anbieten.
Kaufmann von Berlin: Kaftan nur Aufhänger für Sittenbild der Zeit
@ Flohbär
Nachdem ich gestern meinen Castorf abgesessen habe, kann ich das im Großen und Ganzen so bestätigen. Allerdings habe ich es auch ohne großen Alkoholkonsum durchgehalten. Es ist zwar ein eher zäher Castorf aber durchaus nicht uninteressant, wenn man sich für die Geschichte der Weimarer Republik interessiert. Castorf lässt tatsächlich nichts aus und es braucht schon etwas Vorbildung, um auch folgen zu können. Sie hatten ja schon einen kleinen Abriss gegeben. Allerdings die Eimerszene ist nun wirklich kein Grund zu flüchten, wenn Sie danach gegangen sind, haben Sie aber nicht mehr viel verpasst. Die Geschichte des Kaftan dient Castorf eigentlich auch nur zum Aufhänger für ein Geschichts- und Sittenbild der damaligen Zeit, wie es ja auch Mehring vorschwebte, sehr satirisch, den Leuten den Spiegel vorhalten. Allerdings wem will Castorf den Spiegel vorhalten, da fühlt sich doch heute keiner mehr angesprochen. Damals war die Geschichte zu frisch, heute ist sie schon wieder nicht mehr wirklich bekannt. Das Integrationsproblem wird nur nebenbei gestreift, das aber vieles von früher heute wieder genau so zu trifft, glaubt doch keiner, wenn er den lustigen Jux auf der Bühne sieht. Die epischen Einsprengsler über Berlins Scheunenviertel mit dem sich z.B. Dieter Mann etwas schwer tut oder das über Ernst von Salomon einen der Rathenauattentäter und den Freicorpsmärtyrer Leo Schlageter, das im Eisenbahnwagen ins Baltikum zerschrieen wird, hätte sich Castorf auch sparen können. Etwas weniger ist da oft mehr. Wen es interessiert, der kann ja im sehr interessanten Programmheft nachlesen. Allerdings ist das für Unbeleckte fast zu empfehlen, sonst kann man irgendwann nicht mehr folgen. Wie nun Karl Radek mit seinen nationalbolschewistischen Phantastereien über Schlageter da auch noch rein passt, kommt aber im Stück überhaupt nicht vor, oder ich habe es nicht mitbekommen. Ich bin mit der Nachbereitung jedenfalls noch lange nicht fertig.
Die Schauspieler geben sich reichlich Mühe und das lustige Fangespiel zu Anfang des zweiten Teils zwischen Marc Hosemann, dem hinkenden Mex Schlüpfer und Margarita Breitkreiz als Femestammtisch in Ku-Klux-Klan-Verkleidung wird mit Sicherheit in die Volksbühnenanalen eingehen. Jetzt mache ich erst mal ein Wochenende Pause in der schönen kalten Hansestadt Hamburg und melde mich nächste Woche vielleicht wieder.
Kaufmann von Berlin: stellt Castorf Szenen nach Belieben um?
@ Flohbär
Eine Frage noch, wie konnten Sie die Szenen mit den Wassereimern sehen, die von Marc Hosemann ausgeschüttet den Wannsee bilden. Das war gestern erst nach der Pause oder bin ich schon meschigge? Stellt Castorf etwa die Szenen von Aufführung zu Aufführung nach belieben um? Würde aber bei der Nummernrevue auch nicht weiter auffallen.
Kaufmann von Berlin: skurril-feenhafte Bärbel Bolle
Sehr geehrter Stefan,

ich hatte nach 'Flohbär's Bemerkungen auch meine Zweifel, ob die Szene mit den Eimern vor der Pause kam, oder ob Flohbär doch heimlich den zweiten Teil gesehen hat.
Jetzt bin ich mir sicher, diese Szene fand zur Premiere auch nach der Pause statt.
Ansonsten war es wie so oft bei Castorf, daß bis zur Premiere umgestellt, gestrichen, verändert usw. wurde. Das führte sicherlich auch zu den Texthängern (nicht nur bei Spengler).
Nach der Premiere habe ich mit einigen Freunden über all die historischen Verweise, literarischen Bezüge usw. gesprochen. Und wie Sie es oben erwähnen: kennt man sich nicht genau aus, dann wird es schwer, dieser ganzen (trotzdem nicht unwichtigen, und öfter auch unterhaltsamen) Unternehmung zu folgen.
Übrigens hinkt Herr Schlüpfer (das schreibt sich irgendwie merkwürdig), weil er sich drei Tage vor der Premiere einen Zeh gebrochen hat. Bei dem berserkerhaften Spiel kaum verwunderlich.
Und überhaupt war ich wieder einmal verwundert und auch erfreut, wie sich die Schauspieler/innen bei Castorf so durch die Inszenierung "wühlen". (Bezaubernd fand ich Bärbel Bolle in ihrer geradezu entrückten, skurril-feenhaften Behauptung.)
Und, anders als bei "Nach Moskau, nach Moskau" (ich schrieb schon, daß ich beglückt über diesen Abend war) war das eine der besseren Castorf-Inszenierungen der letzten Jahre, die ich nicht als einen "großen Abend" in Erinnerung behalten werde, aber auch hier, wurde ich wieder klar "darauf hingewiesen", was es bedeutet zu spielen. Bei Castorf ist das sicher nicht "Einfühlung" in einen Charakter und der Zuschauer muß auch nicht empathisch sein. Aber es ist so, daß ich mit dieser (inzwischen viel geschmähten) Art zu inszenieren wesentlich besser klar komme, wenn ich mich über den Abend hinaus mit dem Thema, dem Text usw. befassen will, als mit "fertigen" durchgefühlten Inszenierungen.

Wenn man im Prenzlauer Berg an der Grenze zu Mitte aufgewachsen ist, dann kann man sich sicher auch ganz andere Heimat-Abende vorstellen, aber ich denke, ich raffe mich auf, und gehe nochmal in den "Kaufmann". Selbstverständlich nicht ohne vorher ein paar Tage in der Bibliothek verbracht zu haben.
Kaufmann von Berlin: lediglich bis zur Pause anwesend
Nein, Stefan, bei Ihnen ist alles in Ordnung, Sie brauchen nicht zum Arzt zu gehen.
Von der Eimer-Szene habe ich lediglich gehört, ich habe sie nicht gesehen. Es war aber nicht so, dass in der Pause Leute herumliefen und mit funkelnden Augen sagten: „Die Eimer kommen!“ Irgendwo habe ich von der Eimer-Szene gelesen, und es ist im Grunde ein Fehler, über etwas zu berichten, das man nicht live gesehen hat, zumal ich bei manchen Rezensionen den Eindruck erhalte, der Kritiker habe ein anderes Stück gesehen bzw. die gelungenen Passagen unter den Tisch fallen lassen, um sich auf die Schwachpunkte zu konzentrieren.
Ich war also lediglich bis zur Pause körperlich anwesend und hatte eher das Gefühl, dass die lauten MP-Salven, die schrillen Zuggeräusche sowie die vulgären Textstellen dazu geeignet waren, die Zuschauer vorzeitig in die Flucht zu schlagen.
Dass Karl Radek vielleicht noch eingebaut wurde, war lediglich eine Vermutung von mir. Radek ist gewissermaßen eine vorzügliche Theater-Figur für Castorf und dazu wie geschaffen, in solch einen historischen Rahmen einzufließen. Castorf arbeitet ja anscheinend auch gegen die Selbstentfremdung und hätte er Radek gebracht, wäre er vielleicht ein bisschen näher bei sich selbst gewesen. Da das Stück ohnehin mit den verschiedensten Themen überfrachtet war, hätte ein zusätzlicher Überschuss nichts ausgemacht, zumal Radek versuchte, rebellische rechte Kräfte ins linke Lager zu ziehen.
Die geschichtlichen Inhalte waren für mich nichts Neues, da ich einmal Geschichte studierte, d.h. ich war Möbelpacker, machte nebenbei Abitur und begann, en passant zu studieren, unter anderem Geschichte, bis zum Abschluss eben. Es mag überheblich klingen, aber die Informationen, die ich von Mehring/Castorf über die Weimarer Republik erhielt, sind mir nicht fremd. Vielleicht haben Castorfs Berufung und sein Bildungsauftrag in Angelegenheiten der Berliner Heimat wenigstens bei einigen Zuschauern ins Schwarze getroffen.
Kolja, in den meisten Aufführungen wird nach der Premiere in der Regel wenig verändert. Einige Castorf-Inszenierungen habe ich doppelt gesehen. Es kann bestenfalls sein, dass an einem Abend ein Schauspieler über sich hinauswächst, eine Krise bekommt oder der eigenen Improvisationslust etwas Raum gewährt.
Kaufmann von Berlin, Volksbühne: ungenießbar, holzschnittartig, karikiert
Die Welt ist eine Hutschachtel. Bert Neumann hat sie Frank Castorf auf die Bühne gestellt für sein Unternehmen, Walter Mehrings Großstadtpanorama und Sittengemälde des Berlins der Zwanzigerjahre mitten im ehemaligen Scheunenviertel, wo ein Teil des Stücks spielt, neues Leben einzuhauchen. Groß und rot-weiß gestreift steht sie dort und versucht, diesem grellen und unbändigen Porträt einer Gesellschaft am Abgrund, einer Welt in Auflösung, einen Rahmen, ein Bild zu geben.

Die Hutschachtel ist Schauplatz des sich entfaltenden Weltpanorama am Beispiel Berlins, des "Nabels der Welt" in jener Zeit. Ein in die Seite eingelassenes Zugabteil, ein Grunewaldpanorama auf der Rückwand, Übertragungen per Leiwand aus dem Schachtelinneren, quergespannte Stoffbahnen, die mal das Scheunenviertel darstellen, mal ein Interieur bilden: Die Riesenschachtel ist Kulminations- und Katalysationspunkt, Schauplatz und Mittelpunkt alles Geschehens. Symbol wahrscheinlich auch, aber das erschließt die Inszenierung nicht.

Mehrings Großstadt-Sittengemälde ist eigentlich der ideale Stoff für den großen Eklektiker und Themenverrührer Castorf. Das Stück, das 1929 zu wilden Protesten und einer Verdammung durch Goebbels führte und dem Philosemitismus ebenso vorgeworfen wurde wie Antisemitismus, ist eine Ansammlung unterschiedlichster Gestalten, Themen, Episoden, ein Gemisch, das vom Fragmentarischen ebenso lebt wie von Nichtakzeptieren theatralischer Grenzen. Auch Castorfs Inszenierungen erinnern stets an Eintöpfe: Er wirft unterschiedlichste Zutaten zusammen, kocht sie miteinander und hofft, dass ihr Ergebnis mehr ist, als die Summe seiner Zutaten, dass die Vermischung einen Mehrwert ergibt.

Hier jedoch ist der Castorfsche Eintopf vollkommen ungenießbar, ja, man sollte ihn gar einer toxikologischen Untersuchung unterziehen. Das beginnt schon gleich am Anfang: Eine Gruppe Juden reist aus dem Osten nach Berlin, voller Hoffnungen und Pläne, aber auch Ängste. Da wird in Pseudo-Jiddisch parliert, meist brüllend, grotesk überzeichnet agiert, die Juden tragen Klischee-Kleidung und-Bärte und benehmen sich, wie es dumpfe Juden-Klischees vormachen. Vielleicht will Castorf die Klischees, die Vorurteile vorführen, ber er zerstört in dem Versuch die Integrität der Figuren. Sie werden zu lächerlichen Gestalten, die genau den Klischees entsprechen, die Castorf möglicherweise bloßstellen will.

Und so geht es weiter. Die Figurenzeichnung bleibt bestenfalls holzschnittartig, erreciht aber meist nicht einmal diese Subtilität. Die vielfältigen Themen: schwarze Reichswehr, Antisemitismus, Rathenau-Attentat, Versailler Vertrag und vieles mehr, werden deklamiert, hinterlassen im allgemeinen Gebrüll aber keinerlei Nachhall. Alles bleibt separat, nichts verbindet sich zu dem Panorama, das Mehring und vielleicht auch Castorf vorschwebte. Castorf erlaubt dem Publikum kaum zu folgen, es mag aber auch nicht viel verpassen.

Einzig Bärbel Bolle darf als sehnsuchtsvolle Generalsgattin kurz berühren, ansonsten verpufft das großartige Ensemble (das - vor allem Dieter Mann - mit erheblichen Texthängern kämpft) vollständig.Allen voran Sophie Rois in der Titelrolle, die sich aus der anfänglichen Karikierung nie befreien kann und deren Kaftean immer Abzieh- oder gar Zerrbild bleibt. Erkenntnisgewinn null, Mitgefühl noch weniger - dieser Kaftan ist weder Täter noch Opfer, sondern eine von vielen austauschbaren Knallchargen der Inszenierung.

Vermochte es Castorf früher, wie ein Alchemist aus unterschiedlichsten Bestandteilen Gold zu erzeugen, erzeugt er hier das Nichts. Aber auch das ist durchaus eine erstaunliche Leistung.

http://stage-and-screen.blogspot.com/
Kaufmann von Berlin: beide Seiten werden gedacht
Ich gestehe: Ich bin ein Castorf-Fan. Und bevor mich alle Castorf-Nicht-Fans als voreingenommen verdammen: Ich hatte schon lange nichts mehr von C. gesehen, weil ich nach ein paar schlechten Stücken wirklich enttäuscht war (u.a. "Berlin Alexanderplatz") - bis zum "Kaufmann". Der nun wiederum hat mir vor Augen geführt, wie sehr mir dieses Theater in der Zwischenzeit gefehlt hat.

Denn: Ich will nicht alles vorgekaut, vorgefühlt und bis ins letzte Detail ausgedeutet serviert bekommen. Oder: wenn schon ausgedeutet, dann bitte so schrill, grell und überdeutlich, dass dahinter noch eine ganz andere Welt aufscheint, die man bei dezenterem Lichteinsatz überhaupt nicht bemerken würde. Ich will mir im Theater selber was denken und mich danach mit denen streiten, die sich was anderes dabei gedacht haben. Aber eben nicht, weil das Stück/die Regie sich wabernd im Ungefähren hält und man sich selbst im gemütlichen Einerseits/Andererseits einrichten kann - sondern im Gegenteil, weil man sich auf eine Seite werfen muss, denn man kann das, was man da gesehen hat, nicht einfach so im Raum stehen lassen. Und somit stimmt auch die Gleichsetzung "Holzhammer = Eindeutigkeit" nicht. In seiner drastischen Art denkt Castorf nämlich immer gleich beide Seiten des Holzhammers mit: den Hammerkopf, der zuschlägt, und den Stiel, der von der Hand geführt wird. Das hat den interessanten Effekt, dass bei Castorf ein Klischee - wie der Kaftan-Bart, die Jiddisch-Einsprengsel, das Geldzählen - immer als beides gelesen werden müssen: als anti- und als prosemitisch; als anti-kapitalistisch, weil das Kapital den Charakter verdirbt, als pro-kapitalistisch, weil der Charakter eben auch schon vorher nicht blitzblank war und der Kapitalismus einzige realistische Antwort darauf ist. Der Witz dabei: Die Mitte zwischen beiden Positionen liegt eben nicht bei Null!

Ohne die sich selbst regelmäßig in die Mangel nehmenden Hochleistungs- und Vollblut-Schauspieler (hier: Sophie Rois, Marc Hosemann, ach was, eigentlich alle) würde das nie funktionieren. Und auch deshalb funktioniert der "Kaufmann" wieder so hervorragend. Dieter Mann ("Müller") kann eben nur wie ein Fels in der Brandung stehen, weil es eine Brandung gibt. Ein Fels im Steinbruch würde überhaupt nicht auffallen. Es kommt also auf den Kontrast an, und was immer man Castorf auch sonst vorwerfen mag: Den gibt es bei ihm immer.

Wer der (mehr oder weniger seit Jahren gleichen) Art und Weise der Castorf-Inszenierungen Antimoderne, Altherrenkrams oder Ähnliches vorwirft, schlägt sich damit auf die Seite der eigentlichen Traditionalisten. Denn was im Theater nach Castorf kommt, ist das, was vorher auch schon da war. Ein Rückschritt also, der sich als Moderne tarnt, nur weil er wieder mal nach oben gespült wird. Wer mit Castorf nichts anfangen kann, wird halt wohl eher eine Mozart-Oper in historischen Kostümen sehen wollen, inklusive vom Adel besetzter Fürsten/Königs/Kaiser-Loge. Kurzum: Nur, weil es etwas schon seit Jahren gibt, heißt das noch lange nicht, dass es nicht mehr modern wäre. Es fehlt einfach an Alternativen.
Kaufmann von Berlin: Verteidigung des Regietheaters
@Media-Marc

Was ich nicht verstehe, ist, warum Diskussionen über Castorf-Inszenierungen immer ins Ideologische abdriften müssen. Castorf ist ein Regisseur wie jeder anderer (ein sehr guter und einflussreicher ohne Frage), und er produziert gute Inszenierungen und weniger gute. Der Kaufmann ist m.E. ein totaler Reinfall, sein Tschechow-Abend war durchaus sehenswert und ließ stellenweise den "alten" Castorf aufblitzen. Das Platte, Holzschnittartige bedeutungsvoll umdeuten zu wollen und mit nicht vorhandener Substanz aufzuladen - geschenkt. Jetzt haber selbst den Holzhammer auszupacken und alle, denen diese Inszenierung nicht zusagt, als Traditionalisten und Nicht-Moderne zu brandmarken ist ideologischer Quark.

Ich für meinen Teil bin ein großer Anhänger und Verteidiger des Regietheaters. Und es gibt jenseits von Castorf großartige Regisseure - auch jüngere! - die in der Lage sind, ausgetretene Pfade zu verlassen und alten Stoffen neues, auch überraschendes abzugewinnen. Stemann wäre da zu nennen, Jan Bosse, Kriegenburg auf seine Weise oder unter den älteren Semestern Gotscheff. Die haben nichts mit "Mozart in historischen Kostümen" zu tun und sind weit jenseits des "Traditionalismus". Und ja, die sind nicht ohne Castorf zu denken, wie Castorf nicht ohne Zadek denkbar ist. Und nein, früher war nicht alles besser.
Kommentar schreiben