Die Arglosen

9. November 2023. Elfriede Jelineks Klimakatastrophen-Text ist zwar erst ein knappes Jahr alt, aber die globalen Krisen haben seither leider nicht abgenommen, im Gegenteil. Die Regisseurin Charlotte Sprenger setzt in ihrer Inszenierung auf großes Schauspiel nebst Eisbären-Punk. Reicht das als Weckruf gegen die fortschreitende Umweltzerstörung?

Von Falk Schreiber

Elfriede Jelineks "Sonne/Luft" in der Regie von Charlotte Sprenger im Hamburger Thalia in der Gaußstraße © Birgit Hupfeld

9. November 2023. Am gestrigen Mittwoch ging kurz die Meldung durch die Medien, dass 2023 wahrscheinlich das wärmste Jahr seit langer Zeit war. Aber mal ehrlich: Interessiert sich, davon abgesehen, eigentlich noch jemand für die Klimakatastrophe? Man tut der Gegenwart nicht unrecht, wenn man sie als grundsätzlich krisenhaft beschreibt. Corona, Ukraine, Rechtsdrift, Migration, Israel… Natürlich hängt all das über mehrere Ecken zusammen, aber ganz allgemein beschleicht einen das Gefühl, sich nicht mehr auf eine Krise konzentrieren zu können, die noch vor zwei Wochen auf den Titelblättern war, weil sie mittlerweile abgelöst ist von anderen, womöglich noch apokalyptischeren Themen. Schlecht für eine Dramatik wie die von Elfriede Jelinek, die sich mit großer Energie an Krisen festbeißt, um ihnen theatrale Funken zu entlocken. Weil zwischen Konzeptionsprobe und Premiere die Krise unter Umständen längst keine mehr ist.

Im Chor der arglosen Männer

Das Textdoppel "Sonne/Luft", uraufgeführt mit Fokus auf den ersten der beiden Teile "Sonne, los jetzt" vor einem knappen Jahr in Zürich, ist so eines, das sich selbst ein Stück weit aus der öffentlichen Wahrnehmung herausgeschrieben hat, und das Charlotte Sprenger dennoch in der Außenstelle Gaußstraße des Hamburger Thalia Theaters auf die Bühne bringt. Es geht um die Natur, die sich der Menschheit entledigen möchte, um drei Göttinnen, die mit mildem Spott auf den "Chor der arglosen Männer" blicken und den Moment abpassen, an dem diese ihre Arglosigkeit verlieren und merken, dass es ihnen an den Kragen geht.

Sonne1 Birgit Hupfeld uFreut sich auf den großen Knall: Barbara Nüsse als Sonne © Birgit Hupfeld 

Da sitzen also die Sonne (Barbara Nüsse), Eos (Lisa Hagmeister), Göttin der Morgenröte, und Mondgöttin Selene (Lisa-Maria Sommerfeld) zusammen und spucken Verachtung, Ennui und Grausamkeit aus. Beziehungsweise: Eigentlich spuckt vor allem Nüsses Sonne. Zwar gibt es, anders als sonst bei Jelineks Textflächendramatik, klare Rollenzuschreibungen, aber im Grunde ist die knappe erste Stunde des Abends vor allem ein Monolog, in dem die Sonne sich auf den großen Knall freut: "Es ist lustig, Gewordenes zu zerstören. Jedes Kind vor seinem drei Meter hohen Legoturm weiß das."

Eine großartige Spielerin bei der Arbeit

Vor allem ist es lustig, Nüsse bei ihrer Sonnenhaftigkeit zuzusehen. Wie sie mal gütige Mutter ist, die die Menschheit – die, um ehrlich zu sein, doch nur Mist gebaut hat – endlich zur Ruhe bringt, und kurz darauf eine Hexe, der das Gift zwischen den Zähnen hervorzuspritzen scheint. Es ist nur so, dass Sprenger zu dem Text erst einmal nicht viel mehr eingefallen ist, als eine zweifellos großartige Schauspielerin ihre Arbeit machen zu lassen, während mit Sommerfeld und Hagmeister zwei weitere Spielerinnen ziemlich im Regen stehen gelassen werden und sich mit seltsam unmotivierten Tänzchen (Choreografie: Fiona Gordon) über die Bühne retten müssen.

Sonne4 Birgit Hupfeld uEisbärengang mit Punk-Begabung: Das Thalia-Ensemble auf Aleksandra Pavlovićs Bühne © Birgit Hupfeld

Nach rund 50 Minuten tritt das Göttinnentrio in den Hintergrund. Auftritt: die "arglosen Männer", Brontes (Tilo Werner), Steropes (Tim Porath) und Arges (Philipp Plessmann, von dem auch die Musik des Abends stammt) – in der griechischen Mythologie drei Zyklopen, die Dionysos auf seinem Feldzug nach Indien begleiten, hier drei Radfahrer, die versuchen, im lächerlichen Sportdress (Bühne und Kostüme: Aleksandra Pavlović) der Vernichtung davonzustrampeln. Das ist klug komödiantisch gezeichnet, zumal Sprenger hier eine Brücke schlägt zur Hassliebe, die Jelinek mit dem cis-männlich-heterosexuellen Sport-Österreich verbindet, und die in ihrem Werk immer wieder auftaucht, im Roman "Die Kinder der Toten", in "Ein Sportstück", in "Schnee Weiss", zuletzt im Corona-Ischgl-Schocker "Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!". Das funktioniert, aber wirklich eine Antwort auf den Text findet Sprenger damit auch nicht.

Umarmung von Sonne und Seherin

Also geht diese etwas unentschlossene Inszenierung dann den Weg, der das Thalia eigentlich immer in einen gelungenen Abend führt: in die Musik. Das Ensemble darf singen, ein Medley aus Sonnenanbeterschlagern, "Like Ice In The Sunshine", "Walking On Sunshine", "The Sun Ain't Gonna Shine Anymore", es ist ein bisschen billig, aber natürlich ist es auch unterhaltsam. Außerdem gibt es einen hübsch in die Länge gezogenen Monolog von Victoria Trauttmansdorff als Seherin, der sich als eine Art negative Genesis entpuppt. Und schließlich betreten die übrigen Ensemblemitglieder als von der Umweltverschmutzung ziemlich in Mitleidenschaft gezogene Eisbärengang die Bühne, formen eine Band und spielen einen veritablen Punksong. "Wir müssen sterben / Da waren so viele" rotzt Trauttmansdorff ins Mikro, Umarmung von Sonne und Seherin, der Weltuntergang entpuppt sich als Beziehungsgeflecht innerhalb einer dysfunktionalen Familie. Mal ehrlich: Interessiert sich eigentlich noch jemand für diese Inszenierung?

Sonne/Luft
Von Elfriede Jelinek
Regie: Charlotte Sprenger, Bühne und Kostüme: Aleksandra Pavlović, Musik: Philipp Plessmann, Choreografie: Fiona Gordon, Lichtdesign: Christiane Petschat, Dramaturgie: Matthias Günther
Mit: Barbara Nüsse, Lisa Hagmeister, Lisa-Maria Sommerfeld, Tilo Werner, Tim Porath, Philipp Plessmann, Victoria Trauttmansdorff
Premiere am 8. November 2023
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

"Elfriede Jelinek, die Prophetin des Untergangs, hat wieder einmal geklagt, gesungen, gebrabbelt. Ihre Stücke, die gar keine Handlung haben, sind ja Textwasserfälle, die man erst mal bändigen muss. Dieses Stück hier will Klimawandel, Konsum, Tourismus, schmelzende Polkappen erzählen. Nur leider funktioniert das nicht richtig", seufzt Peter Helling im NDR (9.11.2023). Die Texte klingen hier "mühsam, belehrend, sie wiederholen sich, sind Kalendersprüche und müde Gags" und das "Ensemble kommt nicht in die Gänge, alles wirkt zugekleistert".

Maike Schiller vom Hamburger Abendblatt (10.11.2023) erkennt viele gelungenen Momente, doch würden diese noch keine runde Inszenierung ergeben. Der Abend ist der Kritikerin zu lang. So hält sie etwa das Bären-Ballett am Schluss für verzichtbar. "Wie eine nicht rechtzeitig gestrichene Zugabe wirkt auch der in sich durchaus stimmige und mit Wucht gespielte Monolog der Schauspielerin Victoria Trauttmansdorff, die sich nur noch im Strahlenschutzanzug ins Verderben wagt." Zu retten sei da aber nicht mehr viel. Das Ende laufe ins Nichts.

Kommentare  
Sonne / Luft, Hamburg: Klimakrise, Schnee von gestern?
Lieber Herr Schreber, zu ihrer Kritik von die Arglosen“einige Gedanken, Einwände.

Wir leben in einer Welt der Kommentare zu sich permanent dazu fügenden Megakrisen, so haben wir die Möglichkeit mitzuswitchen im Weltgeschehen und es entstehen ähnliche Phänomene wie in der Modewelt zb beim tw hastigen Übergang von der Rörlhose zur weiten Hippiejean. „Mensch das ist doch völlig gestrig, wen interessiert das noch“. Theater als dreidimensionaler Sitz in einer Bild Titelseite. Heiss brenzlig jetzt. Klimakrise= Schnee von gestern. (...). Sg. Herr Schreber Sie verwechseln Theater mit social Porno von Schlagzeilen. Ich war gestern im Rahmen meines Besuchs in Hamburg in dieser Premiere und fand den Umgang mit Elfriede Jelineks Text eigentlich sehr spannend da ja in diesen keine Figuren vorkommen und alles für diese ziemlich wenn nicht sogar sehr gelungene Inszenierung von Charlotte Sprenger plus Dramaturgie (incl. beindruckender Schauspielleistungen von Victoria Trautmansdorff und Babara Nüsse) neu konzipiert wurde. Nur das Gesänge hat jedenfalls mich etwas irritiert da ich lieber Elfriede Jelineks Text lausche, welcher tonal bis atonaler Sound in meinen Ohren ist.
Mit besten Grüssen
Max Steiner aus Wien

(Anm. Redaktion. Eine polemische Zuspitzung ist im Dienste der Kommentarkultur aus diesem Beitrag entfernt worden.)
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