Popp-Kultur

18. März 2023. "Sex Play" heißt das neue Sück von Patty Kim Hamilton, These: Wir müssen reden angesichts der totalen medialen Über-Präsenz von Sex. Regisseurin Rebekka Nilsson holt in ihrer Inszenierung dafür viel Popcorn auf die Bühne.

Von Karin Yeşilada

Patty Kim Hamiltons "Sex Play" von Rebekka Nilsson am Theater Bielefeld inszeniert © Philipp Ottendörfer

18. März 2023. "Über Sex zu sprechen ist nicht mehr revolutionär, oder?“ Die an der Bühnenwand leuchtende Frage (auf Englisch) ließe sich für diesen Abend so beantworten: Revolutionär vielleicht nicht, aber erhellend und berührend. Da gibt eine junge Generation Auskunft, die mit der totalen, medialen Präsenz von Sex aufgewachsen ist und umgehen muss. Die über frei verfügbare Pornos in sozialen Medien sozialisiert wurde, die Verhütungsmittel, Sex Toys und digitale Dating-Apps benutzt, die aber auch mit der internationalen #MeToo Bewegung konfrontiert wurde. Eine sexuell absolut befreite Generation, die trotzdem kaum die richtigen Worte findet für das, was diese Freiheit bedeutet.

Autorin, Regisseurin und Performancekünstlerin Patty Kim Hamilton, 2021 mehrfach ausgezeichnet für "Peeling Oranges" (unter anderem nominiert für den Autor*innenpreis beim Heidelberger Stückemarkt 2021) entwirft in ihrem neuen Stück "Sex Play" eine multiperspektivische Collage vieler Stimmen. Regisseurin Rebekka Nilsson inszeniert die deutsche Erstaufführung des zuvor in Graz uraufgeführten Stückes behutsam und einfallsreich, mit Witz und Tiefgang, und sie holt dabei das Beste aus dem fünfköpfigen Ensemble heraus.

Reden oder nicht-Reden?

"Eigentlich fast ein dienstlicher Termin", seufzte zu Beginn noch die neben mir sitzende, politisch engagierte Hebamme, und auch ich bin ja "dienstlich" hier, aber dann lässt uns gleich der Beginn des Stückes genau das vergessen: Da kommen nämlich die fünf Schauspieler*innen auf uns zu, angeführt von der wunderbar zart-starken Brit Dehler, und fragen ganz ernsthaft: "Willst du mich küssen?" Erst eine, dann zwei, dann alle, und im kleinen Studio kommen sie uns, die wir im Karree um die ebenerdige Bühne sitzen, dabei verdammt nahe. Brit Dehler hält den Augenkontakt, ganz lange, bis es unter die Haut geht, und auch Stefan Imholz lächelt mich an, und Faris Yüzbașıoğlu, und Nicole Lippold, und Amy Lombardi, bis wir alle so ganz allmählich auftauen und zu kichern beginnen, angeregt durch diese Verführung: Küssen? Ja, gerne doch!

Sex Play 2 PhilippOttendoerfer uLet's Talk About Sex oder lieber A Little Less Conversation? "Sex Play" am Theater Bielefeld © Philipp Ottendörfer

Heiterkeit, als die Fünf eine Mikrowelle herbei schleifen und sie andächtig mit einer Tüte Popcorn "penetrieren", das anschließend darin aufpoppt und verführerischen Vanilleduft verbreitet. Dieses Popcorn hat übrigens seine eigene kleine Rolle; es wird dann á la Americana aus einer großen Schüssel gemampft, immer wenn drei der Spieler*innen den Geschichten der beiden anderen lauschen; es wird später lasziv gelutscht werden und dem Publikum dargereicht, und es wird immer wieder auch temperamentvoll durch den Raum geworfen. Und dann packen die Spieler*innen ihre mitgebrachten Instrumente und machen tatsächlich Musik, und zwar richtig gut: Stefan I. auf dem E-Cello, Amy L. am Keyboard, Brit D. am Horn, Faris Y. mit Rhythmus, und Nicole L. mit dem Lead, so bringen sie Elvis Presleys "A Little Less Conversation" passend zum Rocken (Musik: Matthías Sigurðsson).

Popkultur habe viel zur Veränderung und Öffnung des Diskurses beigetragen, meint Hamilton im Interview mit Dramaturgin Irene Wildberger, und Nilsson setzt das konsequent um und verschafft dem bisweilen diskurslastigen Text damit wirkungsvolle Subtexte und Abwechslung. Die Combo spielt richtig gut auf und belässt es nicht nur bei diesen Intermezzi, sondern nutzt die einzelnen Instrumente auch, um der psychischen Verfassung Ausdruck verleihen. Dann klagt das Cello melancholisch, und das Horn wimmert wie ein sterbendes Elefantenbaby.

Ein Paar, viele Paarungen

"Sex Play" kommt unaufdringlich daher, was auch an der ironischen Aufmachung liegt: Vor einfach schwarz abgehängtem Hintergrund verströmen die fünf Schauspieler*innen in ihren mustergleichen Polyester-Hosenanzügen mit pinken Bob-Perücken eher den Sexappeal einer Evelyn Hamann als den zeitgenössischer Sexidole (Bühne und Kostüme: Katja Ebbel). Dennoch, die erotischen Phantasien im Text bekommen auch ihren Raum.

Das Stück wird nur sehr lose gerahmt von der Entwicklung eines Paares, Jane und John, das einander liebend zugewandt die gemeinsame Sexualität miteinander aushandelt, durchaus liebevoll, aber belastet von traumatisierenden Gewalterfahrungen, die sie selbst hatten oder von anderen mitbekommen haben, und für die sie kaum eine Sprache finden. Sie sind sich entfremdet, scheinen noch nicht im jeweils eigenen Körper angekommen oder hadern damit, suchen nach dem Ausdruck ihrer Sexualität, ihrer selbst. Das spielen Brit Dehler und Stefan Imholz ganz zart, staksen anfangs auf nur einem Quadratmeter über eine blubbernde Kaffeemaschine hinweg als beengten Pas de Deux, entfernen sich im Verlauf des Stücks voneinander und finden ganz am Schluss wieder zusammen, eng umschlungen, weil sie über ihre Phantasien, Albträume und Ängste schließlich zum entscheidenden und erlösenden Satz gefunden haben: Wir haben beide Angst, und das ist vielleicht normal.

My Body is A Cage

Ansonsten bietet "Sex Play" eine Vielzahl an Episoden und Geschichten über Sex, die wechselweise von den anderen Dreien beziehungsweise von allen Spieler*innen zusammengetragen werden: Geschichten über die Worst Dates, Verirrungen in der Dating-App, Betrachtungen über Sex Toys und Kondome, der ganze Wahnsinn eben. Das ist oft herrlich albern, immer wieder klasse gespielt – großartig etwa, wie Stefan Imholz und Faris Yüzbașıoğlu zwei verklemmte Typen auf dem Sportplatz geben, wie Nicole Lippold und Amy Lombardi sich kichernd und räkelnd Bettgeschichten erzählen.

Poppen mit Popcorn, das ist oft witzig, immer wieder aber auch verstörend, wenn es um die Aushandlung von sexuellem Machtmissbrauch und Vergewaltigung geht und man Patty Kim Hamiltons Anstoß, die zugeschriebene Opferrolle zu durchbrechen, erstmal schlucken muss. "My Body is A Cage" von Arcade Fire singt Lombardi dazu stimmungsvoll. Wenn dann noch das Popcorn verbrennt und den Raum verdampft, wenn Brit Dehler dann wieder sekundenlang den Blickkontakt mit mir hält, dann geht das voll unter die Haut. Die Bielefelder Inszenierung von "Sex Play" ist eine ideale Komposition von Text, Regie und Spiel und voller solcher intensiver Momente.

Sex Play
von Patty Kim Hamilton
Deutsche Erstaufführung
Regie: Rebekka Nilsson, Bühne und Kostüme: Katja Ebbel, Musik: Matthías Sigurðsson, Lichtdesign: Patrick Maciejewski, Dramaturgie: Irene Wildberger.
Mit: Brit Dehler, Stefan Imholz, Nicole Lippold, Amy Lombardi (Bielefelder Studio), Faris Yüzbașıoğlu
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
Premiere am 17. März 2023

www.theater-bielefeld.de


 

 

Kommentar schreiben