Ibsen im Frauengefängnis

4. Dezember 2022. Das internationale, arabischsprachige Collective Ma'louba verwebt in einem Spiel auf mehreren Ebenen syrische Geschichte, europäische Theatertradition und persönliche Schicksale von Künstler:innen und politischen Gefangenen. 

Von Max Florian Kühlem

"Up There" von Collective Ma'louba am Theater an der Ruhr © Guevara Namer

4. Dezember 2022.  Die aktuelle Stückentwicklung beweist erneut: Es war eine gute Idee, das Collective Ma'louba genau in der jetzigen Form zu gründen und zu fördern. Als eigenständig arbeitendes, internationales, arabischsprachiges Künstlerkollektiv bringt es eine andere Farbe und einen anderen Klang in die deutsche Theaterlandschaft, ermöglicht echte Begegnungen mit Kultur und Geschichte von neuen Mitbürger:innen, die seit 2015 in noch größerer Zahl ins Land kamen. "Up There" zieht am Theater an der Ruhr in Mülheim Linien durch 30 Jahre syrische Geschichte, verknüpft in einem geschickt komponierten Spiel auf mehreren Ebenen persönliche Schicksale mit politischen Ereignissen und europäischer Theatertradition. 

Die Frau vom Meer

Kern des Stücks ist eine offenbar wahre Begebenheit: 1991 führte eine Gruppe Insassinnen eines syrischen Frauengefängnisses das Theaterstück "Die Frau vom Meer" von Henrik Ibsen auf. Zwei Frauen, die live auf der Bühne mitwirken, saßen damals ein, weil sie zur verbotenen Kommunistischen Aktionspartei Syriens gehörten. Sie waren bei der Aufführung dabei, die von der Gefängnisleitung zuerst als Affront gewertet und untersagt wurde, dann aber doch stattfinden konnte.

Auf der Grundlage dieses Ereignisses entspinnt sich ein etwas kompliziertes Spiel auf mehreren (Meta-)Ebenen, von denen nicht immer ganz klar wird, welche fiktionalen Anteile sie haben. Kompliziert wird es für ein deutschsprachiges Publikum auch deshalb, weil das textlastige Stück in arabischer Sprache aufgeführt wird und man sehr konzentriert an den Obertiteln hängen muss. Aber die Konzentration lohnt sich. Die Geschichte geht aus vom im Exil lebenden, syrischen Autor und Regisseur Wael Kadour, der versucht, ein Stück über die wahre Begebenheit der Ibsen-Aufführung im Frauengefängnis zu schreiben und darüber in eine Identitäts- und künstlerische Sinnkrise gerät.

UpThere 1 Malouba uSinnkrise(n) im Arbeitszimmer: Hend Alkahwaji, Weijdan Nassif, Wael Kadour, Hala Bdier © Guevara Namer

Wael Kadour ist tatsächlich Autor und Regisseur, teilt sich die Inszenierung des eigenen Stücktexts mit Mohamad Al Rashi und steht auch selbst auf der Bühne – allerdings eher in einer Nebenrolle, die der Geschichte der Frauen dient. Er agiert von einem zu allen Seiten offenen Raumes aus, der einen Nachbau seines Arbeitszimmers in Syrien darstellen soll, in dem er an einer neuen Ibsen-Aufführung mit einer politischen Gefangenen gearbeitet hat und das 2011 vom syrischen Geheimdienst durchsucht und zerstört wurde. Ob diese Begebenheit ebenfalls wahr ist oder fiktiv, wird nicht ganz klar. Die Darstellerin, mit der er arbeitet, wird von der palästinensisch-jordanischen Schauspielerin Hala Bdier gespielt, die sich auf der Bühne mit Krücken bewegt und in Andeutungen ein persönliches Schicksal erzählt, das motivisch auf die Ibsen-Stoffe verweist, die ins Stück eingewoben sind.

Das Versprechen einer Inszenierung

Das ist nicht nur "Die Frau vom Meer", das die Gefängnis-Insassinnen aufgeführt haben. Es ist auch "Baumeister Solness", in dem die Figur der Hilde Vangel, die in "Die Frau vom Meer" als Nebenfigur auftaucht, ins Zentrum rückt und beim Baumeister, der ihr als Zwölfjähriger ein Liebesversprechen gibt, tatsächlich zehn Jahre später auf dessen Erfüllung pocht. In "Up There" erscheint irgendwann die von Hala Bdier verkörperte ehemals Inhaftierte im Arbeitszimmer des Regisseurs und pocht auf die Einlösung des Versprechens einer Ibsen-Inszenierung mit ihr in der Hauptrolle.

UpThere 4 Malouba uPersönliche Schicksale in der großen Erzählung: Hala Bdier, Weijdan Nassif, Wael Kadour, Hend Alkahwaji © Guevara Namer

Auch Wejdan Nassif und Hend Alkahwaji, die beide Anfang der 1990er-Jahre bei der Aufführung im syrischen Gefängnis mitgewirkt haben, erzählen auf der Bühne nicht nur ihre reale Geschichte. Sie bauen das Bühnenbild von damals nach, für das sie einen Monat lang Eierkartons sammelten, um auf ihnen einen Berg zu formen. Sie berichten von ihrer Auswanderung nach Frankreich, wo sie in verschiedenen Städten leben, und wie gelegen ihnen die Einladung ans Mülheimer Theater kam, um sich endlich einmal wieder länger sehen zu können. Sie sprechen auf anderen Ebenen des Stücks (die mit den verschiedenen Ebenen des Bühnenbilds von Jean Christophe Lanquetin korrelieren), aber senden auch Videobotschaften an die jüngere Gefängnis-Insassin oder geben Figurenrede aus den Ibsen-Stoffen, die sich mit den eigenen Schicksalen vermischt.

Künstler:in im Exil 

So dient in diesem kunstvoll verwobenen (Verwirr-)Spiel Ibsen auch als Anker für ein europäisches Theaterpublikum um tiefer in die syrische (und auch allgemein arabische) Geschichte einzusteigen, dem nachzuspüren, was es bedeutet, Künstler:in im Exil zu sein oder als ehemalige politische Gefangene wieder Fuß zu fassen in einem autoritären System. Ein kluges und wichtiges Stück, das hoffentlich nicht nur als Nischen-Ereignis wahrgenommen wird, sondern als vollwertiger Beitrag zur europäischen Theaterwelt – immerhin wird es koproduziert vom Ibsen Scope und so wohl auch im Programm des norwegischen Festivals laufen.

 

Up There
von Wael Kadour
Koproduktion von Collective Ma'louba und dem Theater an der Ruhr
Text: Wael Kadour, Inszenierung: Mohamad Al Rashi und Wael Kadour, Bühnenbild: Jean Christophe Lanquetin, Ton: Khaled Kurbeh, Licht: Toni Mersch, Video: Guevara Namer, Produzent: Wael Kh. Salem, Produzent-International: Eckhard Thiemann, Audience Development: Omar Mohamad, Produktionsassistent: Wisam Atfeh.
Mit: Hala Bdier, Wejdan Nassif, Hend Alkahwaji und Wael Kadour.
Premiere am 3. Dezember 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-an-der-ruhr.de
www.collective-malouba.de

 

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