Leben wie im Mittelalter

25. März 2023. Die Diskussion um das Recht auf Abtreibung zählt zu den großen Aufregerthemen unserer Gesellschaft. Allerdings reden vor allem Nicht-Betroffene darüber. Das Kollektiv werkgruppe2 hat nun die Stimmen von Frauen aus mehreren Generationen versammelt, die bekennen: Ich habe abgetrieben. Eindrückliches Dokumentartheater.

Von Karin Yeşilada

"§ 218" von werkgruppe2 am Theater Oberhausen © Jochen Quast

25. März 2023. "Wer eine Schwangerschaft abbricht", heißt es im § 218 des deutschen Strafgesetzbuches, "wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft", und das betrifft auch die Schwangere selbst, wenn sie "die Tat" begeht. 1871 wurde der Paragraf ins deutsche Strafgesetzbuch geschriebenen, und seither wurde erbittert um ihn gerungen, wurde seine Abschaffung gefordert. Frauen protestierten, Regierungen pochten, besonders zu und nach Kriegszeiten, auf die "Lebenskraft des deutschen Volkes" (Wortlaut der Nazis, die anderen wählten feinere Formulierungen) – und immer entschieden Männer. Immer schon dreht sich der Konflikt um die Abwägung zwischen dem Schutz der Frau und dem Schutz des ungeborenen Lebens, dessen Zeitpunkt der "Beseelung" jeweils unterschiedlich bestimmt wird. Was aber passiert mit der Seele der abtreibenden Frau? "Wir haben abgetrieben", lautete eine von Alice Schwarzer 1971 initiierte Kampagne, in der 374 Frauen sich öffentlich zum Schwangerschaftsabbruch bekannten. 

Die Befragten sitzen im Publikum

Auf der Bühne in Oberhausen bekennen sich gut ein halbes Jahrhundert später ebenfalls einige Frauen dazu. Es sind Frauen dreier Generationen aus Oberhausen, deren Geschichten die Mitglieder des Kollektivs werkgruppe2 um Silke Merzhäuser und Julia Roesler mit Archivmaterial und jeder Menge O-Töne von Expert*innen aus dem medizinischen und sozialen Bereich zu einem dokumentarischen Theaterstück verwoben haben.

Sieben Frauen (fünf Schauspielerinnen des Theaters und drei Musikerinnen der Werkgruppe) berichten und reflektieren einen Abend lang darüber, was es bedeutet, eine Abtreibung zu durchleben und das Recht auf Schwangerschaftsabbruch verwehrt zu bekommen. Einige der Befragten sitzen im Publikum und erleben nun, wie ihre reale Geschichte zu Bühnenkunst wird. Dem künstlerisch-politischen Anspruch, das durch den Paragrafen über Jahrzehnte verursachte Leid und Unrecht zu thematisieren, werden die Dramaturginnen Silke Merzhäuser und Laura Mangels auf jeden Fall gerecht, und das liegt, neben dem Stoff selbst, auch an der Regie von Julia Roesler.

Kulturgeschichte der Abtreibung

Die von Julia Schiller gestaltete Bühne ist ein sprödes Wartezimmer mit Holzvertäfelung, zwei Türen rechts und links, und hässlichen Stühlen, auf denen sich nach und nach Frauen einfinden: Alle in bieder-beigem Rock-Blusen-Outfit, alle mit einer großen, kunstledernen Oma-Tasche unterwegs (solche, in denen Babys abgelegt werden können). Diese Taschen, in denen sich Kostüme, Musikinstrumente oder Strickzeug befinden, entwickeln ein Eigenleben: Mal werden sie pedantisch auf oder neben die Stühle platziert, mal zur Vulva aufgespreizt, mal über die Köpfe gestülpt. Die sieben Spielerinnen verwandeln sich den Abend über in gut zehn Szenen zu verschiedenen Frauengestalten dreier Generationen, sie spielen, musizieren und singen dabei ganz hervorragend miteinander und lassen den größten Teil des Abends vergessen, dass es sich hier um dokumentarisches Material handelt.

Paragraf218 2 Jochen QuastMachen das Material lebendig: Regina Leenders, Insa Rudolph, Anna Polke © Jochen Quast

Wunderbar, wie sie da auf ihren Stühlen herumrutschen, sich gegenseitig misstrauisch beäugen, immer wieder (und oft auch rhythmisch aufeinander abgestimmt) seufzen, bevor sie sich dann ganz allmählich öffnen. Generationsspezifisch wird im Wartezimmer der 1940er Jahre "darüber" nur getuschelt und gewispert: "Was willst‘e machen, war halt ne andere Zeit!" Üble Geschichten, über die vom Kindsvater ermordete, schwangere Anneli, über die nach der Abtreibung vor Gericht gezerrte Lieselotte, alles junge Mädchen, die ihre Sexualität, kaum entdeckt, schon bereuen mussten.

Die Texte verdichten sich zu Musik, erst Gesumme, dann kanonisches Tongebilde, bis hin zum Song: "Kinder kriegen ist keine Kunst, aber keine Kinder kriegen is ’ne Kunst!" Beklemmend, wie sich die anschließende, heitere Kirmes-Nummer "Wenn dir ein Mädchen gefällt, küss‘ sie ohne zu fragen!" zur Vergewaltigung auswächst und die vorher juchzenden Mädel nun zerzaust und gebrochen aus dem Hinterzimmer zurückstolpern. Immer wieder werden solche Geschichten musikalisch kommentiert. Insa Rudolph hat dazu aufregend zart-herbe Musik komponiert und musiziert zusammen mit ihren beiden Kolleginnen Ulla Oster und Anne Hartkamp sowie den klasse singenden Schauspielerinnen ganz bezaubernd.

Das ist auch unsere Geschichte

Anhand von Geschichten und Episoden entfaltet sich die Kulturgeschichte der Abtreibung in Oberhausen, von der eingangs am Gericht spielenden NS-Zeit über die entbehrungsreiche Nachkriegszeit, den peppigen 1960ern und den befreiten 1970ern zu den selbstbewussten WGs der 1980er (dann rockt die Bude), und immer wieder Geschichten von Liebe, Sex und dem Danach, wenn die Schwangerschaft unverhofft in die Biografien einbricht. Anna Polke wandelt sich dabei von der verbitterten Engelmacherin vor dem NS-Gericht zur coolen BRD-Emanze, Ronja Oppelt wechselt mühelos von der verängstigten Angeklagten der 1940er zur rotzigen WG’lerin der 1980er, Regina Leenders ist großartig als freimütige Ostdeutsche, die trotz liberalerem Abtreibungsrecht mit der Trauer zu kämpfen hat, und Susanne Burkhard fesselt als verstoßene Tochter einer katholischen Familie in der Schlussszene – lauter starke Rollen.

Männer kommen nur abstrakt vor, als Geliebte, Ehepartner oder "Erzeuger", oft als strafende Väter, und immer wieder als empathielose Ärzte. Einwandererinnen kommen merkwürdigerweise gar nicht vor (von der Sächsin einmal abgesehen), womöglich sind aber auch ihre Geschichten im Stück verwoben.
Es ist ein intensiver Abend voller Aufrichtigkeit, Betroffenheit und Trauer, und zwischenzeitlich ist die Atmosphäre im Saal so dicht, als würden da unsere eigenen Geschichten erzählt, als hätten wir alle, Männer eingeschlossen, schon einmal abgetrieben, eine wahrhaft "kollektive Biographie". Ginge es nach uns, der leidige § 218 flöge noch heute aus dem Strafgesetzbuch. Am Ende stehender Applaus. Hingehen!

§ 218. Eine kollektive Biographie von Frauen aus Oberhausen.
von werkgruppe2
Uraufführung
Regie: Julia Roesler, Bühne und Kostüme: Julia Schiller, Musik (Komposition und musikalische Leitung): Insa Rudolph, Licht: Alexandra Sommerkorn, Dramaturgie: Silke Merzhäuser, Laura Mangels, Text und Recherche: Julia Roesler, Silke Merzhäuser.
Mit: Susanne Burkhard, Regina Leenders, Ronja Oppelt, Anna Polke und den Musikerinnen: Anne Hartkamp, Ulla Oster und Insa Rudolph
Premiere am 25. März 2023
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

theater-oberhausen.de

 

Kritikenrundschau

"Karges Bühnenbild, ärmliche Kostüme: Die freien Theatermacherinnen setzen auf die Authentizität ihrer Quelle und auf das große Können der vier Schauspielerinnen", schreibt Ralph Wilms in der WAZ (27.3.2023). Ihre Sprechkunst trage diese "Reportage auf der Bühne" überzeugend und bewegend. Anna Polke und Ronja Oppelt lassen Angst und Verzweiflung selbst aus nüchternen Gerichtsprotokollen hervordrängen. "Einen Aufbruch aus dem Spielmodus nahe einer szenischen Lesung wagt die Inszenierung erst mit den aufmüpfigen Fünf aus Oberhausens erster Frauen-WG der frühen 1980er." Sie wechseln in den Sportdress, turnen und rennen mit ihrem Zorn auf eine noch immer bigotte und hasserfüllte Umgebung. "Dieser giftig-grelle Moment bleibt allerdings einmaliger Ausbruch eines doch sehr didaktischen Musiktheaters."

"Die Werkgruppe 2 scheut keine heißen Eisen." Und mit Schwangerschaftsabbrüchen und den umstrittenen Paragrafen 218 hat das Kollektiv jetzt  ein neues sensibles Thema bearbeitet, schreibt Antonia Trautmann in der Rheinischen Post (27.3.2023). Ein Jahr lang haben sie mit Frauen aus Oberhausen über Abtreibung gesprochen und wie sie ihr Leben, ihre Familienplanung, ihre Sexualität verändert hat. Die Umsetzung sei sensibel und nehme die Darstellerinnen mit auf eine Achterbahnfahrt der Gefühle.

Kommentare  
§ 218, Oberhausen: Friedrich Wolf
Kommt Friedrich Wolf und seine intensive Beschäftigung mit Paragraph 218 nicht vor. Sowohl als Arzt aber auch als Dichter hat er sich sehr politisch intensiv damit befasst. Warum wird das verschwiegen oder ignoriert?
§ 218, Oberhausen: Frauen sprechen
@Adam: Es ist eine dokumentarische Inszenierung in welcher der Text aus O-Tönen von betroffenen Frauen besteht. Ich verstehe Ihren Unmut nicht.
§ 218, Oberhausen: Anderer Blickwinkel
@Adam Von Verschweigen oder ignorieren kann in Bezug auf das Stück nicht die Rede sein. Ich kannte Friedrich Wolf und seine Beschäftigung mit dem §218 nicht, aber ich habe das Stück über den §218 im Theater Oberhausen gesehen und sehe nicht wie eine Referenz auf Friedrich Wolf in das Konzept des Stückes hineingepasst hätte. Der Blickwinkel ist ein anderer: Erzählt werden über die Jahrzente hinweg die Geschichten von in Oberhausen (dem Ruhrgebiet) wohnhaften Frauen, die abgetrieben haben. Gleichwohl wird das Unrecht und das Leid, dass Frauen durch die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen seit geraumer Zeit angetan wird, eindringlich auf die Bühne gebracht. Und dort treffen sich vermutlich die unterschiedlichen Perspektiven auf dasselbe Thema. Trotzdem danke für den Hinweis auf Friedrich Wolf zur weiteren Auseinandersetzung mit der Gewaltgeschichte des §218. Er unterstreicht nochmal die Einsicht, wie überfällig die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ist.
§ 218, Oberhausen: Merci
lieber ZUSCHAUER, liebe EVE, vielen Dank. Sorry, natürlich war meine Anfrage nicht mit Unmut, sondern eher mit einer Sorge um Unkenntnis dieses wichtigen und 1929 für großes internationales Aufsehen erregenden Werkes CYANKALI §218 von Friedrich Wolf verbunden.
hierzu ist ja einiges zu finden:
https://de.wikipedia.org/wiki/Cyankali_(Wolf)
merci und alles Gute für diesen wirklich interessanten Theaterabend in Oberhausen.
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