Gute alte Welt

18. August 2024. Ein Musiktheater-Stück nach einem Underground-Buch aus den 1970er-Jahren erzählt eine neue Schöpfungsgeschichte mit frei liebenden, queeren Menschen im Zentrum. Es bringt in vielerlei Hinsicht zum Nachdenken – auch über das Festival selbst, in dessen Programm es läuft.

Von Max Florian Kühlem

"The Faggots and Their Friends Between Revolutions" bei der Ruhrtriennale © Tristram Kenton

18. August 2024. "This is a man’s world", seufzte James Brown bereits 1966, in seiner vorsichtigen Kritik nicht ahnend, welch vernichtend düsteres Bild der Soziologe und Autor Larry Mitchell elf Jahre später von dieser Männer-Welt zeichnen würde. Aus seinem Manifest-Buch "The Faggots and Their Friends Between Revolutions" haben Philip Venables (Komposition) und Ted Huffman (Regie) die Grundlage für ein schillerndes Stück Musiktheater herausgezogen. Mit dem Wort "Männer" werden darin ausschließlich destruktive, gewalttätige, das Patriarchat und eine heterosexuelle Norm aufrecht erhaltende Raubtier-Kapitalisten beschrieben.

Nachdenken über sprachliche Begriffe

Dass man an diesem Abend auch über sprachliche Begriffe nachdenken sollte, wird schon an der Ticketkasse klar, wo mit dem Programm-Flyer ein scheinbar eilig schwarz-weiß kopierter Zettel dazu gereicht wird. Auf dem steht: "Uns ist bewusst, dass das Wort 'faggot' (abwertend für schwule Männer) provoziert und dass es für viele nicht leicht ist, das Wort zu lesen oder zu hören." Autor Larry Mitchell habe das Wort, dem auf Deutsch ungefähr ein Begriff wie "Schwuchtel" entspricht, 1977 auf liebevolle, unterstützende und positive Art zurückgewinnen wollen. Im aktuellen Stücktext bleibt offen, welcher Teil der Menschheit mit Faggots eigentlich bezeichnet wird. Wahrscheinlich könnte man ihn beschreiben mit: die queere Community. Oder eben alle, die nicht hetero-normativ leben.

Unterwegs auf einer komplexen musikalischen Ebene: Joy Smith, Collin Shay, Eric Lamb, Yandass, Yshani Perinpanayagam, Meriel Price, Jacob Garside © Tristram Kenton

Für sie könnte die mythische Geschichte, die der Abend aus dem lange vergriffenen Underground-Buch konstruiert, stärkend wirken. So beschreibt es zumindest Komponist Philip Venables: "Ich habe mich von dem Buch gesehen gefühlt, und das war unglaublich empowernd." Regisseur Ted Huffman sah das ähnlich, und so trommelten sie unterstützt von Festivals in Manchester, Bregenz und eben dem Ruhrgebiet ein tolles, äußerst diverses Ensemble zusammen, um ein Märchen zu erzählen, das manchmal erschreckend nah dran ist an unserer Realität.

Maschinelles Weltbild

Es beginnt wie eine religiöse Schöpfungsgeschichte, erzählt vom paradiesischen Urzustand der Faggots, die frei denkend und frei liebend in einer schönen Welt leben, in der es ihnen an nichts mangelt. Aus dieser werden sie von den Männern (wie sie oben beschrieben sind) gewaltsam vertrieben, auch verletzt und ermordet. Die Männer haben nicht nur ein hetero-normatives, sondern auch ein maschinelles Weltbild: Sie erfinden eine strikte Arbeitsethik und Wert-Papiere, denen sie so großen Glauben schenken, dass sich bald all ihr Handeln um die Vergrößerung dieser selbst erdachten Werte dreht. Die Faggots schließen sich den Frauen an, den Queens, die der Erde zugeordnet sind und naturmystische Fähigkeiten haben. Trotz zwischenzeitlicher Assimilation durch und Aufnahme in die Männer-Welt können die Faggots am Ende siegen und ihre freundliche Welt wieder aufbauen.

The Faggots 01 1200 Tristram Kenton uZurück zum paradiesischen Urzustand? Deepa Johnny, Themba Mvula, Eric Lamb, Yandass, Collin Shay, Sally Swanson, Kit Green in "The Faggots" © Tristram Kenton 

Gerade wenn man sich in seiner eigenen Identität unter anderem auch als Mann sieht, fällt es schwer, ein rein positives Gefühl zu dieser Bühnenerzählung zu entwickeln. Ist die Welt nicht doch ein wenig komplexer, dialektischer? Da reicht doch ein Blick auf die Ruhrtriennale selbst, wo ein neuer Intendant mit seinem Team alle Hebel in Bewegung setzt, um möglichst diskriminierungssensibel zu agieren. Ivo Van Hove setzt Themen wie Queerness, Ballroom-Kultur, Klimawandel, ist mit der popaffinen Konzerterzählung einer exemplarischen weiblichen Biographie gestartet. Er will also offenbar alles bedienen, was aktuell als gut und richtig gilt. Gleichzeitig läuft am Internationaal Theater Amsterdam eine Untersuchung über Machtmissbrauch und eine Angst- und Unterdrückungskultur, die in seine Zeit als Leiter fällt.

Durchbruch durch die vierte Wand

Immerhin ist die andere, gewichtige Ebene dieser Inszenierung sehr komplex: die musikalische. Fast alle Performer*innen sind auch gute Musiker*innen und mindestens gut bei Stimme. Sie sorgen für einen Sound, der zwischen barocker Kammermusik, archaischem Folk und rhythmusgetriebenem Elektro-Pop changiert. Sie spielen Harfen, Flöten, Cembalo, Klavier, Laute, Trommeln und Saxophon. Collin Shay betört als Counter-Tenor, und die non-binäre Person Kit Green bringt nach einem Durchbruch durch die vierte Wand sogar große Teile des Publikums zum Singen – eine gar nicht mal leichte Melodie mit einem wieder etwas plakativen Text, in dem es darum geht, dass die Mehrheitsgesellschaft entscheidet, was als vernünftig und was als verrückt gilt.

Was an "The Faggots and Their Friends Between Revolutions" außerdem beeindruckt, ist die wilde Energie. In der verhältnismäßig kleinen Arena, die in der Bochumer Jahrhunderthalle abgespannt wird (ja, Ivo Van Hove hält auch beim Einsatz der Mittel Maß), kommt dadurch tatsächlich eine Art revolutionärer Stimmung auf, die immer wieder mit vielen gut getimten Massen-Choreographien, chorischem Sprechen und Singen genährt wird. Trotzdem wirkt der Applaus am Ende etwas unentschlossen. Vielleicht müssen viele Gekommene doch erst einmal darüber nachdenken, was und wie hier eigentlich über unsere Welt erzählt wurde.

The Faggots and Their Friends Between Revolutions
von Ted Huffman und Philip Venables nach dem Roman von Larry Mitchell
Regie: Ted Huffman, Musik: Philip Venables, Musikalische Leitung: Yshani Perinpanayagam, Choreographie und Kostüme: Theo Clinkard, Bühne: Rosie Elnile.
Mit: Valerie Barr, Kerry Bursey, Jacob Garside, Kit Green, Conor Gricmanis, Mariamielle Lamagat, Eric Lamb, Themba Mvula, Yshani Perinpanayagam, Meriel Price, Collin Shay, Daniel Shelvey, Joy Smith, Yandass, Lauren Young.
Deutsche Premiere am 17. August 2024 bei der Ruhrtriennale, Jahrhunderthalle Bochum
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.ruhrtriennale.de

Kritikenrundschau

Wie "diese Faggots die Welt sehen", erscheine an diesem Abend "ebenso märchenhaft-naiv wie plakativ", schreibt Klaus Stübler in den Ruhr Nachrichten (20.8.2024). Das werde "bruchstückweise vorgetragen und durch Musiknummern ergänzt", von der "Renaissance über ganz viele barocke Klänge (mit entsprechenden Instrumenten) bis hin zu Gospel und Rave". Eine "Mitsingnummer fürs Publikum" erscheint dem Rezensenten dann aber doch "albern und platt". Dennoch seien die Ausführenden "große Virtuosen, die sich zu einem homogenen, mitreißenden Ensemble verbinden".

Der Stoff wirkt für Sven Westernströer von der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (19.8.2024) "leicht antiquiert". "Hinreißend hingegen ist es, wie das Ensemble den Text auf die Bühne bringt: Mit einem wilden Mix aus Tanz, Musik und Rezitation, teils in ohrenbetäubender Lautstärke, teils in charmanter Zwiesprache mit dem Publikum, sorgen die 15 Darsteller für eine spitzfindige und sympathische Auseinandersetzung mit queerer Kultur. Mit Klavier, Cembalo, Schlagwerk und Harfe wird beschwingt musiziert, die Choreografie ist punktgenau gearbeitet."

Kommentare  
The Faggots …, Ruhrtriennale: Aus dem Lehrbuch
Es ist ein tolles Ensemble, ja, auf jeden Fall. Es wird toll musiziert, wunderschön gesungen, etwas getanzt. Es ist ein Ensemble, das einen Abend tragen müsste, hundert Minuten lang auf jeden Fall. Aber es gelingt nicht. Es gelingt nicht, weil der Text zu platt ist, weil die These, die Welt sei eine bessere, wenn sie von den faggots regiert würde, nicht haltbar ist und die These von den allzu machtgeilen Patriarchen zu wohlfeil. Es gelingt aber vor allem alles nicht, weil die Inszenierung schlicht wie aus dem Lehrbuch für postdramatisches Theater daherkommt. Die Glocke, mit der eine Szene abgebrochen und eine neue gestartet wird, ist prima, weil sie von der Aufgabe, Übergänge zu finden, entbindet. Natürlich muss auch die "vierte Wand" durchbrochen werden und die Interaktion mit dem Publikum ist toll gemacht, keine Frage, aber sie wirkt so sehr nach "das macht man eben so", dass es einfach klappert. Und klar, dann wird noch witzig das Spiel als solches thematisiert wenn das Nummerngirl ein Schild "Tuning - Stimmung" hochhält. Achje. Das ist alles so artig auf die Bühne gestellt. Und wenn mal etwas auf der Bühne "dargestellt" wird, dann ist es immer die bloße und blasse Verdopplung dessen, was im Text gerade beschrieben wird. Da kann das Ensemble so großartig sein, wie es will, es bleibt ein leerer Abend ohne Gedanken und Idee.
Und sicherlich: "faggot" ist ein wirklich beleidigendes Wort. Aber es ist spannend, sich selbst zu beobachten, wie sich durch die massenhafte Verwendung die Bedeutung verändert, wie es mehr und mehr nach einer ganz neutralen Bezeichnung für die Mitglieder einer Gruppe wird und schließlich einen positiven Klang bekommt, weil "Men" längst seine Neutralität verloren hat und zur Bezeichnung des ultimativ Bösen geworden ist. Wie aufmerksam wäre es gewesen, wenn diese Erfahrung auch den auf die die deutschen Übertitel angewiesenen zuteil geworden wäre und man dort nicht verschämt "Faggots" schriebe, sondern von "Schwuchteln" die Rede wäre.
The faggots..., Ruhrtriennale: Sympathisches Empowerment
Lange Zeit vergriffen war der utopische Underground-Roman „The faggots and their friends between revolutions“ von Larry Mitchell aus dem Jahr 1977. Darin wird ein paradiesischer Zustand queerer Menschen beschrieben, der vom Patriarchat und Kapitalismus niedergewalzt wird. In einem FLINTA-Bündnis, in dem Lesben und Drag-Queens eine wichtige Rolle spielen, erobern sich die Queers ihre Welt zurück und reklamieren auch das abwertende Wort „Faggots“ als positive Selbstbeschreibung für sich.

Ted Huffman (Regie) und Philip Venables (Musik), die als Duo seit Jahren an internationalen Opernhäusern zu Gast sind, allerdings in Deutschland noch nicht so bekannt sind und zuletzt in Erfurt und Hannover arbeiteten, gruben den Text aus und machten daraus in Kooperation mehrerer großer Festivals eine 100minütge queere Empowerment-Musiktheater-Produktion.

In den Mittelpunkt schiebt sich immer wieder Kit Green, nonbinäre Performer*in und zuständig für Erklärtexte und Überleitungen. Green dirigiert auch die längere Mitsing-Nummer, die etwa in der Mitte des Abends ansteht. Stilistisch bleibt der Abend oft sehr nah an der Oper, bedient sich aber von Barock bis Techno munter bei diversen Epochen und Musikrichtungen. Der Wechsel aus nachdenklich-melancholischen Passagen der Trauer über die Ausgrenzung durch das Patriarchat und den kämpferischen Songs ist Strukturprinzip des Musiktheater-Abends. Lesenswert zu wiederkehrenden Tonfolgen und Leitmotiven ist die ursprüngliche Nachtkritik vom Juli 2023 aus Bregenz.

Berichtete die Nachtkritik 2.0 noch von einem verhaltenen Applaus nach der deutschen Erstaufführung am vergangenen Wochenende, so gab es nach der gestrigen Aufführung langen, freundlichen Applaus und sogar einige standing ovations für das sympathische Empowerment-Projekt „The Faggots and Their Friends Between Revolutions“ in Bochum.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/08/21/the-faggots-and-their-friends-between-revolutions/
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