Kein Puppenheim für Nora

16. März 2023. Diese "Nora" macht als Influencerin Werbung für Kosmetik und Mode und opfert sich wie gehabt für ihren Mann auf. Ziemlich viel Pink gibt es in Lajos Wenzels Inszenierung, aber auch hier keine heile Welt. Und am Ende knallt nicht die Tür, sondern fällt ein Schuss.

Von Rainer Nolden

Pretty in Pink: Henrik Ibsens "Nora" von Lajos Wenzel inszeniert am Theater Trier © Marco Piecuch

16. März 2023. Raus aus der bürgerlich-gediegenen Wohnstube. Rauf auf den hippen Catwalk samt Empore und Bildschirmen, auf denen Youtube-Videos laufen, die Nora als Influencerin für Mode und Kosmetik zeigen. Nora – das könnte auch Barbie sein, denn als rosagewandetes Püppchen, pretty in pink, stolziert Anna Pircher quirlig, überdreht, hektisch, in der Titelrolle über den Laufsteg, der ebenfalls ganz in Rosa getaucht ist. Ein Girlie der High-Bussi-Society, eine Shopping Queen, gerade zurück von einem Einkauf, bei dem sie sich mit Markenmode ausstaffiert hat, um auf der Party zu glänzen, die ihr Gatte anlässlich seiner Beförderung zum Bankdirektor gibt.

Radikal verändert beziehungsweise modernisiert hat Regisseur Lajos Wenzel im Werkstatt-Ambiente der Europäischen Kunstakademie Trier Henrik Ibsens Klassiker über eine Frau, die sich in den Kokon ihrer Tagträume von einem vollkommenen Leben eingehüllt hat. Und zwar so sehr, dass sie den Abgrund, vor dem sie steht, ziemlich gut ignorieren kann. Dabei ist sie, die sich hier aufs Äußere fixiert hat, eigentlich eine selbstlose Heldin, eine entschlussfreudige Frau, aus Liebe zu ihrem todkranken Mann mutig genug, eine Straftat zu begehen: Damit er nach einem Burn-out ein Erholungsjahr einlegen kann, fälscht sie die Unterschrift ihres Vaters, um eine Kur bezahlen zu können.

Zwischen Influencer-Videos und Selbstbestimmung

Gleichzeitig ist sie klug genug zu wissen, dass ihr Mann dieses Geld niemals von ihr annähme, weil es unter seiner Würde ist, sich von seiner Frau aushalten, besser noch: retten zu lassen. Doch die Stärke dieser Frau bleibt in Pirchers Darstellung, die sich lange, zu lange aufs Flatterhaft-Oberflächliche beschränkt, bis zum Schluss verborgen. Und wirkt, wenn dann die andere Seite dieses frühen Beispiels einer emanzipierten Frau ans Licht kommt, zu abrupt und nicht wirklich überzeugend.

 Nora1 805 MarcoPiecuchStyling für die Beförderungs-Party: Anna Pircher als Nora und Giovanni Rupp © Marco Piecuch

Ihr Gatte und Gegenspieler ist Giovanni Rupps Torvald. Er hat den paternalistisch-herablassenden Ton, den er Nora gegenüber anschlägt, bis in die Haarspitzen verinnerlicht. Dass er sie liebt, nimmt man ihm ohne Weiteres ab. Vor allem aber liebt er den Umstand, dass sie das Schmuckstück an seiner Seite ist. Mit jedem seiner Worte, jeder Geste, jeder Reaktion macht er unmissverständlich klar, dass er sie nicht ernst nimmt, gar nicht ernst nehmen will.

Als er von ihrem selbstlosen Akt erfährt, kommt ihm kein Wort des Dankes über die Lippen; stattdessen macht er ihr Vorwürfe, weil sie seine Karriere gefährdet. Und wenn dann durch eine Fügung der Skandal vermieden werden kann, ist es allerdings zu spät: Noras Puppenheim fällt wie ein Kartenhaus zusammen. Den Wechsel vom unbeherrscht Tobenden zum Schmeichelnden: Rupp schafft ihn ausgesprochen geschmeidig beim Versuch, sein verschrecktes "Vögelchen" wieder einzufangen.

Verwandlung einer Frau

Dass freilich ein kurzer Dialog, ein heftiger Streit, wie er in den besten Ehen gang und gäbe ist, Noras radikalen Sinneswandel bewirkt – quasi von einer Sekunde zur anderen, wie man mit dem Umlegen eines Schalters gleißendes Licht in einen soeben noch dunklen (Seelen-)Raum bringt, verlässt das Püppchen den Schauplatz als selbstbewusste, zielstrebige, ernsthafte und ernst zu nehmende Frau –, das vermag die Regie nicht wirklich schlüssig zu vermitteln.

Weitere Mitwirkende beim auf Spielfilmlänge gekürzten Abend sind Friederike Majerczyk als Noras vom Leben gebeutelte Freundin Christine, die deren gedankenlose Plappereien über ihr vermeintlich glückliches Leben mit zurückhaltender Skepsis zur Kenntnis nimmt. Stephan Vanecek spielt den sich mit heiterer Gelassenheit in sein tödliches Schicksal ergebenden Doktor Rank, der Nora mit teenagerhafter Unbeholfenheit auf anrührende Weise seine Liebe gesteht. Markus Angenvorth schließlich trifft als Noras Erpresser Nils Krogstad den latent bedrohlichen Ton, bei dem jedes Opfer Gänsehaut verspüren dürfte.

Am Ende ein Schuss

Die radikalste, aber durchaus schlüssige und überzeugende Änderung hat Lajos Wenzel sich für den Schluss aufgehoben: Als Nora ihrem Mann erklärt, dass sie ihn verlassen wird, greift er zur Pistole und läuft seiner Frau hinterher. Statt einer Tür, die zuschlägt, wie es im Original vorgesehen ist, ertönt ein Schuss. Wer auf der Strecke bleibt? Das muss der Zuschauer selbst entscheiden.

Nora
von Henrik Ibsen
Regie: Lajos Wenzel, Bühne, Kostüme und Video: Sandra von Slooten, Volker Maria Engel, Dramaturgie: Lara Fritz und Philipp Matthias Müller, Technik: Henrik Hake, Kira Meggers, Niuls Römpke, Felix Zimmermann.
Mit: Markus Angenvorth, Friederike Majerczyk, Anna Pircher, Giovanni Rupp, Stephan Vanecek.
Premiere am 15. März 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-trier.de

 

Kritikenrundschau 

"Emanzipation als Vorabendsoap" ist Eva-Maria Reuthers Kritik im Trierischen Volksfreund (17.3.2023) überschrieben. Eine schicke Soap, die sich weit und sich weit von Ibsens gesellschaftlichem Käfig und seinen Verstrickungen entferne und "weniger aktuell als schlicht banal ist". Diese Nora ist eine Shoppingqueen, "die permanent und nervig wie eine Influencerin spricht und auftritt". Fazit: "Wer Ibsens Drama zeitgenössisch überschreiben will, kann sich nicht mit stylischem Dekor begnügen, sondern muss das Problem der sozialen Schichtenzugehörigkeit ernsthaft reflektieren." 

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