Lulu - Staatsschauspiel Dresden
Kopulieren, was das Zeug hält
10. September 2023. Frank Wedekinds Tragödie ist eine Art früher #metoo-Kommentar: Männer lassen ihren (Zurichtungs-)Fantasien gegenüber Frauen darin freien Lauf. Daniela Löffner wollte den Stoff erst inszenieren, wenn sie die perfekte Besetzung gefunden hat. Jetzt ist es soweit – und eine maximale Überraschung.
Von Matthias Schmidt

10. September 2023. Frank Wedekinds "Lulu" ist immer gut für ein Stadtgespräch, oft reicht es sogar für einen Skandal. Peter Zadek gelang das 1988 in Hamburg bereits mit dem Plakat von Gottfried Helnwein. Da schaut ein kleiner Mann direkt auf die entblößte Scham einer überlebensgroßen, direkt vor ihm stehenden Frau. Diese Frau, damals von Susanne Lothar gespielt, über weite Strecken splitternackt, ist Lulu.
In Dresden ist die nackte Frau ein nackter Mann. Von einem Skandal ist das weit entfernt, für ein Stadtgespräch könnte es reichen. Simon Werdelis spielt die Lulu, und auf den ersten Blick scheint diese Besetzungsidee von Regisseurin Daniela Löffner nur allzu gut in den Trend zu passen, der sich vorgeblich alten Rollenbildern widersetzt.
Unantastbares Zentrum
Allerdings ist Löffners Argument für einen Mann als Frau absolut schlagend: Sie habe die "Lulu" erst inszenieren wollen, sagt sie im Programmheft, wenn sie die perfekte Besetzung für diese Rolle gefunden hat, und Simon Werdelis sei genau diese. Nach dem Abend wird ihr darin kaum jemand widersprechen können: Simon Werdelis ist ein Ereignis! Er ist – wie im Grunde die halbe Inszenierung – Zadeks Lulu Susanne Lothar gar nicht so unähnlich. Nicht nur, weil auch er einen erheblichen Teil des Abends splitternackt zu spielen hat. Vielleicht etwas weniger naiv als sie vor 35 Jahren, ist er doch ein unantastbares Zentrum dieser Arbeit, die wie Zadek auf die Prologe verzichtet, die beiden Teile ("Erdgeist" und "Die Büchse der Pandora") durch eine Pause trennt und – dann lassen wir es aber auch mit den Vergleichen – beinahe dieselbe Länge hat.
Die perfekte Besetzung für diese Rolle: Simon Werdelis (rechts) als Lulu, hier mit Sven Hönig © Sebastian Hoppe
Werdelis gibt seine Lulu mal tänzelnd, mal derb, mal lüstern, später zerbrechlich. Zerbrochen an den Männern um ihn herum. Sein Changieren zwischen diesen Emotionen ist perfekt. Und immer – wie sagt man – rücksichtslos gegen sich selbst? Gerade am Ende des zweiten Teils, wenn die Inszenierung wilder und chaotischer wird, obszöner in der Wortwahl, wenn gefickt wird und nicht mehr miteinander geschlafen, wenn Videoprojektionen und Börsenticker mit Meldungen über Sexismus, #metoo und aktuelle Missbrauchsfälle das Heute in die Inszenierung holen und die vorher klare Bühnensprache auflösen, ist er es, der das Chaos zusammenhält. Mit dem man mitleidet, als die wilden Kerle ihn nicht nur psychisch quälen.
Dank Simon Werdelis kann man die Schmerzen der Lulu bis in den Zuschauerraum spüren. Schmerzen, die kaum auszuhalten sind. Das soll so sein, und das geht auf: Nicht wenige Zuschauer blicken in Schockstarre zur Bühne. Daniela Löffner zielt darauf, dass es weh tut, wenn die sexuellen Obsessionen für die letzten Überlebenden in der Gosse enden und für Lulu schließlich in den Mörder-Händen Jack the Rippers. Es ist ein großer Abend für Simon Werdelis – und jede Sekunde des frenetischen Premierenjubels schwer verdient.
Gesteigerte Aufmerksamkeit
Dennoch bleibt ein großes Warum im Raum stehen. Die Frage, was aus dem Stück um die Frau Lulu wird, wenn diese Frau ein Mann ist, der eben nur vorgibt, eine Frau zu sein. (Bitte, bevor es zu Fragen oder Empörung kommt: von "trans" ist keine Rede.)
Die nüchterne Erkenntnis nach diesem Abend lautet: Aus dem Geschlechtertausch erwächst kein Mehrwert für den Stoff. Man kann ihn akzeptieren: wir sind im Theater, jeder kann jeden spielen, so ist der Deal. Einerseits. Was aber bleibt, ist eine gesteigerte Aufmerksamkeit, wenn nicht gar Ablenkung. Der Nackte-Frau-Mann ist so präsent, dass er die Kraft aus den doch eigentlich so starken Dialogen der Männer zu saugen scheint. Sein Männerkörper bleibt, wo es doch ausdrücklich um eine Frau geht – eine, deren Frauenkörper die Männer lüstern und sogar hörig macht, der sie zu Mördern werden lässt oder Selbstmördern –, eine Verunsicherung.
Immer gut für ein Stadtgespräch: Wedekinds "Lulu", hier mit Simon Werdelis, Raiko Küster, David Kosel, Sven Hönig, Michael Rothmann, Holger Hübner und Philipp Grimm © Sebastian Hoppe
Wenn Er-Lulu sich über den Bauch streicht und sagt, sie sei schwanger, streift das – intendiert oder nicht – Teile der aktuellen Genderdebatten, um die es Wedekind wahrlich nicht ging. Wer boshaft denkt, nimmt es als Witz im Stile von Monty Pythons "Leben des Brian" wahr. Noch deutlicher ist die Verwirrung, wenn die lesbische Gräfin Geschwitz dieser Lulu verfällt. In Dresden sind es immer zwei Männer, die die Hosen herunterlassen und Sex miteinander simulieren, und zwar oft und explizit. Es ist ein wahres Hosen-runter-Drama. Auf dem Bühnenboden, auf dem Klavier, in der Proszeniumsloge – die durchweg männlichen Schauspieler kopulieren, was das Zeug hält. Nicht, dass daran grundsätzlich etwas falsch wäre, im Gegenteil, aber es wird eben eine andere Geschichte, wenn das Rotkäppchen eine Prinzessin ist und der Wolf ein Frosch. So gesehen verhindert die geschlechterverkehrte Besetzung einen heutigen Zugriff aus Wedekinds Stück mehr, als sie ihn befördert.
Schlagwortsammlung im Aktienticker
Was wirklich schade ist angesichts dieser bis zur Pause grandiosen Inszenierung. Die Bühne von Claudia Kalinski dominiert ein riesiger Spiegel, zu Beginn sieht das Publikum sich selbst darin. Die acht Schauspieler betreten diese Bühne aus dem Zuschauerraum und streichen den Spiegel schwarz an. Als solle niemand dem nun folgenden Spiel über Lust und Sexualität zuschauen. Am Ende, als das Spiel aus ist, wird er wieder gesäubert. Beeindruckend auch David Kosels Gesang am Klavier und mit einer (kleinen) Live-Band.
Nach der Pause verliert der Abend seinen Fokus, jetzt wird geschrien, gerappt und gelärmt, mit einer Pistole gefuchtelt und gefeuerwerkelt. Live-Videos werden projiziert und wirken völlig überflüssig. Die Schlagwortsammmlung zu aktuellen Debatten im Aktienticker – eine Überfrachtung. Ein Formen-Kauderwelsch, das schließlich in das schmerzhafte Finale übergeht, in dem Lulu, nun von den Männern mit künstlichen Brüsten zu einer Art Sexpuppe staffiert, ganz unten angekommen ist. Das Ende ist blutig, geradezu ein Splatter-Drama. Simon Werdelis hat es auszuhalten, und er hält es aus. Es ist sein Abend, wie gesagt.
Lulu
von Frank Wedekind
Regie: Daniela Löffner, Bühne: Claudia Kalinski, Kostüme: Daniela Selig, Kompositionen: Matthias Erhard, Dramaturgie: Kerstin Behrens.
Mit: Simon Werdelis, Raiko Küster, Sven Hönig, Holger Hübner, Philipp Grimm, Hans-Werner Leupelt, David Kosel, Michael Rothmann.
Premiere am 9. September 2023
Dauer: 3 Stunden 35 Minuten, eine Pause
www.staatsschauspiel-dresden.de
Kritikenrundschau
Löffners "Lulu" sei insgesamt "herausfordernd und anstrengend, auch fesselnd und berührend”, schreibt gg in der Dresdner Morgenpost (11.9.2023). Manchem werde die Inszenierung provokativ vorkommen. "Es ist ein exhibitionistisches, obszönes Spiel mit teils derben, anscheinend sorgfältig choreografierten Sexszenen, die unter Männern notgedrungen von homoerotischer Ausstrahlung sind, auch wenn diese Frauen spielen.” Auseinandersetzung mit spezifisch männlicher Sexualität wolle diese Theaterarbeit auch sein, "doch bleibt der Erkenntnisgewinn fraglich.”
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Ich muss sagen, dass es in meinen Augen ein absoluter Gewinn ist, für die Besetzung durchgängig Männer zu wählen. Diese Inszenierung hätte mit einer Frauenbesetzung weder funktioniert, noch gezeigt werden dürfen. Diesem Voyeurismus hätte ich keine Minute beiwohnen können. Die explizit ausgestellte Sexszene zwischen den Figuren von Dr. Schön (Raiko Küster) und Lulu ist ästhetisch gelungen und liebevoll spielerisch. Man verliebt sich nahezu körperlich in ihr Verliebtsein. Simon Werdelis spielt überzeugend und verschmilzt mit der Figur, sodass sich die Tatsache, dass er ein Mann ist, für mich weggesehen hat oder tatsächlich auch Sinn ergeben hat, vor dem Hintergrund, dass es Figuren wie Lulu auch in der Männerwelt und im homosexuellen Milieu gibt. Die Nacktheit war niemals bloßstellend. Die expliziten Szenen der Vergewaltigung, Misshandlung, psychischen Gewalt, wer hätte es ausgehalten dabei zusehen, wenn es eine Frau gewesen wäre? Dürfte man so etwas heute noch mit einer weiblichen Besetzung zeigen? Diese schmerzhaften Szenen brauchte der Abend jedoch, um die Perspektive der toxischen Männlichkeit zu verdeutlichen. Zur verdeutlichen, dass das Bild von Sexualität männlich geprägt ist und in Schubladen passen muss. Immer wenn Lulu Kleidung trug, wurde sie ihr von einem Mann gereicht, in dessen Erwartungen sie hätte passen sollen. Die Stimmung im Saal war hochkonzentriert, man hätte Stecknadeln fallen hören können. Eine kleine Anekdote zum Schluss: hinter mir saß ein älterer Mann der grunzte, als der nackte Mann auf die Bühne kam „Das ist ja ekelhaft“, am liebsten hätte ich mich umgedreht und ihn gefragt, ob er sein eigenen nackten Körper auch ekelhaft fände. Sein ständiges Schnauben fand ein Ende als seine Frau zu ihm sagte „Dann geh doch jetzt bitte einfach raus, wenn es dir nicht gefällt.“ Das tat er, sie blieb sitzen, auch nach der Pause. Vielleicht fand sie wichtig, was der Abend zu sagen hatte.
Der Kommentar ist wohl etwas kurzgegriffen. Ein Stück wie Lulu ist aus der heutigen Perspektive tatsächlich in punkto Darstellbarkeit zumindest problematisch. Die Setzung (die eine Frau vorgenommen hat) erscheint mir auf den ersten Blick clever.
Wenn man jedoch über den Tellerrand des Stückes schaut, dann sollte man meinen, dass a) in zeitgenössischer Dramatik mehr und größere Frauenfiguren vorkommen und b) häufiger in Klassikern männliche Hauptrollen mit Frauen besetzt werden.
Eine Tendenz bzw. Frauenrollen aus der Setzung einer einzelnen Inszenierung abzuleiten ist also grober Unfug.