Wer hat Angst vor Mutter Blomberg?

von Lukas Pohlmann

Dresden, 11. September 2016. Lange nicht mehr in so einen Guckkasten geguckt. Richtig mit Rampe und hinten rechts eine Tür. Hinten links ein Kreuz an der Wand. Dieser Guckkasten ist komplett weiß ausgekleidet wie ein hübsch-hässliches Polstersofa, ansonsten anfangs leer. Bis auf Christine Hoppe, die an der rechten Wand hockend bald Gesellschaft von einem Kronleuchter bekommt, der durch ein kreisrundes Loch in der Decke schwebt und den Raum golden erstrahlen lässt.

"Konversationskomödie" steht im Programmheft der angekündigten Martin Heckmanns-Uraufführung, inszeniert vom Körber-Studio-eingeladenen Evgeny Titov. Der Inhalt besagter Konversation wirkt wie eine Variation bekannter Gutbürger-Stoffe – von denen es immer wieder so einige in die Spielplanhitlisten schafften. Im vorliegenden Fall treffen sich Erziehungsberechtigte, um die Probleme und Verfehlungen ihrer Sprösslinge zu diskutieren. Und fangen bald an, sich und dem Publikum den Nabel zu zeigen. Wahlweise unter Einfluss mieser Charakterzüge, nicht aufgearbeiteter Traumata oder Alkoholika. Oder allem. Meistens allem.

meinherzistrein3 560 Matthias Horn uGepolsterter Guckkasten mit Konversationstreibenden: Philipp Lux, Henriette Höltzel, Holger Hübner und Lars Wellings. Auf dem Karton: Christine Hoppe als Mutter Blomberg  © Matthias Horn

Begrüßungsorgien

Bei Martin Heckmanns sieht das so aus: Die Eltern Blomberg (Christine Hoppe und Lars Wellings) haben Vater Küster (Holger Hübner) und Vater Braumeister (Philip Lux) nebst Lebensabschnittsgefährtin Steffi, gespielt von Henriette Hölzel ins Wohnzimmer geladen. Zu viel Wein und Salzgebäck. Richtiges Essen war nicht angekündigt. Da hatte die Steffi wohl was falsch verstanden. Die Kinder der Genannten stehen alle in der zarten Blüte ihrer frühen Jugend. Gerade alt genug, um aus den Nestern zu hüpfen und just auf "Bergwanderung" zu gehen. Aber doch viel zu jung um beim flaschendrehenden "Wahrheit oder Pflicht" sich ihrer Klamotten zu entledigen und den Speichelfluss der anderen zu untersuchen. Denn genau dies ist Inhalt des auf einem Kindeslaptop gefundenen Videos, das nun zur Auseinandersetzung führt. Aber wie zu erwarten dienen Video und Nachkommen bald nur noch als Projektionsfläche für Befindlichkeiten der Anwesenden.

So vergehen die ersten Minuten in Begrüßungsorgien mit angelernter Geste und geprobter Rhetorik. Die Schauspieler zeigen, wie viel Handwerk in ihnen steckt, wenn sie sich die Heckmannschen Floskelkanonaden um die Ohren hauen und aus Wiederholung und Variation für den Zuschauer Amüsement entstehen lassen. Da wird der Karton neben der Tür aufwändig in seiner Funktion als Straßenschuhüberzugspender bespielt. Dann versammeln sich die Protagonisten vor dem publikumsabgewandten Laptopbildschirm und erzählen den Videoinhalt nach.
Das ist nett anzusehen, mitunter punktgenau geschrieben und von komödiantisch wohlbegabten Spielern solide umgesetzt. Aber mehr? Nicht.

Gut getextete Nabelschau

Mal bleibt das Lachen ganz aus, mal ist es ehrlich, aber es bleibt nie im Hals stecken. Und ist somit sonntäglich amüsiertes Schmunzeln und keines, dass einem den Spiegel der eigenen Lebenswirklichkeit vorhalten könnte. Vielleicht, weil die Regie die Fallhöhen des Textes nicht ausnutzt? Oft wirken die Schauspielerarrangements zwar konsequent wie von einem Marionettenspieler angeordnet, aber leider wird der äußere, entlarvende Einfluss fast immer gekappt, wenn er der Situation dazu verhelfen würde ins Absurde abzugleiten. Situation und Figurenkonstellation sind bei aller Dialogstärke zu geläufig um im Abspulen der aufeinander prallenden Positionen und Stimmungen letztlich erhellend Neues oder ein enervierendes Fremdschampotenzial zu produzieren.

Zu vorhersehbar ist es, wenn Philip Lux die Fassade seines Eventmanagers bis zum weiße Wände mit Rotwein bespritzenden Zusammenbruch dekonstruieren darf. Oder wenn Herr Küster alias Holger Hübner in bester patriarchaler Eitelkeit seine Frau durch Telefon beleidigt. Oder Mutter Blomberg Hilfe in biblischen Weltreinigungsfantasien sucht. Das ist zwar gut getextete Nabelschau. Aber mehr wird daraus auch nicht durch Steffis Proklamation des Erwachsenen-Wunsches nach Ordnung in der Welt. Wobei sie den feinen wörtlichen Dreischritt "Ordnung", "Heilung", "Heil" entwirft.

Im Gedächtnis bleibt ein Clou: Marie, die Tochter, kehrt viel zu früh von der Bergtour der Kinder zurück. Und sendet mit ihrer naiven Frage, warum die Eltern ihr nie von der reinigenden Kraft der Liebe erzählt haben, einen vor Pathos triefenden Hoffnungsschimmer in die desillusionierte Erwachsenenwelt.
Ehrlich romantische Neigungen in der Gegenwartsdramatik sind doch immerhin eine spannende Angelegenheit.

 

Mein Herz ist rein
von Martin Heckmanns
Uraufführung
Regie: Evgeny Titov, Bühne: Anne-Alma Quastenberg, Kostüme: Janine Haschke, Dramaturgie: Julia Weinreich, Licht: Jürgen Borsdorf.
Mit: Christine Hoppe, Henriette Hölzl, Alisa Elsner, Lars Wellings, Holger Hübner, Philip Lux.
Dauer: 1 Stunde, 20 Minuten, keine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Kritikenrundschau

"Nicht mit Originalen, sondern mit Typen besetzt Heckmanns sein Versuchslabor", schreibt Rafael Barth in der Sächsischen Zeitung (13.9.2016). Dessen Struktur erinnert den Kritiker "arg" an Yasmina Rezas Hit 'Der Gott des Gemetzels'. Doch nimmt er das dem aus seiner Sicht "treffend" mit sechs wunderbaren Schauspielern in Szene gesetzten Abend nicht weiter übel. Denn "es scheint einen Bedarf an Theater zu geben, das bürgerliche Fassaden zersägt und dabei mit fröhlichem Furor zu Werke geht".

In der Dresdner Morgenpost (13.9.2016) hält "hn" den Abend für eine über weite Strecken "irrwitzig komische Redeschlacht eines bestens aufgelegten Ensembles." "Nur wenn sich die besorgten Mittelschichtsbürger in autoritäre Reinigungsfantasien inklusive fremdenfeindlicher Parolen retten, die Komödie in bitteres Gesellschaftsporträt kippt, will Heckmanns vielleicht etwas zu viel."

Weder das angekündigte Lustspiel noch eine böse Komödie sei "Mein Herz ist rein", so Andreas Herrmann in den Dresdener Neuesten Nachrichten (14.9.2016), ein Einakter, in dem nicht viel passiere. "Stoff wie Regie mangelt es schlicht an Wendungen", zumal zeige der Abend, dass die Schlosskapelle als Spielstätte nicht tauge.

"'Mein Herz ist rein' war ein Premierenerfolg", gibt Helmut Schödel in der Süddeutschen Zeitung (20.9.2016) zu Protokoll. "Eine ganze Weile lang war es auch wirklich komisch, und man konnte über die Karikaturen aus dem bürgerlichen Heldenleben herzlich lachen." Aber dann schreite "der Gott des Gemetzels" ein, "die Sache eskaliert, es kommt zu Balgereien, und der verspritzte Rotwein sieht aus wie Blut unter dem schwarzen Holzkreuz an der Wand.", so Schödel. Und die Bühne von Anne-Alma Quastenberg, "eine Gummizelle in Weiß", habe das schlichte Konversationsstück durch die Symbolik fast ruiniert. "Es war eine Vorverurteilung der Personen von Anfang an."

Kommentare  
Mein Herz ist rein, Dresden: nicht einverstanden
Warum schreibt jemand eine Kritik, der so abgeklärt, gelangweilt und oberflächlich auf die Bühne schaut (...)? Der nicht einmal eine Herleitung versucht, wenn am Ende eines Theaterabends „Heil!“ gefordert wird? Der in dem Ruf nach Ordnung, Heilung, Heil bloß einen „feinen wörtlichen Dreischritt“ (???) sehen kann und keinen Schrecken des bürgerlichen Faschismus (und keinen Zusammenhang mit den besorgten Bürgern 50 Meter nebenan)? Der seine Lachlaune zum Kriterium für eine Inszenierung nimmt, die so offensichtlich bricht mit der Komödie?
(...)
Mein Herz ist rein, Dresden: vorhersehbar
@1
der Abend war einfach auch so dermaßen vorhersehbar und langweilig - da war die Kritik oben in ihrer "Abgeklärtheit" noch wohlwollend... ein lahmes Stück, uninspirierte Regie, durchschaubare Dramaturgie, dennoch engagierte Schauspieler.
Mein Herz ist rein, Dresden: Solidität
Der Regisseur als Marionettenspieler triffst schon ziemlich genau, konnte man in Hamburg bei der Körber-Inszenierung übrigens auch schon bestaunen. Solidität, dass es einen gruselt.
Mein Herz ist rein, Dresden: keine Abgründe, kein Schrecken
Was ist das für 1 Leben, wenn man seine Urteile über Eindrücke standrechtlich und begründungslos zu fällen in der Lage ist? Wenn man sich 0 interessiert für die Motivation, die Interessen und Vorhaben der Beteiligten und sei es, um ihr Scheitern zu erklären? Wahrscheinlich weil man alle anderen außer Mutti für dumm, korrupt oder so langweilig hält, dass sie kein Interesse wert sind? Was sieht man noch, wenn man alles voraussehen kann? Offensichtlich nicht viel, keine Sehnsüchte, keine Abgründe, keine Abschiedsangst und keinen Schrecken. Was ist das für ein Leben, dass sich nicht mehr irritieren lässt, 80 Minuten nichts merkt außer Langeweile und sich seiner selbst so sicher ist? Grausam öde.
Mein Herz ist rein, Dresden: hineininterpretiert
@4 - Diese Dinge sind einfach nicht Teil dieses Stücks und dieser Arbeit: Sehnsüchte Abgründe, Abschiedsangst und Schrecken. Ich sehe diese Gefühle gern und oft im Theater. Aber hier ist das - nicht nur in meiner - Wahrnehmung wahrlich in dieses Druckspiel hineininterpretiert... Es freut mich aber, dass Sie begeistert waren - war denn Ihre Mutti dabei? ;-)
Mein Herz ist rein, Dresden: Mutti war dabei
@5 meine Mutti war dabei, saß neben mir und wir waren ebenso begeistert. Es lohnt sich genauer zu schauen und sorgfältiger zu zuhören (hat Mutti sogar ohne Hörgerät geschafft). Die dialogische Auseinandersetzung mit dem Stoff ist interessant, nie geläufig, oft überraschend....es freut mich aber, dass Sie sich gelangweilt haben. Suum cuique
Mein Herz ist rein, Dresden: Mühe geben
@#4 Es wäre die Aufgabe der beteiligten Künstler, vor allem und verantwortlich der Regie, die Zuschauer zu interessieren: für ihre Arbeit, den Text, das was sie erzählen wollen. Wenn das nicht passiert wendet man sich eben gelangweilt ab. Den Zuschauern dann vorzuwerfen, sie hätten sich nicht genügend Mühe gegeben, stellt die Verhältnisse auf den Kopf. Die Kunst muss sich Mühe geben. Ist schwer, klar, und kann nicht jeder.
Mein Herz ist rein, Dresden: Bemühen aller
@#7 Arno Schmidt sieht das, wie immer auf seine etwas bös' humorvolle Weise, anders: "eine Naivität - korrekter: eine Frechheit! - von der Kunst zu verlangen, sie habe sich, per fas et nefas, dem Nie=wo des Publikums anzupassen; umgekehrt ist es: der Einzelne, der Große Kunst verstehend genießen will, hat sich gefälligst zu ihr hin zu bemühen!" Das Stück ist sicher keine "Große Kunst", aber dass sich nur die Kunst und nicht das Publikum bemühen soll, dem möchte ich Schmidts Sätzlein gerne entgegensetzen.
Mein Herz ist rein, Dresden: Gedächtnis bilden
Es gibt für das Publikum wahrscheinlich kein größeres Vergnügen, als sich zu einer "Großen" Kunst verstehend hinzubemühen. Allerdings muss es durch ein Ahnen vom Geheimnis großer Kunst zur Bemühung zu ihr hin verlockt sein. Nicht von einer Werbung verlockt, die von Täuschung sich und die Produzenten der für sie werbenden Kunst-Produkte nährt... Die mag stets neues, aber kein treues Publikum machen. Und es ist das treue Publikum, von dem die Kunst neues lernt. Vom stetig neuen Publikum lernt sie immer nur das Neueste. Das, welches ohne das Neue auskommt, wie es ohne das Alte auskommen kann und kein Gedächtnis hat noch bildet. Große Kunst bildet Gedächtnis, weil sie ein über-quellendes hat und auf neue Art (wie der Name sagt!) bewahrt.
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