Hamlet - Staatstheater Meiningen
Den Kaffee macht Ihr Euch aber selber!
7. Oktober 2023. Andreas Kriegenburg, großer Bilderfinder und weit gereister Theatermacher, kehrt in Meiningen ein, also am Ort des Aufbruchs der modernen Regietheaterkunst, die nach 1874 vom Meininger Hoftheater ausging. Hier steht Kriegenburg der Sinn nach Theaterselbstbesinnung: ein "Hamlet" als Bühnenprobe.
Von Marlene Drexler
7. Oktober 2023. Das Gesicht von Laertes ist Tränen überströmt. Sein Hemd vom Schweiß durchnässt, die Brust bebt. Erschöpft sitzt er auf einem Stuhl. Soeben hat er vom gewaltsamen Tod seines Vaters erfahren, seine Schwester daraufhin komplett von Sinnen erlebt. Vor ihm läuft Claudius, der König und Hamlets Onkel, auf und ab und versucht Laertes Rachegelüste anzufachen. Plötzlich unterbricht Claudius sich und löst die Situation in lapidarem Ton auf: "Willst du auch einen?". Gemeint ist: einen Kaffee. Die Frage markiert einen von mehreren gezielten Brüchen an diesem Abend.
Schauspieler bei der Probe
Regisseur Andreas Kriegenburg hat für seine "Hamlet"-Inszenierung am Staatstheater Meiningen einen Rahmen der Geschichte hinzuerfunden. Die Spielerinnen und Spieler verkörpern eine Theatergruppe, die auch gerade Shakespeares "Hamlet" probt. Die Meininger Bühne (entworfen von Kriegenburg selbst) ist ihre Probebühne: eine Industriehalle mit grauen schimmeligen Wänden, an denen die Nässe hochsteigt. Darin befinden sich zwei Tische, ein paar Stühle, voll behangene Garderobenständer. An der rechten Bühnenseite steht ein Wägelchen mit Wasserkaraffe und einer Thermoskanne, darin der besagte Kaffee. Das Publikum lernt die Theatergruppe in ihren Alltagsklamotten kennen, kann dabei zuschauen, wie sie sich aufwärmen und nach und nach erst in ihr Kostüm – von Andrea Schraad als ästhetische Kreuzung aus historisch und modern gestaltet – schlüpfen.
Was in Shakespeares "Hamlet" passiert, ist eine Wucht. Für Hamlet selbst vor allem eine Unwucht. Denn, als sein Vater stirbt, übernimmt sein Onkel Claudius nicht nur den dänischen Thron, sondern heiratet auch die Königin, Hamlets Mutter. Als Hamlet dann herausfindet, dass sein Vater keines natürlichen Todes gestorben ist, sondern Claudius seine Finger im Spiel hatte, eskaliert das Familiendrama. Am Ende sind fast alle tot.
Yannick Fischer verleiht seinem Hamlet eine ambivalente Ausstrahlung. Sanft und zerbrechlich in einem Moment – mit dem Bedürfnis, sich an seine Gesprächspartner anzukuscheln, ihnen durch die Haare zu fahren. Dann plötzlich ein unverwandter Blick und der Gang einer Katze, die jederzeit zum Sprung bereit ist.
Wider die toxische Männlichkeit
Kriegenburg interessiert sich in seiner Inszenierung nicht für das Staatstragende des Dramas oder die Frage nach korrumpierender Macht. Stattdessen will der Regisseur die intimen Beziehungsgeflechte erforschen, wie man im Programmheft nachlesen kann. Auch das Thema Vater-Sohn-Beziehung treibt Kriegenburg um. Für die Figur des Horatio (Leo Goldberg), Hamlets bester Freund, hat er Monologe hinzuerfunden, in denen Väter dazu aufgefordert werden, ihre Söhne nicht zu toxischer Männlichkeit zu erziehen. Ein Sound, der teilweise ein wenig ins Kitschige abdriftet.
Mit der betont undurchsichtigen Mutter Gertrud (Anja Lenßen) dient sich eine zentrale Frauenfigur des Stückes hier recht unumwunden der toxischen Herrschaft von Claudius an. Hamlet erscheint als Opfer, das wiederum Opfer gebiert: Ophelia zuallererst. Eindrucksvoll gleitet Pauline Gloger in den Wahn ab – eine Verlängerung der Zwangsvorstellungen, die von den Vätern zu den Kindern reichen.
Der Sound der Unbeteiligten
Charakteristisch für den Abend ist das ständige Gezuppel und Gemache auf der Bühne. Wie es sonst bei semiprofessionellen Theatergruppen üblich ist, müssen sich die Spielerinnen und Spieler selbst um alles Technische kümmern. So kann man Intrigen-Claudius (Vivian Frey) dabei zusehen, wie er konzentriert am Boden liegend einen Scheinwerfer richtet. Oder, wie ein total zerraufter Hamlet nicht mehr benötigte Stühle an den Bühnenrand trägt. Wenn nichts umgeräumt werden muss, klatschen, summen und klopfen diejenigen, die gerade keinen Text haben, und schaffen so atmosphärische Begleitung der Szenen. Manchmal ergibt sich ein feinsinnig aufeinander abgestimmtes akustisch-visuelles Gesamtkunstwerk, das beeindruckt.
Unklar bleibt dennoch, inwiefern das konstruierte Probensetting tatsächlich dabei hilft, den Figuren und ihren inneren Welten näherzukommen. Wie es die erklärte Absicht der Regie war. Da stehen die Brechungen des Geschehens doch schroff dagegen. Ein Hamlet, dem in probenhafter Lockerheit selbst das "Sein oder Nichtsein" in Teilen von Ophelia abgenommen wird, kann sich eben schwer als Person offenbaren. Andersherum angeschaut hilft der verfremdende Versuchsaufbau auch nur in Ansätzen, die Figuren in überraschende Meta-Perspektiven zu rücken und dadurch ihr Handeln präziser verständlich zu machen. So bleibt's Gewusel mit überschaubarem Gewinn.
Hamlet
von William Shakespeare
Aus dem Englischen von Frank-Patrick Steckel
Regie und Bühne: Andreas Kriegenburg, Kostüme: Andrea Schraad, Dramaturgie: Cornelius Benedikt Edlefsen.
Mit: Yannick Fischer, Vivian Frey, Jörg Pose, Anja Lenßen, Gunnar Blume, Matthis Heinrich, Pauline Gloger, Leo Goldberg, Larissa Aimée Breidbach, Jan Wenglarz.
Premiere am 6. Oktober 2023
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, eine Pause
www.staatstheater-meiningen.de
Kritikenrundschau
"Andreas Kriegenburg ist ein Regisseur mit nicht nur nationaler Reputation – und dieser Abend erklärt, warum das so ist", schreibt Henryk Goldberg in der Thüringer Allgemeinen (10.10.2023). "Er tut so, als wüsste er nicht, dass Shakespeares 'Hamlet' ein zentraler Text des Welttheaters ist. Er schaut einfach, was so passiert in diesen beiden Familien. Und die wissen auch nicht, dass sie eigentlich eine philosophische Familienaufstellung sind." Kriegenburg konzentriere auf das Verhältnis von Vätern und Söhnen, mache aber Ophelia zum Zentrum des Abends.
In einem "erfrischend wiedererkennbaren, wenn man so will, positiv konservativen Sinne" inszeniere Kriegenburg mit der Probensituation das Stück selbst, so Christina Iberl im Freien Wort / Meininger Tageblatt (10.10.2023). Auch die vom Regisseur geschriebenen Zusatztexte passten. "Dass der Rest mal nicht Schweigen ist, sondern Horatios Verzweiflung über den tragischen Gang der Dinge ist nur ein anderes Schlaglicht, aber kein anderes Stück." Im Spiel sei "Identifikation gefragt und wird geboten" – von einem offenbar glänzenden Ensemble.
Kriegenburgs Menschenkenntnis präge das Spiel aller im Ensemble, "ihre präzise Arbeit an Sprache, Tonart, Gestus, Musikalität und Bewegung", schreibt Siggi Seuß von der Main-Post (9.10.2023). "Kriegenburgs ganz spezielle Slapstick-Einlagen verschaffen dem Publikum Zeit zum Durchatmen. Und dennoch: so viele Worte, so rasend schnell gesprochen - manchmal zu schnell, zu flüchtig, als dass ihnen selbst aufmerksam Zuhörende noch folgen könnten. Aber so entfliehen eben Worte in Panik und Verzweiflung den Mündern – als wollten sie das Unaufhaltsame durch Reden verzögern. Horatio kann ein Lied davon singen. Und es ist so befreiend, dass er es bei Kriegenburg endlich darf."
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Ist schon klar, dass jemand der so lange erfolgreich gearbeitet hat wie Kriegenburg seine eigenen Preise verdirbt, weil er immer nur an seinen absolut herausragendsten Arbeiten gemessen wird.
Schade dennoch für die Spielerinnen und Spieler, die Kritikerin nicht zu sehen scheint, dass da ein absolut überdurchschnittlich guter Theaterabend auf der Bühne ist, bei dem ein Ensemble mit Kriegenburgs Hilfe zu Höchstleistungen aufblüht.
Während man bei anderen Künstlern sucht, was alles gefällt, scheint bei den großen hauptsächlich danach geschaut zu werden, woran man sieht dass es so toll nun auch nicht ist.
Der Applaus vom Premierenpublikum war spontan, euphorisch und sehr lang.