S wie Schädel - Kunstfest Weimar
Splitter
22. August 2024. Eine Reflexion auf das Leiden der Welt und die Schuldverstrickungen des globalen Nordens legt der legendäre Theatermacher Roberto Ciulli mit Texten von Navid Kermani beim Kunstfest Weimar vor. Und er steht selbst auf der Bühne, gemeinsam mit der großen Eva Mattes.
Von Tobias Prüwer
22. August 2024. "Sie sollen die Begräbniskosten zahlen. Und ich will zehn Kisten Softdrinks." Am konkretesten wird der Abend, als er auf die im Titel benannten Totenschädel zu sprechen kommt, welche noch immer in deutschem Museumsbesitz sind. Die Rückgabeforderung mit exaktem Kostenvoranschlag von den afrikanischen Nachkommen ist einer der Splitter in "S wie Schädel“, einer Uraufführung beim Kunstfest Weimar.
Die Produktion von Roberto Ciulli, des legendären Gründers des Mülheimer Theaters an der Ruhr, besitzt Mosaikcharakter. Sie ist als eine "Szenische Reflektion einer ungreifbaren Welt auf Texte von Navid Kermani" gedacht, wie es im Untertitel heißt. Ein eigener Kosmos soll sich darin entwickeln, der das Unbegreifliche der Welt darstellbar und fassbar macht. Er bleibt aber über weite Strecken eine Black Box.
Klaffende Wunde
Als klaffende Wunde steht der große schwarze Bühnenraum leer. Vorn befinden sich ein Tisch und zwei Stühle auf einem Belag aus hellbraunen Holzbrettern. Weit hinten zieht sich eine Reihe unterschiedlicher Stuhltypen vertikal dahin. Meistens dient das flache Podest als Fläche, auf der Eva Mattes und Roberto Ciulli Texte zum stimmlich dichten Vortrag verschneiden.
Die Texte stammen allesamt aus dem höchst produktiven Schaffen von Navid Kermani, der als Schriftsteller, Journalist und Orientalist arbeitet. Unterschiedliche Formate – Reportagen, Romanszenen, Interviews – fließen auf der Bühne ineinander.
Warum geschieht so viel Leid auf Erden?
"Am Anfang vor der Zeit lebte eine Lurchenfamilie." In diesen Worten scheint kurz etwas Mythisches auf. Dann geht es um Seufzerkobolde und Kolonialverbrechen, Vergewaltigungen, Terror, Krieg und Folter, Seelenheimat und Muttererde, Armut, Hunger, Kindersterblichkeit. Und die große, alles umkreisende Frage des Warum. Woher resultiert so viel unfassbares Leiden? Es sind inhaltlich starke, meistens den weißen Teil der Menschheit anklagende Fragmente, die hier zum Bollwerk der Menschlichkeit aufgeschichtet werden.
Mattes und Ciulli geben die Textsplitter mal als Dialog, mal nebeneinander aufsagend. Etwas Vielstimmigkeit wird dadurch erzeugt, dass sie manchmal an ein Standmikrofon treten. Namen – mutmaßlich von Gewaltopfern – werden von einer Lautsprecherbox auf der Bühne hineingetragen. Geräusche wie gefährliches Grollen und Klaviermusik ertönen fern aus dem Off.
Minimale szenische Mittel wie das Kneten von Ton, das Formen von Figürchen und ihre Zerstörung, begleiten die Sprechakte. In diesen Momenten erscheint das Duo als Demiurgen, die wie in der Draufsicht beim Schicksalstricken über einzelne Menschen sprechen. Dann werden sie wieder konkrete, wenn auch unbekannt bleibende Individuen. Einmal ziehen sich beide Zinkeimer über den Kopf, sitzen ein Minute starr da, während akustisch ein Krieg durch den Raum zieht. Dies ist als Spiel zu eindeutig, wirkt unfreiwillig komisch.
Verloren im Partikularen
Der Abend lebt weniger von seinen gestischen Momenten, denn von den Stimmen der beiden Protagonisten. Ciullis leise-brüchiges, auch mal abgehacktes Sprechen findet in der sonoren Präsenz von Mattes einen guten Gegenpart. Sie ergänzen sich, mal verdoppeln sie sich in ihrer Intensität. Die Stärke schleift sich aber ab, die Unmittelbarkeit vergeht. Wer da genau wie und was spricht, bleibt zu häufig im Dunkeln.
Die auf universalistische Ebene abzielende Inszenierung, die Ciulli in seiner Doppelrolle als Spieler und Regisseur eingerichtet hat, verliert sich im Partikularen, wenn den einzelnen Grausamkeiten schon schwer zu folgen ist, sie aber das Unbegreifbare einen soll. Jedes Einzelschicksal ist zu viel, sicher. Aber statt loser Aufzählung wäre ein bündigerer Abend, der mehr ist als die Summe seiner Teile, wünschenswert gewesen. Die versprochene szenische Reflexion lässt er vermissen. Man kann in diese Black Box hineinschauen und zuhören. Was dort genau vorgeht, erkennt man nicht. Es bleiben Splitter.
S wie Schädel
"Szenische Reflektion einer ungreifbaren Welt auf Texte von Navid Kermani" von Roberto Ciulli
Regie: Roberto Ciulli, Texte: Navid Kermani, Ausstattung: Elisabeth Strauß, Dramaturgie & Fassung: Stefan Otteni, Sound-Design: Adriana Kocijan, Lichtdesign: Jochen Jahnke
Mit: Eva Mattes, Roberto Ciulli.
Uraufführung beim Kunstfest Weimar am 21. August 2024
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause
Produktion Kunstfest Weimar, Theater an der Ruhr – Mülheim an der Ruhr
www.kunstfest-weimar.de
www.theater-an-der-ruhr.de
Kritikenrundschau
Überaus angetan schreibt Sandra Kegel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (23.8.2024) über "den gelungenen Auftakt des Kunstfestes Weimar" und das Spiel an diesem Abend: "Roberto Ciulli live auf der Bühne zu erleben, wie er sich mit seinem silbernen, hüftlangen Haar so geschmeidig wie traumwandlerisch über die Bühne bewegt, als spielten Kategorien wie Zeit und Alter für ihn keine Rolle, und mit einer Mimik, die mit kleinsten Gesten größte Effekte erzielt – das ist ein Ereignis, wie man es selten erlebt. Dabei nehmen sich in dem von Ciulli inszenierten Abend die beiden Ausnahmedarsteller nichts von ihrer jeweiligen Wirkung."
"Eine Meditation mehr als ein Stück. Ein Lauschen und Achtgeben auf Stimmen und Schicksale aus dieser Welt", das ist dieser Abend, "der aus Text- und Gedankensplittern besteht", für Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (23.8.2024). In den Geschichten von Krieg und Leiden, unterlegt mit einer unbehaglichen Soundcollage, ist "die Kunst der beiden" Spieler*innen "ein Trost".
Verzaubert berichtet Wolfgang Hirsch in der Thüringer Allgemeinen (24.8.2024): "Lauter kleine, fernnervig rhythmisierte Vignetten formen einen lakonisch-melancholischen Reigen von hyperrealer Klarsicht. Kunstfexe glauben, man hätte sie in einen Roy-Andersson-Film gebeamt. (…) In dieser Theaterproduktion ist keine schauspielerische Brillanz vonnöten, umso mehr jedoch die wundervolle Authentizität und Präsenz dieser Beiden – als Menschen auf der Bühne des Lebens. Langer, nicht enden wollender Applaus."
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Angeblich sei das der Wunsch der Künstler gewesen. Das fanden wir wirklich unmöglich.