Was ihr wollt - Alice Buddeberg zeigt Shakespeares Illyrien als identitätsverwirrte Burnout-Gesellschaft
Big Gender Trouble
von Christian Baron
Weimar, 25. April 2014. Welch tragische Schönheit da auf dem kargen Geläuf liegt, reglos und umhüllt von einem Sommerkleid, das mit seinem hellen Rosa die Erkennungsfarbe holder Weiblichkeit zur Schau stellt. Mühsam rafft sie sich nach dem offensichtlich schweren Schiffsunglück auf und hadert mit dem eigenen Schicksal, das sie an die Küste dieses ihr völlig unbekannten Ortes gespült hat. Da taucht die androgyne Maria (famos gespielt von Tobias Schormann) auf, die sich dieser Gestrandeten namens Viola (Katharina Hackhausen) fürsorglich annimmt und ihr sogleich mitteilt, für Frauen sei es auf dieser kleinen Insel namens Illyrien schwer, sich Gehör zu verschaffen.
Keine Frau mehr, aber noch nicht ganz Mann
Keine Frage: Die Genderforschung hätte von der ersten Minute an ihren Spaß an dieser Weimarer "Was ihr wollt"-Inszenierung von Alice Buddeberg. Zumal die Regisseurin bereits zu Beginn in Shakespeares ursprünglichen Plot eingreift und Violas Bruder Sebastian die Havarie nicht überleben lässt. Ein Kniff, der es dem Unfallopfer leichter macht, sich dem Herzog Orsino (Fridolin Sandmeyer) als Sebastian verkleidet anzudienen, womit sie/er das furiose Spiel zwischen flexiblen Geschlechtsidentitäten, feurigen Eitelkeiten und wilden Liebeswirrungen einleitet.
Nervös und mit hängenden Schultern stapft Viola alias Sebastian durch Illyrien, um der Gräfin Olivia (Nora Quest) die Liebeserklärungen jenes Herzogs zu übermitteln. Doch Olivia lassen die Avancen des Herzogs kalt, weil sie in einem rauschhaften Liebeswahn dessen Boten verfällt. Und Olivias Onkel, der cholerische Sir Toby Rülp (Sebastian Nakajew), sähe seine Nichte gerne mit dem jammerlappigen Sir Andrew Leichenwang (Lutz Salzmann) vermählt. Dieser jedoch verknallt sich in Maria, die eigentlich mit Rülp liiert ist.
Auf dem Holzweg der Erkenntnis
Die Inszenierung zieht ihre Unterhaltsamkeit primär aus der grotesken Überzeichnung dieser Konflikte von Identität und Begehren. In einem solchen steckt vor allem Viola; gewiss keine Frau mehr, aber auch noch nicht ganz Mann. Katharina Hackhausen spielt diese gespaltene Persönlichkeit mit einer Eindringlichkeit, die einen bis ins Mark berührt. Mit ihrem zum Zopf gebundenen Haupthaar, der luftabschneidend abgeklebten Oberweite und den viel zu großen Männerhosen wandelt sie permanent Halt suchend und doch nicht findend umher. Ja, noch schlimmer: Als substanzerschütternd erfährt sie das Auf und Ab der Gefühlslagen ihrer Umwelt, die ebenfalls mit beschädigten Identitäten gestraft sind.
Die Bühne unterstützt dieses Bild plastisch; besteht sie doch aus einer zur Mitte hin erhöhten, hufeisenförmigen Holzbahn. Wer auf der einen Seite den Pfad der Erkenntnis hinaufzusteigen glaubt, dem folgt auf der anderen Seite unweigerlich der Abstieg zurück in die Unsicherheit. Wie die Figuren – immer wieder untermalt mit melancholischen Melodien – auf diesem Holzweg mit ihren inneren Konflikten umgehen, sich gegenseitig beharken und dabei letztlich an sich selbst scheitern, das ist im besten Sinne tragisch und komisch zugleich.
Malvolio spielt "Wolf of Wall Street"
Denn allesamt suchen sie nicht etwa die romantische Zweisamkeit. Sie wollen sich vielmehr im Anderen gespiegelt sehen, Liebe heißt bei ihnen Projektion – sie sehnen sich vor allem nach der Komplettierung ihres fragilen Selbst. Keine Figur steht dafür so exemplarisch wie Olivias Haushofmeister Malvolio (Jonas Schlagowsky). Auch er hat seine Herrin ins Herz geschlossen, versteckt dies aber hinter einem pseudodominanten Auftreten, das seinen bizarren Höhepunkt in der Imitation des gorillahaften Auf-Die-Brust-Klopfens findet, wie es der von Leonardo DiCaprio verkörperte Macho in Martin Scorseses Film Wolf of Wall Street unlängst vorgemacht hat.
Malvolio ist der einzige soziale Aufsteiger der Gruppe, und dementsprechend verbissen und rücksichtslos kämpft er um die weitere Verbesserung seiner sozialen Stellung. Vergeblich, denn die Hinterlist der klassenbewussteren Maria, Rülp und Leichenwang spielt ihm übel mit: Das Trio fingiert einen Liebesbrief und Malvolio zwängt sich dem fiktiven Wunsch seiner Sehnsuchtsgespielin entsprechend in knallgelbe Strumpfhosen, um sich zum femininen Krakeeler zu wandeln. Er wird von der erschrockenen Olivia entlassen. Und doch gelangen die Intriganten damit nicht an ihr Ziel, denn die Gräfin kämpft auch dann noch weiter um Sebastian, als sie längst weiß, dass es sich bei diesem in Wahrheit um Viola handelt.
Und Viola? Sie weiß am Ende selbst nicht mehr, wer sie nun eigentlich ist und avanciert zum Sinnbild des überforderten Egos in der psychotischen Burnout-Gesellschaft. Hilfe wird ihr nicht zuteil. Durch ihr Umfeld wird Violas Identitätskrise eher zementiert, wenn sie abwechselnd als Sebastian der Gräfin Olivia eine Selbstbespiegelung schenken muss und im Gewand der Viola dem Herzog Orsino als Projektion dient – was mit und ohne Happy End notwendig für alle im Elend mündet. Eine bedrückende Quintessenz, wie sie wohl nur eine gut inszenierte Shakespeare-Komödie bieten kann.
Was ihr wollt
von William Shakespeare
Deutsch von Thomas Brasch
Regie: Alice Buddeberg, Dramaturgie: Nora Khuon, Bühne: Sandra Rosenstiel, Kostüme: Martina Küster, Musik: Stefan Paul Goetsch.
Mit: Katharina Hackhausen, Sebastian Nakajew, Nora Quest, Fridolin Sandmeyer, Lutz Salzmann, Jonas Schlagowsky, Tobias Schormann.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.nationaltheater-weimar.de
Andere Was ihr wollt-Varianten besprach nachtkritik.de zuletzt in Dresden (R: Andreas Kriegenburg), Pforzheim (R: Murat Yeginer) und München (R: Amelie Niermeyer).
Kritikenrundschau
Karin Fischer schreibt sehr zustimmend auf der Website des Deutschlandfunks (26.4.2014), die Interpretation von Buddeberg knüpfe "konsequent an das Moment der Verrücktheit" an, die "Zustände des Personals" würden noch "zugespitzt" durch Verdichtung. Illyrien sei "eine Mischung aus Anstalt und Kindergarten", die "wortreichen Szenen der Nebenfiguren" würden fast ganz gestrichen und durch "live Songs" ersetzt, die "das Irrewerden an der Liebe" zum Thema hätten. Buddeberg interessiere sich für "den Anteil der Verrücktheit in uns selbst"; für das "Thema Normalität versus Psychose"; und für die Konsequenzen aus einem "so dramatischen Identitätsverlust", wie Viola ihn erlebe.
In der Thüringer Allgemeinen (28.4.2014) berichtet Michael Helbling von den besonderen Umständen dieser Premiere: Die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft feierte ihre ersten 150 Jahre und stellte "fast ein Drittel der Zuschauer" im Haus. Am nächsten Tag habe Regisseurin Buddenberg den ExpertInnen dann noch erklärt, wie sie im Stück die angelegte Identitätskrise "verschärft" habe. Denn bei Buddeberg ende die Komödie, "die zwischendrin groß aufspielt", tragisch. Der Bruder ist tot. "Die traumatisierte Schwester mutiert hinter der Männermaskerade zu ihm." Die Mitglieder der Shakespeare-Gesellschaft hätten sich darüber "kaum weniger entzweit als das übrige Publikum". Helbling selbst mag die Aufführung. Die "offene Anstalt" illyrien komme mit "grellem Komödiantentum zu ihrem Recht, mit bizarrer Melancholie aber auch". Das bestens aufgelegte Ensemble sorge in einer "intelligenten und überraschenden Inszenierung für zwei unterhaltsame Theaterstunden".
Auch Angelika Bohn zeigt sich in der Ostthüringer Zeitung (28.4.2014) von Buddebergs Arbeit überzeugt. Sei dieses Stück je eine Komödie gewesen? Bei Buddeberg jedenfalls nicht. Die Inszenierung greife "Shakespeares Jonglage mit Geschlechtern und Geschlechterrollen auf". Viola sei "der einzige Mensch in diesem Figurenpanoptikum", das "wie Kleinkinder" seine Obsessionen erfüllt sehen wolle. Die anderen Figuren erinnerten "an Blechspielzeug, das man mit einem Schlüssel aufziehen kann". Martina Küster (Kostüme) und Hendrikje Lüttich (Maske) entwickelten eine "konsequente Farbästhetik", die auf schwarz und weiß gründe wie das "Denken der Illyrer". Durchbrochen werde diese Ästhetik, wenn Malvolio "mit in Abu Ghuraib von US-Militärs praktizierten Methoden in den Wahnsinn getrieben wird".
"Völlig überdreht und zu Klamauk verzerrt" habe Alice Buddeberg die romantische Komödie "zu einer trash comedy verunstaltet", konstatiert Wolfgang Hirsch in der Thüringischen Landeszeitung (29.4.2014). Der Abend habe "keinen Rhythmus und zu viel Tempo, wirkt zappelig, allemal albern und fast immer einen Zacken zu weit gedreht". "Die melancholische Note, wie sie im Original etwa der Narr mit seinem Schlussgesang beigibt, wird in der Weimarer Fassung kaum spürbar." Man dürfe sich, "je nachdem, herzhaft amüsieren oder fürchterlich ärgern. Nur Shakespeare zuschreiben darf man das nicht."
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