"Dahingeklatschte Flüchtigkeit!"

7. Mai 2023. Im Sommer wechselt Iris Laufenberg ans Deutsche Theater Berlin. Zum Ende ihrer Grazer Intendanz lässt sie Sandy Lopičić und Hannah Zufall über den Abschied reflektieren. Das Ergebnis: ein Ab- und Lobgesang aufs Ensemble.

Von Reinhard Kriechbaum

 

"Das Ende vom Lied" am Schauspielhaus Graz © Lex Karelly

7. Mai 2023. Es muss nicht gleich ein Grabgesang sein, und von Grabesstimmung schon gar keine Rede. Aber vor dem Aufbruch, zu welchen Ufern auch immer, muss man erst einpacken. Und da kommt's schon vor, dass man bei aller angesagten Betriebsamkeit an manchem Ding räsonierend einhält. "Küchenzeug" steht auf einem Umzugskarton, "Silber-Kram" auf einem anderen. Und, ach ja, "Foto-Alben". Ein pavillonartiges Rondeau sieht aus, als ob einem Gartenhaus das Dach davon geflogen wäre. Dort also wird "Das Ende vom Lied" angestimmt. Mit einem guten, aber gut verkraftbaren Schuss an Melancholie.

"Den Wurstl kann keiner derschlagen", heißt es im Wienerlied, das den Neuanfang (nach dem Krieg) besingt. Aber das wäre nicht die musikalische Linie von Sandy Lopičić, der eher vom Balkansound herkommt und für diesen stil-offenen szenischen Liederabend für jede und jeden im Ensemble zumindest eine passende Nummer gefunden hat. Freddie Mercurys "The Show Must Go On" darf nicht fehlen, aber auch nicht das ein bisserl larmoyante "Our House". Ein anregender Musik-Mix mit kleinen Spielszenen auf Texte von Hannah Zufall, die den Charakteren jeweils auf den Leib geschneidert wirken.

Ende vom Lied 2 LexKarelly uMit Blick in die Zukunft: Fredrik Jan Hofmann (rechts) © Lex Karelly

Warum gerade ein solches Pasticcio am Ende? Iris Laufenberg wechselt ans Deutsche Theater Berlin. Als sie im Herbst 2015 in Graz als Intendantin angetreten ist, hat sie ein fast vollständig "runderneuertes" Ensemble mitgebracht. Die Eröffnungspremiere galt damals Tankred Dorsts Merlin. Die Entwicklung dieser Truppe war aufschlussreich zu beobachten. Gerade in überschaubar kleinen Ensembles an städtischen Theatern passiert es so selten nicht, dass man sich bald satt sieht an den Typen. Das war hier anders. Da hat eine Crew gut zusammenwachsen und Präzision entwickeln dürfen, und zugleich sind Einzelne immer wieder besonders gefordert worden.

Für Kontinuität gesorgt

Iris Laufenberg hat nämlich auch auf Regie-Seite für kontinuierliche Verpflichtungen gesorgt, so dass die jeweiligen Theaterleute das Ensemble und die Optionen einzelner Darsteller gut einschätzen und für sich nutzbar machen konnten. Jan-Christoph Gockel war mehrmals da, hat zu Beginn den "Merlin" inszeniert, später hat sehr unterschiedliche Stoffe umgesetzt: Die Revolution frisst ihre Kinder war ein Bühnen- und zugleich Filmprojekt, ein dokumentarisches Theater über einen politischen Umbruch in Burkina Faso. Zuletzt stellte Gockel in Graz Lars van Triers Hospital der Geister auf die Bühnen-Probe.

Ein anderes Beispiel: die Zusammenarbeit mit dem ungarischen Regisseur András Dömötör. Er hat nicht nur das bilaterale (und -linguale) Projekt "Vigyázat, Szomzéd! – Vorsicht, Nachbar!" umgesetzt, sondern auch ein Stück von Ferdinand Schmalz ("der thermale widerstand") aus der Taufe gehoben und schließlich noch Tschechows "Kirschgarten" und Hiob nach Joseph Roth inszeniert. In den letzten Jahren wurde Anita Vulesica beinah zur "Hausregisseurin". Sie hat Thomas Köcks dritte republik (eine vermessung) und "Garland" von Svenja Viola Bungarten inszeniert, in dieser Spielzeit Die kahle Sängerin von Ionesco. Nicht von ungefähr waren Inszenierungen aus Graz immer heiße Kandidaten für die österreichischen Nestroy-Preise.

Zahlreiche Uraufführungen

Laufenberg hat die Gegenwartsdramatik zu einem ihrer Programmschwerpunkte erhoben. Neben den bereits erwähnten Autor/innen Svenja Viola Bungarten, Thomas Köck und Ferdinand Schmalz brachte sie an ihrem Haus Arbeiten von Caren Jeß oder Clemens Setz heraus. Ein besonderer Fokus lag auf der österreichischen Dramatik. Am allgegenwärtigen Nikolaus Habjan und seinen Puppen führte sowieso kein Weg vorbei. Seine Produktion "Böhm" wurde viel beachtet – nicht nur in der Geburtsstadt des Dirigenten, der sich nicht recht distanzieren wollte von den Nazis). Auch holte Laufenberg das Stück "Faust :: Mein Brustkorb : Mein Helm" des Grazers Werner Schwab fast ein Vierteljahrhundert nach den Produktionen in Potsdam und Schwerin wieder ans Tageslicht.

Ende vom Lied 3 LexKarelly u Schlussbetrachtungen mit Clemens Maria Riegler © Lex Karelly

All das waren also Aufführungen, in denen sich immer wieder die Einsatzbereitschaft des Ensembles bestätigte. Wenn dieses also jetzt als finale Produktion der Intendanz "Das Ende vom Lied" anstimmen darf, ist das nicht zuletzt eine Dankbezeugung der Intendantin. Sandy Lopičić ist auch einer, der immer wieder präsent war, als Bühnenmusiker, aber auch als Regisseur (da hat er bei Dimiter Gotscheff Blut geleckt). Iris Laufenberg hat eben nicht nur Leute "importiert", Lopičić war schon zwei Jahrzehnte vor ihr da. Und im Grazer Ensemble fanden auch Lokalmatadore wie der charismatische Franz Solar oder der immer witzige Rudi Widerhofer Platz, der jetzt als lokale Drag-Queen im Lieder-Medley einen markanten Platz einnimmt.

Reden wie damals

Unbedingt zu nennen: Gerhard Balluch, einer der Doyens seines Fachs in Österreich, ist ja immer noch präsent an dem Haus, dem er seit Menschengedenken angehört. Plötzlich steht er jetzt da, in Sandy Lopičić' drehbühnenbewegten Liederreigen, und mahnt mit Donnerstimme: "Nicht diese dahingeklatschte Flüchtigkeit!" Zwischen Weggeh-Lamento und Aufbruchseuphorie der so viel Jüngeren mahnt er Trauerarbeit an und rezitiert "Mit silbergrauem Dufte" Hofmannsthal. Und er sagt sinnierend: "Ich möchte wieder reden wie damals." Hat ihm das die Textautorin oder Gerhard Balluch es sich selbst in den Mund gelegt? Ein Schelm, der leise Kritik am heutigen Theater heraushörte.

So etwas hat in der finalen Revue jedenfalls genau so Platz wie ein "Lied ans Leben", dem man mit Susanne Konstanze Weber gerne in ein neues solches folgen wollte. Am liebsten mit Balkan-Sound à la "odlazi cirkus". Der Zirkus geht, aber dann heißt es trostreich: "Ein neuer Clown ist sehr schnell gefunden." Im Herbst übernimmt Andrea Vilter die Intendanz.

 

Das Ende vom Lied
von Sandy Lopičić und Hannah Zufall
Regie und Musik: Sandy Lopičić, Text: Hannah Zufall, Bühne: Vibeke Andersen, Kostüme: Christin Treunert, Licht: Viktor Fellegi, Dramaturgie: Karla Mäder, Elisabeth Tropper.
Mit: Gerhard Balluch, Lisa Birke Balzer, Oliver Chomik, Maximiliane Haß, Fredrik Jan Hofmann, Mathias Lodd, Sarah Sophia Meyer, Sebastian Pass, Clemens Maria Riegler, Franz Solar, Lukas Walcher, Susanne Konstanze Weber, Rudi Widerhofer.
Musiker*innen: deeLinde, Sandy Lopičić, Raphael Meinhart, Miloš Milojević, Bernhard Neumaier, Sašenko Prolić.
Premiere am 6. Mai 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

schauspielhaus-graz.buehnen-graz.com

 

Kritikenrundschau

Einem "melancholie-glitzernden Fest" wohnte Ute Baumhackl von der Kleinen Zeitung (6.5.2023) bei. "Der Text von Autorin Hannah Zufall grundiert dabei mit Witz und Würde ein Geschehen, das ohne klassischen Handlungsverlauf von den sozialen, emotionalen und künstlerischen Geflechten eines über Jahre gewachsenen Kollektivs erzählt." Regisseur Sandy Lopičić schreite in der musikalischen Nummernrevue instinktsicher den Grat zwischen Gefühl und Rührseligkeit ab.

"Die eine befreit sich von altem Seelenballast, die andere versucht sich lyrisch auszudrücken. Was auch immer die einzelnen Ensemblemitglieder zu dem Abend beitrugen – das gemeinsame Element der Inszenierung ist die Musik. Und diese trägt die Show von Beginn bis zum Schluss und nimmt das Publikum mit auf eine emotionale Achterbahnfahrt", schreibt Michael Preiner von den European Cultural News (7.5.2023). Die Produktion vermittle zwar viel Wehmut, zugleich aber auch eine große Portion Lebensfreude.

Das Spannende – und oft auch verwirrende – dieses Abends sei, dass die Grenze zwischen Rolle und Schauspieler völlig unklar bleibe, bemerkt Christoph Hartner von der Kronen Zeitung Steiermark (8.5.2023). Der Abend mäandere auf wunderbare Weise "zwischen Humor und Sentimentalität, zwischen Abschied und Neuanfang, zwischen Dramatik und Realität".

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