Der Boxer oder Die zweite Luft des Hans Orsolics - Niklaus Helbling inszeniert das neue Franzobel-Stück im Kasino des Burgtheaters
Das Leben als Kunst
von Kai Krösche
Wien, 19. Februar 2011. "A Wauhnsinn", das sagt er immer wieder, der "Hansi" Orsolics, in breitem Wienerisch, am Ende eines Satzes. "A Wauhnsinn" denkt sich auch der Betrachter am Ende der fast zwei Stunden dieser Inszenierung des neusten Franzobel-Stücks "Der Boxer oder Die zweite Luft des Hans Orsolics" – ein Wahnsinn, daß diese (frei) dramatisierte Biographie eines realen Menschen in all ihrer Wahnwitzigkeit und Überzeichnung am Ende ja eigentlich lediglich überspitzt wirkte, vielleicht aber gar nicht überspitzt war. Denn was da auf der Bühne des Burgtheater Kasinos erzählt wird, ist trotz des ganzen Theaters und trotz aller Kunstgriffe eines Franzobel doch eben genau das: Das Leben des 1947 geborenen österreichischen Profiboxers Hans Orsolics, zumindest, wie es in Büchern geschrieben steht.
Zeitgemäßes Volkstheater auf hohem Niveau
Ein bewegtes Leben, zugegebenermaßen: Schon im frühen Alter begann Orsolics mit dem Boxen – und dem Alkohol; kämpfte sich schneller als jeder andere hinauf zum Europameister, stieg jedoch ebenso schnell wieder hinab, als eine kurz vor einem möglichen WM-Titelkampf erlittene Niederlage seine Karriere von jetzt auf gleich beendete. Es folgten der soziale Abstieg im Suff, Gefängnisaufenthalte aufgrund von Prügeleien und die Verarmung durch über die Jahre angehäufte Schulden, bis ihm in den 80ern ein eigens für ihn geschriebenes und von ihm gesungenes Wienerlied – "Mei potschertes Leben" – den Ausweg aus der Misere brachte.
Das klingt laut, dieses Leben, das klingt vielseitig – und genau so hat es auch Franzobel in seinem Stück gezeichnet: Bunt, schrill, verrückt, ziemlich wienerisch; manchmal comichaft überzeichnet, mit derbem, oft auch albernem Humor, dann, leider manchmal etwas zu selten: still, ernst, nachdenklich, ja sogar auf ganz unsentimentale Weise rührend. Auch, wenn hier die theatralen Mittel vielleicht nichts besonders Neues mehr sind: Das ist immerhin zeitgemäßes Volkstheater auf hohem Niveau, oft auf erfrischende Weise einfach, roh, aber nicht harmlos oder anbiedernd – etwas, das man so nur noch recht selten zu sehen bekommt.
Weshalb Regisseur Niklaus Helbling am Tag vor der Premiere die Regie an Stefan Bachmann abgab, bleibt unklar. In der öffentlichen Verlautbarung des Burgtheaters war lediglich von "inhaltlichen Schwierigkeiten" die Rede, die jedoch in der Inszenierung als solche nicht zu erkennen sind. Sehr wohl jedoch wirkt die Inszenierung vor allem zu Beginn des Abends oft trotz aller eingesetzter Mittel bisweilen unfertig, zusammengestückelt – als fehle ein roter Faden, als seien die (teils guten, teils etwas beliebigen) Inszenierungsideen zusammengewürfelt und noch nicht zu einem Ganzen geformt worden, das ein gern auch heterogenes, brüchiges, aber doch wenigstens auf gewisse Weise schlüssiges Bild ergibt.
Der Wirklichkeit niemals gerecht werden
So sind z.B. die großflächig projizierten Original-Boxkämpfe als allzu einfache Alternative zum Bühnenspiel nicht nur inkonsequent, sondern gar überflüssig – und stehen neben merkwürdigen, aber trotzdem (oder gerade deshalb) inszenatorisch spannenden Szenen wie der mit Geräuschen, Masken und wiederum passenden Projektionen gestalteten Nahtoderfahrung Orsolics' bei seinem Knockout im entscheidenden Kampf: Das ist schon irgendwie ein Durcheinander, wenn auch ein unterhaltsames, eines, das trotzdem überzeugt, weil es, wenn vielleicht auch nicht ganz zu Ende, so doch in eine interessante Richtung gedacht ist.
Und umso spannender wirkt hier auch das Spiel Johannes Krischs als der von einer (etwas zu) gewohnt schelmischen Sarah Viktoria Frick alias "Puck" (die dauerpräsente und nur für Orsolics sichtbare Personifizierung von dessen fremden Stimmen im Kopf) genervte Boxer, der hier auf eine selten gesehen intensive Weise verkörpert wird: Seinen Orsolics zeichnet (oder besser: lebt) Krisch als Getriebenen, auf wunderbare Weise undurchschaubaren, zwiespältigen und gerade deswegen menschlichen Suchenden; trotz aller künstlicher Mittel, die in Helblings Inszenierung und Franzobels Stück immer wieder offen zum Einsatz kommen, schafft es Krisch, den Betrachter vergessen zu lassen, daß es sich hier vor seinen Augen um Schauspiel handelt: Das ist natürlich in seiner Virtuosität großartig.
Vielleicht schon zu virtuos, zu großartig für eine solche Rolle, für ein solches Stück – da löst es dann am Ende doch schon wieder eine gewisse (spannende) Skepsis aus, wenn Krisch/Orsolics da steht und ein kleines bißchen zu schön, zu ergreifend "Mei potschertes Leben" singt; und dann in einem kurzen, bewegenden Schlußmonolog davon erzählt, daß er immer "er selbst" gewesen sei, woraufhin schließlich das Licht ausgeht: Gerade hier, angesichts höchster Perfektion, kommt dann auf einmal das leise Gefühl auf, daß das Theater, daß überhaupt die Kunst einer "Wirklichkeit" niemals gerecht werden kann, egal wie sehr sie sich bemüht – aber daß sie im Dialog mit selbiger umso mehr helfen kann, Wirklichkeiten wenigstens zu erahnen, greifbar zu machen.
Hansi! Hansi! Hansi!
Und so folgt dann auch am Abend der Premiere das eigentliche Ende der Inszenierung, ganz uninszeniert, erst nach dem letzten auf der Bühne gesprochenen Wort: Wenn Johannes Krisch beim Applaus schließlich auf die erste Sitzreihe zugeht und den echten Johannes Orsolics an der Hand auf die Bühne zieht; wenn hier plötzlich diese Dopplung entsteht, die automatisch die Frage stellt, wer denn hier nun wirklich dieser "Orsolics" ist; wenn die Videoleuchten der Presse durch den Saal strahlen, das Publikum nun in Standing Ovations "Hansi, Hansi, Hansi" ruft und sich anschließend der trampelnde Applaus für den Schauspieler Krisch mit der Bewunderung für die Rolle (und dann wieder für den Menschen) Orsolics zu vermischen scheint.
So schön, so klar zeigt sich selten (und vor allem meist unwiederholbar) das Neben-, vor allem das Ineinander von Theater und Leben – a Wauhnsinn.
Der Boxer oder Die zweite Luft des Hans Orsolics
von Franzobel
Regie: Niklaus Helbling, Bühnenbild: Dirk Thiele, Kostüme: Victoria Behr, Musik: Imre Bozoki-Lichtenberger, Moritz Wallmüller, Licht: Norbert Gottwald, Choreographie: Simone Aughterlony, Dramaturgie: Amely Joana, Haag Video: Elke Auer.
Mit: Johannes Krisch, Dietmar König, Peter Wolfsberger, Barbara Petritsch, Sandra Lipp, Sarah Viktoria Frick, Juergen Maurer, Daniel Jesch.
www.burgtheater.at
Der Eindruck Norbert Mayers von der Presse (21.2.2011) "ist durchwachsen". Die Uraufführung von Franzobels Stück habe "zwar in lichten Momenten Punch. Sie wirkte jedoch unfertig." Johannes Krisch in der Rolle des Boxers und Sarah Viktoria Frick als sein dubioser Dämon Puck seien eine "fantastische Besetzung für dieses Melodram", und die Schauspieler verliehen "dem Abend das Besondere, das Stück selbst schwächelt zuweilen. Das ist erstaunlich. Denn dieses Leben ist eine Achterbahn, ein 'Wauhnsinn', ideal für Tragikomödie." Bei Franzobel aber seien "Slapstick, Zoten und komische Figuren vorherrschend, Momente der Reflexion rar". "Der Boxer" wolle "ganz nah rangehen an die Sprache des Milieus, wirkt aber zugleich gespreizt bis barock. Da kann man sich auch Beulen holen."
Bei der Uraufführung von Franzobels "Boxer" sei es darum gegangen, "zwischen tragischem Schicksal und grotesker Komödie die Balance zu halten. Und das ist trotz Probenquerelen geglückt", meint Margarete Affenzeller im Standard (21.2.2011). Den "Franzobel'schen Farcegrundton" greife Regisseur Niklaus Helbling (in der Schlussphase: Stefan Bachmann) auf und führe ihn "bis an die Kasperliade heran". Man sehe "ein Volksstück mit herzhaften Figuren, die in all ihren charakterschwachen Eigentümlichkeiten dem Abend glänzen helfen - über wenige Plattheiten hinweg". Die Inszenierung lebe "weitestgehend von einem versierten Ensemble".
"Am Ende kam die Legende (Boxer Hans Orsolics) selber auf die Bühne, welche von Dirk Thiele in eine vorstädtische Boxhalle mit Nebenschauplätzen verwandelt worden war. Das Premierenpublikum erhob sich zu Ovationen. Da war das Stück schon vergessen." So zählt Helmut Schödel in der Süddeutschen Zeitung (23.2.2011) die Uraufführung dieses "zurechtgezimmert(en)" Franzobel-Stückes kurz und schmerzlos aus.
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Dennoch möchte ich nicht versäumt haben, noch einmal auf die Live-Version von einem Polterabend in Steyr bei youtube zu verweisen, um der Version eines "lebendigen Bildes", das der Nachtkriiker Kai Krösche hier von der unwiederholbaren Premiere gezeichnet hat, gewissermaßen eine "sentimentale" Backgroundschwester anheimzugesellen (das Filmdokument mit all der Kraft dessen, was bei Tarkowskij "Versiegelte Zeit" heißt).
Vielleicht kann nachtkritik de. ja auch diese Version verlinken: ansonsten ist sie freilich leicht selbst aufgerufen..