Spieglein an der Wand

19. November 2023. Burgtheater-Intendant Martin Kušej inszeniert Molières Klassiker über Schein und Sein und Tugendterror als Abbild der Wiener Bussi-Gesellschaft – und lässt sein Champagner-Personal dabei in einen Güllegraben plumsen.

Von Martin Lhotzky

"Der Menschenfeind" am Burgtheater Wien © Matthias Horn

19. November 2023. Wenn der Vorhang in die Höhe geht, ist es erst einmal finster. Im Hintergrund beginnt Itay Tiran im weißen Maßanzug auf einem schwarzen Flügel ernste Musik zu spielen. Nahe der Rampe zieht eine Leichenprozession mit geschultertem Sarg vorbei. Dann senken sich von oben Spiegelwände herab. Die bleiben fast während der gesamten Aufführungsdauer von knapp zwei Stunden da. Und finster bleibt es meist auch. Die Grundstimmung für Molières Komödie von 1666 "Der Menschenfeind" (Originaltitel: "Le Misanthrope ou l’Atrabilaire amoureux" / "Der Menschenfeind oder der verliebte Melancholiker") hat Martin Kušej in seiner Inszenierung am Wiener Burgtheater hiermit also geschaffen, beinahe überbetont: Melancholie im November!

In die Wildnis ziehen? Sicher nicht!

Den Inhalt kennt man: Alceste (Itay Tiran), titelgebender Menschenhasser, weigert sich strikt, sich den gesellschaftlichen Gepflogenheiten anzupassen. Selbst sein – wohl einziger – Freund Philinte (Christoph Luser mit extrem gegeltem Vokuhila-Haarschnitt) kann ihn nicht davon abbringen, allen das, was Alceste für die Wahrheit hält, grob ins Gesicht zu sagen. Kommt zum Beispiel der selbsternannte, buckelnde und speichelleckende Dichter namens Oronte (Markus Meyer hat auch keine bessere Frisur verpasst bekommen) um Alcestes Rat wegen eines Sonettes, wird dieses Gedicht (Titel: Hoffnung), nicht ganz zu Unrecht, in der Luft zerrissen, worauf er Alceste vor Gericht zerrt.

Gegensätze ziehen sich an: Itay Tiran (Alceste), Mavie Hörbiger (Célimène), Christoph Griesser (Bosco) © Matthias Horn

Andererseits bereitet es Alceste große Sorge, dass er in die leichtlebige junge Witwe Célimène (Mavie Hörbiger, in ziemlich freizügiges Schwarz mit langer Schleppe gekleidet) verliebt ist. Es stellt sich heraus, dass sie auch ihn liebt, aber wiederum überhaupt nicht bereit ist, ihren gesellschaftlichen Umgang für ihn aufzugeben. Mit ihm allein in die Wildnis ziehen, wie er ihr vorschlägt? Na, sicher nicht! Die beiden kommen nicht zusammen, Alceste flieht die Szene, beziehungsweise klimpert am Ende wieder tieftraurig im Hintergrund.

Bussi Bussi

Kušej hat da durchaus einige witzige, gar zynische Einfälle zur Umsetzung gefunden. Etwa die Modernisierung – obwohl die Namen der Charaktere unverändert bleiben, unterhalten sie sich launig-sarkastisch über die aktuelle österreichische Politik, trinken Champagner und lästern übers Burgtheater. "Dieser Martin K. hat ja sogar das Burgtheaterdeutsch abschaffen wollen!" So ungefähr. Oder sie sagen etwa, mit der oder dem werden sie nicht einmal mehr telefonieren. Im 17. Jahrhundert soll es dem Vernehmen nach ja noch gar keine Fernsprechapparate gegeben haben.

Auch sonst sind zahlreiche Adaptierungen an den Spielort Wien eingeflossen, nicht zuletzt eine bissige Parodie der Bussi-Bussi-Gesellschaft – gehauchter Wangenkuss links, gehauchter Wangenkuss rechts, auch wenn man mit der abgebusselten Person in Wahrheit nichts zu tun haben will.

Baden in der Güllefalle

Andererseits übertreibt Kušej es auch gewaltig. In der verspiegelten Bühne sieht man nicht nur das Ensemble von vorn und hinten, auch das Publikum kann sich da wiederfinden. Gemurmel dröhnt drohend wie Donnerklang, würde die oft zu vernehmenden Hintergrundgeräusche wohl Reinhard Mey beschreiben. Und ein Riesenaufgebot an Komparserie in jeweils total neuer Kostümierung – vom Begräbnisanzug über die Trachtengruselausstattung bis zum Sado-Maso-Nackedei-Outfit (alles ziemlich überzeugend von Heide Kastler entworfen) – tanzt gefühlt alle zwanzig Minuten zwischen den Spiegelwänden wild herum. Da kann sich selbst Alceste einmal nicht erwehren, seine Beine mitzuschwingen.

Der Menschenfeind 2 Matthias HornIn der (überstrapazierten) Grube: Itay Tiran, daneben Christoph Luser © Matthias Horn

Ein paar Mal ist es schon lustig, wenn beinahe alle auf der Bühne über den kleinen Wassergraben – soll übrigens eigentlich ein "Gülle"graben sein – stolpern und hineinplatschen. Während der Szene, in der Alceste Célimène mit von ihr verfassten Schmähbriefen (nicht nur über ihn, auch über andere ihrer Verehrer, mit denen sie kokettiert) konfrontiert, badet er gleichsam im Schlamm. Aber mit dieser Ausdauer ist jene Güllefalle dann doch arg strapaziert und erinnert zu stark an Schmierentheater.

Am Premierenabend war dennoch hohe Zufriedenheit beim Publikum zu bemerken, und während zum Beispiel der Kritiker sich schon seine Garderobe abholte, donnerte im Hintergrund weiter heftiger Applaus. Es sei dem Ensemble und dem Team des Abends gegönnt.

Der Menschenfeind
von Molière
Aus dem Französischen von Hans Magnus Enzensberger
Regie: Martin Kušej, Bühne: Martin Zehetgruber, Stephanie Wagner (Mitarbeit), Kostüme: Heide Kastler, Musik: Bert Wrede, Licht: Reinhard Traub, Dramaturgie: Anika Steinhoff
Mit: Christoph Griesser, Alexandra Henkel, Mavie Hörbiger, Hans Dieter Knebel, Christoph Luser, Markus Meyer, Itay Tiran, Tilman Tuppy, Lukas Vogelsang, Lili Winderlich u. v. a.
Premiere am 18. November 2023
Dauer: 1 Stunde 55 Minuten, keine Pause

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau

Thomas Kramar von der Presse (19.11.2023) sah wunderbare Schauspieler*innen. "Allen voran Itay Tiran: Er wirkt für den Alceste fast zu jung und zu sympathisch, doch der Aufwand, den er treibt, um auch das Verquälte in diesem zu zeichnen – etwa durch emsige Hände an den Schläfen (Kopfweh!) –, zahlt sich aus." Mavie Hörbiger spiele bis in die kleinste Geste brillant. "Tilman Tuppy und Lukas Vogelsang sind zwei virtuos pikierte Höflinge, Markus Meyer ein eleganter Dichterling Oronte, dem man abnimmt, dass ihn die vernichtende Kritik seiner Poesie durch Alceste in seinem grazilen Wesen erschüttert."

Kušej inszeniere den "Menschenfeind" als düstere, abgründige Untergangskomödie, schreibt Wolfgang Kralicek  von der Süddeutschen Zeitung (19.11.2023). Die selbstreferenziellen Gags hätten auch etwas Eitles an sich. Es stelle sich die Frage, ob Kušej der Wiener Society auch eine ganz persönliche Botschaft habe übermitteln wollen. "Identifiziert er sich mit dem Menschenfeind, der mit seiner kompromisslosen Haltung gegen Wände läuft? Zeigt er Politik und Presse, von denen er sich ungerecht behandelt fühlt, den Stinkefinger? Für diese Lesart spricht der Umstand, dass Itay Tiran den Alceste als verbitterten, aber ungebrochenen Kämpfer interpretiert - und nicht etwa als den Tugendterroristen, den man in der Figur ja auch sehen könnte."

Ronald Pohl vom Standard (19.11.2023) beantwortet diesen Frage sehr klar. Er entnimmt der Inszenierung folgende Botschaft: "Ich, Martin Kušej, habe es immer schon gewusst. Bin selbst Prophet im eigenen Land. Bin Euer Menschenfeind." Dafür setzte es viel freundlichen Applaus. Kušej sei allerdings viel zu sehr damit beschäftigt, den eigenen, monumentalen Bildideen hinterherzustelzen. "Ein kleines Heer von Komparsinnen und Komparsen darf im Takt des Populismus wippen. Die Luster brennen. Die Republik tanzt, mehr oder minder volkstümlich bekleidet, pfeilgerade in den Abgrund. Das ist grob schematisch gedacht - und geradezu simplizistisch inszeniert."

Kušej halte seinem Publikum den Spiegel vor. Und Martin Zehetgruber hebe ihm dafür ein geniales Spiegelkabinett im Riesenformat gebaut, schreibt ein auch sonst angetaner Thomas Trenkler vom Kurier (19.11.2023). Eindrucksvolle Bilder seien zu bestaunen. Und der Regisseur mache tatsächlich Komödie. "Wäre schade, wenn man Kušej hier nicht wieder sehen würde."

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