Lieben lernen

6. September 2023. Regisseurin Lilja Rupprecht findet einen humorvollen Zugang zu Fassbinders Drama über eine emotional zerrüttete Frau. Und überrascht mit einem Ende, das Filmkenner überrascht.

Von Andrea Heinz

"Die bitteren Tränen der Petra von Kant" am Burgtheater © Matthias Horn

6. September 2023. Es ist eine sehr deutsche Geschichte, die in "Die bitteren Tränen der Petra von Kant" erzählt wird – genauer eine der deutschen Nachkriegszeit, wurde Rainer Werner Fassbinder doch just 1945 geboren. Als er am 31. Mai auf die Welt kam, hatte Deutschland bereits kapituliert. Noch recht vital waren aber die ganzen verheerenden Überreste von Kälte, Disziplin und schwarzer Pädagogik.

Prägend und noch bis 1987 herausgegeben war die Erziehungsfibel "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind", die einen lieblosen, harten und geradezu feindseligen Erziehungsstil propagierte. Das ist der Ungeist, der die Beziehungen in Fassbinders Stücken und Filmen vergiftet, und so auch hier: Petra von Kant ist getrieben von Ehrgeiz und dem Zwang, etwas erreichen und leisten zu müssen, Liebe verwechselt sie mit Besitz und degradiert sie zu einer weiteren Möglichkeit, Bestätigung zu bekommen. Die Idee, um ihrer selbst Willen geliebt werden zu können, ist ihr denkbar fremd.

Cholerisch und gefallsüchtig

Dörte Lyssewski ist in Lilja Rupprechts Inszenierung am Wiener Akademietheater das Kraftzentrum: Ihre Petra von Kant oszilliert geschmeidig von souverän zu abgebrüht, von einer herrisch ihre Dienerin Marlene (Annamária Láng) herumkommandierenden Chefin zu einer unsicheren und abhängigen Künstlerin, die gefallen möchte. Nina Siewert ist als Karin Thimm der perfekte Gegenpol: Jung und aus zerrütteten Familienverhältnissen (der trinkende Vater hat die Mutter erstochen und sich dann erhängt), ist sie sprunghaft und leichtsinnig, lässt sich von der rasch und heftig verliebten Petra aushalten und kehrt bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit zu ihrem Ehemann zurück.

DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANTvon Rainer Werner FassbinderPremiere am 5. September 2023 im AkademietheaterPetra von Kant: Dörte LyssewskiKarin Thimm, ihre Liebe: Nina SiewertMarlene, ihre Bedienstete: Annamária LangValerie von Kant, ihre Mutter: Norman HackerGabriele von Kant, ihre Tochter: Safira RobensSidonie von Grasenabb, ihre Freundin: Stefanie DvorakLive-Musik: Viktoria MezovskyRegie: Lilja RupprechtBühnenbild: Anne EhrlichKostüme: Annelies VanlaereVideo: Moritz GrewenigMusik: Philipp RohmerLicht: Norbert PillerDramaturgie: Anika SteinhoffLiebe ist gefährlich: Dörte Lyssewski © Matthias Horn

Übrig bleibt eine am Boden zerstörte Petra von Kant, die an ihrem Geburtstag schließlich völlig die Fassung verliert: Die anhängliche Tochter Gabriele (Safira Robens), die falsche Freundin Sidonie von Grasenabb (Stefanie Dvorak) und die ambivalente Mutter Valerie von Kant (Norman Hacker), die mitsamt Torte erscheinen, lässt Rupprecht mit Pappmasken so deformiert erscheinen, wie die Truppe tatsächlich ist. Kein Wunder, dass das Geburtstagskind endgültig die Nerven wegschmeißt.

Bei Martin Kušej ging es ernster zu

Hier wie auch schon zuvor findet Rupprecht (anders als Martin Kušej in seiner ikonischen, aber halt auch recht ernsten, kraftmeierischen Inszenierung am Münchner Residenztheater) einen leichten, teilweise fast humorvollen Zugang zum schweren, hoch psychologischen Stoff – unterstützt durch die Live-Musik (Viktoria Mezovsky /Jessica Choma), die böse Wortgefechte zwischen Petra und Karin schon mal mit perlenden Klavierklängen unterlegt.

Weil von Kant Modedesignerin ist, erzählen natürlich auch die Kostüme (Annelies Vanlaere) ihre eigene Geschichte. Vom Powerdress, das die Schulterpartie krass überzeichnet und den Schritt bis auf's Höschen frei gibt, über das hyperweibliche rote Spitzenkleid bis zu Baggy-Jeans und weißen T-Shirts: Die mit Schlachthausfliesen vertäfelte Wohnung (Bühne: Anne Ehrlich) wird, unterstützt von einer Live-Kamera, immer wieder zum Laufsteg, auch Schaufensterpuppen dürfen nicht fehlen.

DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANTvon Rainer Werner FassbinderPremiere am 5. September 2023 im AkademietheaterPetra von Kant: Dörte LyssewskiKarin Thimm, ihre Liebe: Nina SiewertMarlene, ihre Bedienstete: Annamária LangValerie von Kant, ihre Mutter: Norman HackerGabriele von Kant, ihre Tochter: Safira RobensSidonie von Grasenabb, ihre Freundin: Stefanie DvorakLive-Musik: Viktoria MezovskyRegie: Lilja RupprechtBühnenbild: Anne EhrlichKostüme: Annelies VanlaereVideo: Moritz GrewenigMusik: Philipp RohmerLicht: Norbert PillerDramaturgie: Anika SteinhoffKommunikation fällt ihnen schwer: Stefanie Dvorak, Norman Hacker, Annamária Lang, Viktoria Mezovsky, Dörte Lyssewski
© Matthias Horn

Das bleibt über mehr als zwei Stunden fesselnd und kurzweilig, was vor allem an dem brillanten Zusammenspiel des Ensembles liegt. Auch das im letzten Drittel eingefügte Gespräch einer Journalistin (Stefanie Dvorak) mit Fassbinder (Norman Hacker), ein Zusammenschnitt zweier realer Interviews mit dem Regisseur, sorgt für Spannung und Lacher. Es zeigt aber auch, wie wenig Rupprecht ihrem Stoff zuzutrauen scheint: Sie ergänzt ihn nicht nur mit den Interviewpassagen, sondern auch mit einem Zitat aus bell hooks' 2021 auf Deutsch erschienenem Essay "Alles über Liebe – Neue Sichtweisen".

Alternatives Ende

Fürs Ende (das im Film mit der plötzlichen Läuterung von Kants etwas abrupt geraten ist) kehrt Rupprecht zum geschriebenen Original zurück: Nachdem Petra von Kant der gedemütigten Dienerin Marlene die Freundschaft anbietet und sich entschuldigt, verlässt diese nicht einfach wortlos den Raum, sondern hebt an, zu sprechen – wobei man freilich nicht erfährt, was sie zu sagen hat. Gebraucht hätte es das alles nicht. Als Reflexion über die (Un-)Möglichkeit, zu lieben, funktioniert der Abend auch so.



Anmerkung der Redaktion: Zum Schluss der Inszenierung enthielt dieser Artikel ursprünglich eine falsche Information, die am 8. September um 11:15 korrigiert wurde.

Die bitteren Tränen der Petra von Kant
von Rainer Werner Fassbinder
Regie: Lilja Rupprecht, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Annelies Vanlaere, Video: Moritz Grewenig, Musik: Philipp Rohmer, Licht: Norbert Piller, Dramaturgie: Anika Steinhoff.
Mit: Dörte Lyssewski, Nina Siewert, Annamária Láng, Norman Hacker, Safira Robens, Stefanie Dvorak, Viktoria Mezovsky/Jessica Choma.
Premiere am 5. September im Wiener Akademietheater.
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau

"Die Figuren werden plastisch genug, doch ist mit ihnen nichts anzufangen", konstatiert Margarete Affenzeller im Standard (6.9.2023). "Kapitalistische Strukturen in Beziehungen oder das Instrumentalisieren von Macht – sie sind wesentliche Themen in Fassbinders Stück, es gelingt hier aber nicht, dafür Interesse zu wecken. Die Inszenierung findet keinen Weg, für den Stoff einzustehen. Das Aussperren jeder Gegenwart hat eben seinen Preis. Alles wirkt wie ein Gruß aus den 1970ern, fehlt nur noch der Flokati."

Mattes "Bemühen" um Aktualität attestiert Norbert Mayer von der Presse (7.9.2023) der Regie dieses Abends. Die "Sprachlosigkeit" der "Randfigur" Marlene "zählt zu den zwei besten unter vielen schrecklich langatmigen Szenen. Noch besser ist nur das ins ursprüngliche Stück eingezogene Gespräch, das Dvorak als Reporterin mit Hacker als Fassbinder unter Zuhilfenahme von Zitaten aus authentischen Interviews führt. Dieses Parlando hat Witz. Der Rest aber ist Selbstmitleid und Kitsch, all der Sprachmüll, wie man ihn zu fortgeschrittener Stunde am Würstelstand erlebt."

"Dörte Lyssewski legt Petra von Kant fast schon manisch-depressiv an, Nina Siewert ihre Karin anfangs naiv, dann provokant-boshaft. Überzeugend, beide. Dennoch will nicht wirklich Mitgefühl für Petra aufkommen. Fassbinders Stück wirkt mittlerweile, selbst in Rupprechts teils genderfluider Inszenierung, altbacken", schreibt Martin Lhotzky von der FAZ (12.9.2023).

Kommentare  
Petra von Kant, Wien: Das Ende
Liebe Andrea Heinz, Ihnen ist eine kleine Ungenauigkeit unterlaufen, die deshalb erwähnenswert ist, weil sie Sie zu einer falschen Bewertung verführt. Fassbinders Stück, das bekanntlich VOR seinem Film da war, endet mit der Regieanweisung „Sie setzen sich“ und Petras Aufforderung an Marlene „Erzähl mir aus Deinem Leben.“ Insofern gibt es in Lilja Rupprechts Inszenierung kein um- oder gar fehlgedeutetes Ende, das der Autor „so nicht gewollt hätte“, er hat es nämlich geschrieben. Viele Grüße, Annette Reschke, Verlag der Autoren.

(Anm. Redaktion: Vielen Dank, liebe Annette Reschke, wir haben eine Korrektur eingefügt, die den Bezug zum Film herstellt.)
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