Die Mörderclowns der Popkultur

11. November 2023. Peter Handkes Stück handelt von der totalitären Zurichtung des Einzelnen durch die Sprache und wurde 1968 uraufgeführt. Damals waren die Seelen noch stark durch die Nazisprache formatiert. Was hat der Text uns heute noch zu sagen? Jetzt, wo alles wieder los- oder immer noch weitergeht.

Von Gabi Hift

"Kaspar" von Peter Handke am Burgtheater in Wien © Susanne Hassler-Smith

11. November 2023. Die Premiere von Peter Handkes "Kaspar" im legendären Mai 1968 war heiß umkämpft. Fürs Feuilleton war Handke, "der fünfte Beatle", das Gesicht der Revolte an der Kunstfront. Einem Teil der APO galt er hingegen als Verräter, als zu bekämpfender Ästhet der Innerlichkeit.

Am 11. Mai 1968 zog der "Sternmarsch" der APO nach Bonn, um gegen die Notstandsgesetze zu demonstrieren. An vorderster Front der junge Claus Peymann und sein Ensemble – die nach der Demo direkt auf die Bühne des Frankfurter TAT zur Premiere von "Kaspar" wechselten. Und zwar gegen die protestierenden Teile der Genoss*innen, es gehe nur um Sprache statt um die materiellen Verhältnisse. Denn Handke wurde die schlimmste Sünde vorgeworfen: die des Idealismus. Aber dann konnten sie im Theater genau das erleben, wogegen sie gerade auf die Straße gegangen waren: wie einer durch autoritäre Sprache unterdrückt, seine Persönlichkeit zerstört wird. 

So nämlich geht Entfremdung

Kaspar, frei nach Kaspar Hauser, ist ein "Wilder", der fern von jeder Zivilisation aufgewachsen ist und nur einen einzigen Satz sagen kann. Von anonymen Stimmen, den Einsagern, wird er zum konformen Sprechen erzogen. Bis er am Ende zerbricht und nur noch "Ziegen und Affen" wiederholt – jenen wirren Satz, mit dem Othello abgeht, nachdem ihm der böse Einsager Jago den Glauben an sich selbst zerstörte. Handke nennt das Sprechfolter. Damals konnte man darin die immer noch gegenwärtige verhasste autoritäre Sprache Nazideutschland wiedererkennen; im gebrochenen Kaspar jene von Marx beschriebene "Entfremdung", die trotz Demokratie die Luft zum Atmen nimmt.

Wie kann dieses Stück heute aussehen, 55 Jahre später? Die 1968er sind ängst in Rente, Handke, der Bürgerschreck von einst, inzwischen nobelbepreist und schrecklich entgleist bei seinem Versuch, das Land der Dichtung zu verlassen und sich zu politischen Verhältnissen zu äußern. Ist auch seine damalige Kritik von der Geschichte überholt?

Der US-amerikanische Regisseur Daniel Kramer steht nicht für strenge Form, sondern für Überbordendes, für große Oper, opulente Bilder und wilde Gefühle; sein Kostümbildner, der bildende Künstler Shalva Nikvashvili, für offensiv queere Ästhetic an der Grenze von Horror, Porn und Groteske. Was werden sie mit Handkes abstrakter, sprachkritischer Versuchsanordnung anfangen?

Im Horrortraumuniversum © Susanne Hassler-Smith

Zu Beginn sieht man auf einer leeren schwarzen Bühne eine meterhohe Kreidetafel voll mit Strichlisten. Ist es ein Kerker, aus dem kürzlich einer entkommen ist? Ein Klassenzimmer in der Hölle? Von der Decke weht ein durchsichtiger Plastikschlauch, drin erscheint etwas Riesiges, Haariges, wälzt sich hinunter zum Boden, ein Affenmonster, nein, da hebt sich noch ein Bein, und noch eins, eine grauenerregende Kreatur, halb Spinne, halb King Kong, mit fetter rosiger Spalte, Vulva oder Pavianhintern? An einer Stelle zerreißt das Fell, ein Menschenmund stößt heraus: "Ich möcht ein solcher werden wie einmal ein andrer gewesen ist."

Stück für Stück herausgeschnitten

Von da an entfaltet sich ein gigantisches, hollywoodreifes Horrortraumuniversum, schwül, düster, körperlich und kinky. Und doch steigen alle Bilder direkt aus der Handke‘schen Sprache auf. Die Einsager fahren zu viert in einem Light Strike Vehicle auf die Bühne, umkreisen das Monster und blenden es mit grellen Scheinwerfern. Sie tragen schwarze Latexkutten und latexüberzogene Gasmasken, durch die sie wie Hunde an ihm schnüffeln.

Während sie dem Monster die ersten Sätze beibringen, schälen sie Stück für Stück den üppigen, rosigen Körper von Marcel Heupermann aus dem Fell, der von Angst ebenso gebannt scheint wie von lustvollen Gefühlen. Die letzten Teile schneiden sie ihm mit einer Kettensäge vom Leib. Er wird berührt, gewaschen, gepudert, als Baby eingekleidet und in der Luft erklingt: "Sweet dreams are made of this. Some of them want to use you, some of them want to be abused." Marcel Heupermann klatscht mit gestreckten Armen in die Hände, schmiert sich seine Exkremente ins Babymaskengesicht, um sogleich dazu erzogen zu werden, das nicht mehr zu tun.

Unausweichliche Logik

In der nächsten Phase lernt er, nun ein junger Mann im silbernen Kniebundanzug mit Rüschen, die Grammatik. Die Einsager drillen ihn mit Beispielsätzen und Kaspar führt dies zu Anfang ad absurdum, indem er die grammatische Konstruktion richtig anwendet, aber unsinnige Kombinationen findet. Erst mit der Zeit übernimmt er die scheinbar unausweichliche Logik der gesellschaftlichen Konvention und unterwirft sich. Als er angepasst ist, erscheinen bei Handke weitere Kaspare, alle genau gleich angezogen wie er.

Daraus entwickelt Kramer eine großartige und entsetzliche Szene, die über Handke hinausgeht. Kaspar, jetzt ein gewöhnlicher junger Mann, kommt nach der Arbeit nach Hause in seine Einzimmerwohnung. Er hat ein Paket dabei, das er zunächst nicht auspackt. Er zieht sich um, duscht, zieht einen Jogginganzug an, isst eine Kleinigkeit, zappt sich durchs Fernsehprogramm. Schon bald erscheint ein zweiter Kaspar, der genau die gleichen Vorgänge durchläuft, dann ein dritter, vierter und fünfter. 

Hier sind sie, wie Shalva Nikvashvili sie schuf: die Mörderclowns der Popkultur © Susanne Hassler-Smith

Die Abläufe sind so choreographiert, dass die Fünf niemals zusammenstoßen. Diese verfünfachte alltägliche Szene ähnelt sehr dem stummen Stück "Wunschkonzert" von Franz-Xaver Kroetz, das bald nach "Kaspar" die brutale Einsamkeit des Menschen im Kapitalismus gezeigt hat. Durch die Multiplikation ist die Wirkung hier noch stärker.

Der intensivste Moment ist, als zwei männliche Kaspare nackt in der winzigen Duschkabine stehen. Einmal streckt einer die Hand aus und man denkt, jetzt werde er den anderen endlich berühren. Aber er greift nur nach der Seife. Am Ende nehmen alle Pillen, genau wie in "Wunschkonzert". Nur der ursprüngliche Kaspar öffnet das Paket, entnimmt ihm eine Maschinenpistole und geht hinaus. Während die Kasparklone unter Krämpfen verrecken, fällt der Eiserne Vorhang. Handkes Sätze von Kaspars endgültiger Unterwerfung werden darauf projiziert.

Was vom Dressurakt übrigblieb

Vor dem Vorhang erscheinen nun die vier, die einmal Einsager waren, dann Kasparklone, in fantastisch glamourösen glitzernden Harlekinkostümen. Sie können nicht mehr sprechen, sie sind das Verdorbene, der ästhetische Abfall, der bei dem Dressurakt übrig blieb. Das Bild schlägt einen Bogen von Oskar Schlemmers Triadischem Ballett über Niki de St. Phalle zu den Mörderclowns der Popkultur. Und es ist ein Schlag ins Gesicht der Zuschauer:innen. Denn während man noch baff ist vor soviel Schönheit, die einem direkt vor den Augen tanzt, wird einem der Genuss gleichzeitig unmöglich gemacht, weil man gerade vier Menschen an tödlicher Einsamkeit krepieren sah.

Als der Eiserne sich wieder öffnet, sitzt Kaspar am Schminktisch – und mitten im Raum steht eine Atombombe. Während Kaspar seinen letzten Monolog spricht, der mit dem Zusammenbruch seiner Identität endigt – "Ziegen und Affen! Ziegen Und Affen!", beginnt das rote Licht an der Bombe zu blinken – sie ist abwurfbereit. Und das Stück ist zu Ende.

Doch gegen dieses Ende empört sich etwas in einem. Was bis zur Mitte so bedrückend folgerichtig wirkte, was auch noch den kollektiven Selbstmord der Klone logisch scheinen ließ, wirkt jetzt falsch. Da fehlt doch was! Wodurch ist Kaspar so zugerichtet worden, dass er jetzt bereit sein soll, eine Atombombe zu zünden?

Jenseits aller Zurichtung

Kramer und Nikvashvili haben mit dieser sehr sinnlichen Inszenierung Handke vom Kopf auf die Füße gestellt. Sie haben die Körper ins Spiel gebracht, die trotz aller Zurichtung doch reale Bedürfnisse haben, nach Nähe, Sex, Nahrung, Wärme, Arbeit. Und die sich doch eigentlich gegen die Gewalt wehren müssten – lang bevor sie zur Atombombe greifen. Das alles existiert in der Welt von Handkes Stück noch nicht, und so entsteht am Ende der Eindruck, dass die APO-Demonstranten vor fünfundfünfzig Jahren vielleicht nicht ganz unrecht hatten, als sie ihm weltfremden Idealismus vorwarfen. Dass man, um das System zu ändern, tiefer über die Machtverhältnisse in der Gesellschaft nachdenken muss, als reine Sprachkritik sich träumen lässt. Auch, weil heute der Anpassungsdruck durch viel subtilere Mechanismen als damals funktioniert.

Und gerade das: dass man sich am Ende auflehnt gegen das Gesehene, macht diese ästhetisch begeisternde Aufführung auch gedanklich zu einem Ereignis.

Kaspar
von Peter Handke
Regie: Daniel Kramer, Mitarbeit Regie: Mitchell Polonsky, Bühnenbild: Annette Murschetz, Kostüme: Shalva Nikvashvili, Musik: Tei Blow, Choreographie: Pandora Nox, Licht: Marcus Loran, Dramaturgie: Stephan Müller, Videodesign: Johannes Traun
Mit: Marcel Heuperman, Laura Balzer, Stefanie Dvorak, Jonas Hackmann, Markus Scheumann
Premiere am 10. November 2023
Dauer: 1 Stunde 55 Minuten, keine Pause

www. burgtheater.at


Kritikenrundschau

Eine "bildstarke Neuinszenierung" hat Margarete Affenzeller gesehen, einen "dichten, trotz vieler Kürzungen unnachgiebigen Abend". Affenzeller schreibt in Der Standard (13.11.2023): Besonders in unvorhergesehenen Wechseln und in ureigenen Bildmischungen gelinge es dem Zweistünder zu überraschen.

"Für das Publikum ist 'Kaspar' zwar keine leichte Kost, aber die exakt konzipierte und durchgeführte mehrstimmige Sprachpartitur bereitet immer wieder auch Vergnügen", schreibt Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (13.11.2023). In Daniel Kramers Inszenierung spielten die von Shalva Nikvashvili entworfenen Kostüme eine tragende Rolle. Die Inszenierung stelle den Kaspar als Monster da und finde für den zweiten Teil eine "überraschende Lösung".

"Wenn Daniel Kramers überaus opulente Inszenierung von Handkes 'Kaspar' nach zwei Stunden endlich in diesen Wörtern mündet, hat man viel gehört und noch mehr gesehen: eine Flut von Bildern, die oft nur wenig mit dem Text zu tun haben", schreibt Thomas Kramar in Die Presse (13.11.2023). "Gewiss, Handkes Text wird gesprochen, gekürzt natürlich, aber unverfälscht. Doch die Bilder, die Gegenstände reden ihm ständig drein. Sie illustrieren, was nicht illustriert werden müsste."

Kommentare  
Kaspar, Wien: Theaterdampf
Mit Verlaub , aber da braucht es ein kleines bisschen mehr, als dass diese belanglose Theaterdampf-Aufführung ein ästhetisch und gedanklich begeisternder Abend sein soll .
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