Inferno zum Abschied

24. März 2024. Martin Kušej verabschiedet sich aus der Direktion des Burgtheaters Wien. Mit hartem Südstaatenstoff von Tennessee Williams und erstklassiger Musik. Die ganze Breite des Burg-Ensembles wird in "Orpheus steigt herab" aufgeboten, die Zeichen stehen auf Schauspielfest, und Kušej entzündet die Fackeln.

Von Andrea Heinz

Tennessee Williams' "Orpheus steigt herab" in der Regie von Martin Kušej am Burgtheater Wien © Matthias Horn

24. März 2024. Die letzte Inszenierung von Martin Kušej als Burgtheater-Direktor, sie beginnt natürlich bombastisch: Video-animierte Flammen züngeln das einstöckige Gebäude auf der Drehbühne hinauf, ein Inferno.

Es ist das Feuer, das bereits vor Beginn der Handlung in Tennessee Williams' "Orpheus steigt herab" das Leben von Lady Torrance (Lisa Wagner) zerstört: Ihr späterer Ehemann Jabe und die anderen aus dem Ort zündeten den Obstgarten ihres italienisch-stämmigen Vaters, eines Schwarzbrenners, an – und ihn selbst gleich mit. Alle wissen das, nur Lady nicht. Sie wurde daraufhin von David, ihrer Jugendliebe, verlassen und trieb sein Kind ab. Das wiederum weiß niemand. Jabe, so heißt es, hat seine Frau gekauft, und das auch noch billig.

Bigotterie in den Südstaaten

Nun aber steigt, wie es im Titel heißt, Orpheus herab: Val (Tim Werths), ein Musiker in Schlangenlederjacke, der dem Party-Leben abgeschworen hat und ganz grundsätzlich mit der Falschheit und den Lügen der "normalen" Menschen wenig anfangen kann. Der sich nicht kaufen und benutzen lassen will. Das wird natürlich schwierig.

Bei Kušej ist der Südstaaten-Gemischtwarenladen, den Lady und Jabe betreiben, eine Ansammlung heruntergekommener Räume mit altmodischen Tapeten und kargem Mobiliar. Die Zimmer im ersten Stock haben keine Decke, sie enden wie abgerissen im Nichts. Ein Auto, in dem eine einzige Szene spielen wird, steht hochkant auf der Bühne herum.

Orpheus steigt herab 2 c Matthias HornLady und ihr Gitarrengott: Lisa Wagner und Tim Werths © Matthias Horn

Hier trifft sich das tumbe, bigotte Figurenpersonal, das bereits zu Beginn mit aufgepflanztem Gewehr und aggressiven Posen wie in einem Musikvideo im Feuerschein posierte: Die fanatisch religiöse Vee (Sarah Viktoria Frick), die ihre Visionen auf mutmaßlich schlechten Gemälden bannt. Ihr Ehemann, Sheriff Talbott (Norman Hacker), der seine Frau Mama nennt und sein Amt, oder was er dafür hält, mit kalter Brutalität ausübt. Sein Scherge Dog Hamma (Rainer Galke), die geschwätzige Beulah (Katharina Pichler), Dolly Hamma mit ihrem Gewehr und Schwester Porter (beide Alexandra Henkel). Die ist nötig, weil Jabe (Martin Reinke) nach einer Operation im Sterben liegt. Vee hat deshalb Val angeschleppt, um im Gemischtwarenladen als Aushilfe zu arbeiten.

Ankunft des Schlangenleder-Messias

Tatsächlich aber mutiert der Schlangenleder-Messias quasi augenblicklich zur Projektionsfläche: Für die lebensgierige junge Carol (Nina Siewert), die den angepassten Dorfleuten den Spiegel vorhalten will, weshalb sie von ihrem Bruder, Ladys Jugendliebe David (Wolfram Rupperti), bezahlt wird, um sich fernzuhalten. Für Vee, hinter deren religiösem Wahn doch eine gewisse Fleischeslust steckt. Und vor allem für Lady, die in Val endlich den Retter sieht, der sie aus ihrem elenden Leben herausholt. Es kann nur schiefgehen.

Orpheus steigt herab 5 c Matthias HornGanz unten: Norman Hacker als Sheriff und Tim Werths als Musiker Val © Matthias Horn

Kušej zeigt das mit gewohnt großer Geste als schicksalhafte Allegorie auf unsere Gegenwart, die mit Fremden auch nicht sehr viel netter umgeht als der Lynchmob im Stück. Um das noch zusätzlich zu untermauern, tritt zwischen den Szenen immer wieder Musiker Oliver Welter, bekannt vor allem mit der Band Naked Lunch, als weißgeschminkter Südstaaten-Prophet auf. Auch Tim Werths greift in den unpassendsten Momenten zu seiner Klampfe und stimmt (gar nicht schlecht!) ein Liedchen an – behauptet doch seine Figur Val, die Gitarre sei: "Meine Lebensgefährtin! Sie wäscht mich rein, wie Wasser, wenn etwas Unreines mich berührt hat..."

Das letzte Feuer

Wirklich fesseln kann der mit fast drei Stunden eindeutig zu lange Abend über weite Strecken nicht, vieles bleibt schwerfällig und trotz großzügigen Einsatzes von Kunstblut wenig glaubhaft. Zu schablonenhaft sind die Figuren gezeichnet, als dass man ihre Verzweiflung, ihre Leidenschaft glauben könnte oder gar die Notwendigkeit für einen Erlöser, wie Val einer sein soll. Aber vor allem eine starke Lisa Wagner als im Schmerz hart gewordene, spröde Lady und Tim Werths als zutiefst integrer Idealist überzeugen. Und als Jabe Lady mit bösartiger Genugtuung erzählt, dass er dabei war, als ihr Vater ermordet wurde, hält sogar das unruhige, ununterbrochen nervös hüstelnde Publikum kurz mal den Atem an.

Am Ende, wie sollte es anders sein, geht alles endgültig in Flammen auf. Aber für eine wirklich triumphale Abschiedsinszenierung reicht das dann doch nicht.

 

Orpheus steigt herab
von Tennessee Williams
Deutsch von Wolf Christian Schröder
Regie: Martin Kušej, Bühne: Annette Murschetz, Kostüme: Heidi Kastler, Musik: Oliver Welter, Licht: Friedrich Rom, Dramaturgie: Christina Schlögl.
Mit: Katharina Pichler, Rainer Galke, Nina Siewert, Tim Werths, Sarah Viktoria Frick, Lisa Wagner, Martin Reinke, Norman Hacker, Wolfram Rupperti, Alexandra Henkel, Sophie Nawara, Elena-Katrin Pojer, Oliver Welter.
Premiere am 23. März 2024 im Burgtheater Wien
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, eine Pause

www.burgtheater.at

Kritikenrundschau

Kušej hinterlasse "eine letzte, solide Regiearbeit": "finster, pessimistisch und klobig", so Margarete Affenzeller im Standard (24.3.2024). Mit wenigen Andeutungen gelinge es, eine Brücke ins Heute zu bauen, da Ausgrenzung wieder eine unverhohlene politische Taktik geworden ist. Der melancholische Country-Blues von Musiker Oliver Welter dmoniere die Stimmung. Bemerkenswert sei vor allem die Stückauswahl: "Wie modern das Stück dank seiner ungewöhnlichen Figurenkonstellation ist, erweist sich erst im Verlauf des knapp dreistündigen Abends."

Kušejinszeneire das Stück vor allem im ersten Teil sehr ruhig, mit vielen Pausen, versuche, eine subtile Spannung aufzubauen, so Katrin Ullmann im Deutschlandfunk Kultur (23.3.2024). Allerdings stelle sich keine Zeitlosigkeit ein. Kurz: "Ein melancholischer Abschied."

"Die musikalischen Intermezzi sind stimmig, machen aber auch deutlich, dass es der Inszenierung sonst zu wenig gelingt, die für den Stoff nötige Atmosphäre aus Brutalität und Zärtlichkeit, Erotik und Gefahr entstehen zu lassen. Der knapp drei Stunden lange Abend ist insgesamt eine ziemlich kühle, spröde, unsinnliche Veranstaltung", schreibt Wolfgang Kralicek von der Süddeutschen Zeitung (25.3.2024. "Schauspielerisch hat die Aufführung allerdings einiges zu bieten, das gilt vor allem für Tim Werths und Lisa Wagner in den Hauptrollen."

Thomas Kramar von der Presse (25.3.2024) ist angetan von der Leistung des Ensembles. "Tim Werths ist ein schlaksiger, am Anfang etwas gar angestrengt unwirsch blickender Val mit Rod-Stewart-Frisur, der allmählich erkennt, dass er nicht nur Leidenschaften weckt, sondern auch in sich selbst solche zumindest ahnt. Lisa Wagner ist eine Lady, der man schmerzlich anmerkt, wie sie fürchtet, lächerlich zu wirken, wie schwer es ihr fällt, den Stolz aufzugeben. Lang sieht sie Val gar nicht an. Doch dann glaubt man ihr die Liebende, die Verbitterte und am Ende sogar die Furie."

Das Ensemble sei ziemlich unterfordert, die großartigen Darstellerinnen und Darsteller dürften nur "in vielleicht zwei oder drei Auftritten zeigen, was sie könnten, wenn man sie nur ließe", so Martin Lhotzky von der FAZ (26.3.2024). "Das Drama war am Burgtheater davor noch nicht zu sehen, und seit der Premiere am letzten Samstag versteht man auch ein bisschen besser, warum. Die Kurzfassung der Begründung mag lauten: Das Haus am Ring ist zu groß für diese bittere Kleinstadttragödie."

Kommentare  
Orpheus steigt herab, Wien: Kassenschlager
Die Inszenierung hat durchaus Qualitäten. Unmittelbar auffallend ist dabei die Langsamkeit, mit der Szene an Szene gereiht wird. Die Spielenden treten auf und wieder ab, tragen geradezu gedehnt Text vor. Die Bühne dreht sich für den Auftritt und Abgang der Spielenden. Dazu Einschübe mit Guitarre begleiteten Liedern. Mich erinnert das an ein Erzählen in Zeitlupe. Böse gesprochen, um den Zuschauenden genügend Zeit zu geben, das Gesehene zu erfassen und dem Geschehen zu folgen.

Die Geschichte wird von zwei Brandanschlägen mit Todesfolge gefasst. Zwischen den Bränden kann zunächst der Konflikt zwischen den Kollektivist:innen (Jabe Torrance, Sheriff Talbott u. a.) und den Individualist:innen, die aus dem kollektivistisch vorgegebenen Rahmen fallen (Carol Cutrere, Lady Torrance), eingefroren werden, flammt jedoch mit dem Erscheinen von Val Xavier wieder auf.

Richtig warm und hitzig wird es dennoch kaum, trotz Feuer und Rauch. Die Inszenierung wirkt eher distanziert, unterkühlt, kalkuliert, auch in der Körpersprache der Spielenden.

Die Spielenden fand ich dabei bis in die Nebenrollen richtig klasse. Sie treffen durchweg den genauen Ton und bringen mit wenigen Bewegungen die treffende Haltung zum Ausdruck. Hervorheben möchte ich Martin Reinke. Er hat mich am stärksten beeindruckt. Lisa Wagner. Tim Werths hat eine wunderbare Singstimme.

"Orpheus steigt herab" wird vermutlich, wie das Stück und einige auf ihm beruhende Verfilmungen oder Inszenierungen, kein Kassenschlager werden. Die Erzählweise ist dazu zu sperrig, zu eigenartig. Ein Besuch der Inszenierung kann dennoch in mehrerer Hinsicht lohnend sein.
Orpheus steigt herab, Wien: Unruhe
Ja, in der Tat, das Zeitlupentempo irritiert. Dabei sind in Williams-Stücken die Personen eher von Unruhe gepackt, es ist immer eine Nervosität, ja Hektik vorhanden. Kusej hat allen eine Beruhigungsspritze verpasst (bei Werths „knistert“ es lediglich, wenn er singt) … warum ein solch hässliches Bühnenbild? … und das Auto für ein Effekt für ein paar Minuten und wahrscheinlich als Symbol für … was? … wenigstens kein Colaautomat auf der Bühne … aber im Vergleich zu der Aufführung an den Münchner Kammerspielen vor 11 1/2 Jahren ist diese verständlicher und zugänglicher und es ist erstaunlich, dass sie (reine Spielzeit betrachtet) genau so lang ist wie die damalige Aufführung … wahrscheinlich hat Kusej damals, als er Resi-Intendant war, die Aufführung nebenan gesehen und gadacht, das mache ich besser, denn wie kommt er jetzt auf das Stück … trotz Einwände: mit Interesse angesehen …
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