Ausgedacht und abgelehnt

4. November 2023. Sivan Ben Yishais "Bühnenbeschimpfung" wühlte bei der Uraufführung am Berliner Gorki Theater ordentlich in den Intendanz-Wunden und wurde zum Stück des Jahres 2023 gekürt. Jetzt eröffnet das neue Leitungsteam des Wiener Schauspielhauses mit der Wutrede seine Ägide.

Von Martin Lhotzky

"Bühnenbeschimpfung" von Sivan Ben Yishai zum Intendanzstart am Schauspielhaus © Marcella Ruiz Cruz

4. November 2023. Wenn da nur nicht diese Assistentin wäre! Sagt nichts, seit Jahren nichts, ist aber immer anwesend, starrt die Schauspielerinnen und Schauspieler an … und sagt nie etwas!

So in etwa verläuft die Beschwerde über die Institution Theater, die an diesem ersten Premierenabend der Saison 2023/24 im Wiener Schauspielhaus sehen und zu hören ist. Am Haus unter neuer Leitung (von Marie Bues, Tobias Herzberg, Martina Grohmann und Mazlum Nergiz) – und mit neuem Logo: Schauspiel^haus – meldet man sich zurück und startet mit "Bühnenbeschimpfung (Liebe ich es nicht mehr oder liebe ich es zu sehr?)" in österreichischer Erstaufführung.

Probleme über Probleme!

Das Stück von Sivan Ben Yishai (in der Übersetzung von Maren Kames) feierte im Dezember 2022 im Berliner Maxim Gorki Theater seine umjubelte Uraufführung und wurde von der Zeitschrift Theater heute zum "Stück des Jahres 2023" erkoren. Nun also in Wien angekommen. Gleich die Hälfte des neuen, vierköpfigen künstlerischen Leitungsteams, nämlich Marie Bues und Tobias Herzberg, inszeniert, unterstützt von Niko Eleftheriadis, eine auf den neuen Spielort zugeschnittene Variation. Für die Dramaturgie ist die dritte Direktorin, Martina Grohmann, zuständig.

Buehnenbeschimpfung 3 Marcella Ruiz CruzIm Chor geht's einfacher: das Ensemble des Schauspielhauses Wien in Kostümen von Sigi Colpe © Marcella Ruiz Cruz

Also stehen gleich zu Beginn, während sich das Premierenpublikum langsam beruhigt, Lydia Lehmann, Kaspar Locher, Sophia Löffler (bereits seit 2015 Ensemblemitglied am Schauspielhaus), Ursula Reiter, Tamara Semzow und Maximilian Thienen auf der recht leer wirkenden Bühne (Shahrzad Rahmani) in an Trainingsanzüge erinnernden Klamotten (Sigi Colpe) in Reih und Glied herum. Und deklamieren im Chor los. Die eine oder der andere tritt bisweilen aus der Gruppe heraus um entweder zu widersprechen oder, viel öfter, die anderen anzufeuern. Was diese Institution Theater doch alles mit den auf das – ohnehin geringe – Gehalt angewiesenen Darstellerinnen und Darstellern treibt. Unerhört! Eigene Ideen einbringen? Ein weiter Weg und letztendlich immer: abgelehnt! Trotzdem lächelt man freundlich. Probleme über Probleme! Aber man will doch, man muss ja, man wollte doch schon immer. Zum Ausgleich kann man ja in Zweiergruppen tänzelnd versuchen, dem Ganzen zu entkommen. Bis an die Rampe, dann heißt es aber: zurück! Und zum Beispiel Radschlagen.

Dieses verdammte Skript!

Dann beschwert man sich auch noch über, nein, nicht den Stücktext, sondern über dieses "Skript". Dieses verdammte SKRIPT! Da hat doch jemand, vielleicht gar das Ensemble selbst (Augenzwinker, Augenzwinker!) noch etwas hinzugefügt oder vertauscht. Das gibt es im Stücktext gar nicht, das haben die sich selbst ausgedacht! Weil eben auf Berlin zugeschnitten, in Wien ist man aber doch in der Porzellangasse und nicht Am Festungsgraben!

Der gefürchtete Direktor!

Das Bühnenbild wechselt da bereits wieder und wieder, beziehungsweise wird vom Ensemble selbst umgebaut. Etwa der über der Bühne schwebende Kubus sinkt herab, dient innen in grellem Gelb gehalten als Gaststätte, wo der gefürchtete Diktator, also Theaterdirektor, den armen Hascherln (wie man in Wien sagt) vom Schauspielensemble im wahrsten Sinne des Wortes die Suppe versalzt.

Buehnenbeschimpfung Marcella Ruiz CruzEigentlich ganz schön, dieses Theater, wenn nur der ständige Druck nicht wäre... Das Team im Bühnenbild von Shahrzad Rahmani © Marcella Ruiz Cruz

Ein Vorhang wird auf halber Höhe aufgezogen. Darauf werden dann auch gerne ganze Textpassagen eingeblendet, was wiederum zu berechtigter Heiterkeit im ganzen Saal führt. Obwohl der Abend "ohne Pause" angekündigt ist, kann man doch irgendwann für zehn Minuten den Saal verlassen. Das Ensemble macht das ohnehin schon öfter, plaudert lautstark von Balkon links zu Balkon rechts miteinander und setzt sich seltsame Kopfbedeckungen in leuchtendem Orange und Neonblau auf. Unterstützt wird das zusätzlich von Scharmien Zandi, die, in weißes Rüschenkleid gehüllt, auf offener Bühne Klavier spielt.

Durchaus ein unterhaltsamer Abend, dem man die ziemlich exakt eingehaltene Dauer von 110 Minuten kaum je anmerkt. Freilich, wer nach Handlung oder Sinn sucht, wird sich hier verloren vorkommen. Wie soll man sagen, eben eine Einstiegsvorstellung, ein erster Einblick, was und vor allem: wer uns ab nun in der Porzellangasse erwarten wird.

Bühnenbeschimpfung (Liebe ich es nicht mehr oder liebe ich es zu sehr?)
von Sivan Ben Yishai
Regie: Marie Bues, Niko Eleftheriadis, Tobias Herzberg, Bühne: Shahrzad Rahmani, Kostüme: Sigi Colpe, Live-Musik und Sounddesign: Scharmien Zandi, Video: Niko Eleftheriadis, Licht: Oliver Mathias Kratochwill, Ton: Benjamin Bauer, Christoph Pichler, Dramaturgie: Martina Grohmann,
Regieassistenz: Melina Papoulia.
Mit: Lydia Lehmann, Kaspar Locher, Sophia Löffler, Ursula Reiter, Tamara Semzov, Maximilian Thienen.
Österreichische Erstaufführung am 3. November 2023
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.at

Kritikenrundschau

"Was als (moderate) Bühnenbeschimpfung seinen Ausgang nimmt, wandelt sich bald in eine recht zärtliche Institutionenbefragung", findet Stephan Hilpold im Standard (online 5. November 2023). Dass in Wien zum Intendanz-Start des vierköpfigen Leitungs-Kollektivs Sivan Ben Yishais Stück "Bühnenbeschimpfung" auf dem Spielplan steht, habe "seine Logik", meint der Rezensent – schließlich werde hier nichts weniger als die Bühnenstrukturen selbst verhandelt. Hinter all der Institutionen-Kritik der Inszenierung "poche ein großes Herz für das Theater", schreibt der Kritiker, der einen "sympathischen Einstandsabend" sah.

"'Bühnenbeschimpfung' von Sivan Ben Yishai ist ein müder um die eigene Redundanz mäandernder Abgesang auf das politische Theater", schreibt Thomas Kramar in Die Presse (6.11.2023) und ist vor allem wegen der Auswahl des Stücks enttäuscht von diesem Intendanzauftakt.

Einen "chaotisch-kritischen, liebevoll-lustigen Abend als reflektierte Liebeserklärung" hat hingegen die:der Korrespondent:in der Salzburger Nachrichten (6.11.2923) gesehen.

Kommentare  
Bühnenbeschimpfung, Wien: Nabelschau
Also, mir geht diese permanente Nabelschau und Wehleidigkeit der Theatermenschen schon ziemlich auf den Geist. Als gäbe es keine wichtigeren Themen...
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