Schirmherr Schiller

16. September 2023. Mit dem Gameshow-Format hat sich einst schon Christoph Schlingensief in der Wiener Theaterszene unsterblich gemacht. Jetzt lässt auch Kay Voges das Publikum über denkwürdige Gegenwartsfragen abstimmen. Es sind allerdings nicht die Zuschauenden, die an diesem Abend die größten Entscheidungsschwächen zeigen.

Von Gabi Hift

"Du musst dich entscheiden! Gameshow für Österreich" in der Regie von Kay Voges am Volkstheater Wien © Marcel Urlaub // Volkstheater

16. September 2023. "Fun ist ein Stahlbad" – gleich am Eingang kann man sich ein T-Shirt mit diesem Adorno-Spruch kaufen. Derart gewappnet tritt man ein, um an einer Gameshow teilzunehmen, dem schäbigsten Auswuchs der Vergnügungsindustrie, in dem, so warnt Adorno, Lachen zum Instrument des Betrugs am Glück wird. Im Saal heizen Uffza-Uffza-Diskobeat, bunte Lichter und Ballermann-Atmosphäre die Stimmung an. Über der Bühne leuchtet auf einem Videoschirm ein QR-Code, den wir mit unseren Smartphones scannen sollen, dann öffnet sich eine Seite, auf der wir den Abend über live abstimmen werden.

Die Moderatoren erklären den Modus des Spiels: Acht Kandidat*innen werden um eine Gewinnsumme von 2 Millionen Euro spielen. Das Muster ist die älteste Spielshow des Fernsehens: "1, 2 oder 3?". Am Boden flackern ein rotes, ein blaues und ein grünes Rechteck. Der Moderator liest eine Frage vor, das Publikum hat 30 Sekunden Zeit, eine von drei vorgegebenen Antworten am Handy anzuklicken, während die Kandidat*innen herumhüpfen. Beim Gong müssen sie sich auf jene Farbe stellen, von der sie glauben, dass die Mehrheit des Publikums die dazugehörige Antwort gewählt hat. "Ob ihr wirklich richtig steht, seht ihr, wenn das Licht angeht." Wer richtig steht, bekommt einen Ball, am Ende gewinnt, wer die meisten Bälle ergattert hat.

In der Loge der Kritik

Geschrieben – "gescriptet" wie man das beim Fernsehen bei pseudo-improvisierten Shows nennt – ist das von Kay Voges und dem Philosophen Johan Frederik Hartle, dem Rektor der Akademie der bildenden Künste Wien. Schirmherr der Show ist Friedrich Schiller, der computeranimiert von der Leinwand herab die Ausbildung des Empfindungsvermögens als das dringendste Bedürfnis der Zeit verkündet. Durch das Spiel sollen die Menschen ästhetisch dazu erzogen werden, "dass sie das Gesollte auch wollen können". Von einem anderen Videoschirm, der "Loge der Kritik", schimpfen Adorno (Bettina Lieder) und Indie-Marx (Christoph Schüchner) als zittrige und verstaubte Opas in Schwarzweiß hilflos auf das Bühnengeschehen hinunter.

Wer wogt, gewinnt? Georg Vogler, Elias Eilinghoff und Anke Zillich versuchen ihr Spielglück © Marcel Urlaub // Volkstheater

Bei den Kandidat*innen ist alles an Klischeefiguren aufgeboten, von Rico, dem sächselnden Ossi, der kein Verlierer mehr sein möchte (Uwe Schmieder), über die bezaubernde junge Layla (Paula Carbonell Spörk), Pronomen they / them, die als marginalisierte Person vielfältige Diskursformen wie zum Beispiel Gameshows nutzen will, um die Menschen aufzuklären; vom neoliberalen schwulen Paar, das seine Kinder auf eine Privatschule schickt, über eine südkoreanische Liebhaberin österreichischer Hochkultur bis hin zum tiefbraunen Kärntner Feuerwehrmann. Obwohl sich alle Schauspieler*innen mit Verve dieser satirischen Schablonen annehmen, werden doch nur jene beiden zu Sympathieträgern, die sich am entschlossensten zum Obst machen, und das sind die allerschrecklichsten weißen Jammerlappenmänner.

Meinungsrutsch nach rechts unten

Elias Eilinghoff schleimt mit Dauerwelle und Pornobürste einen säuselnden Moderator der alleruntersten Liga aufs Parkett, dass es eine Freude ist. Und Uwe Schmieder ist hinreißend als treuherziger Sachse Rico, nicht gerade die hellste Kerze auf der Torte, den sie "ein Lääähm lang belooochen und betroooochen" haben, dem die Meinungen gern einmal nach tief rechts unten abgleiten und dem schon mal im Suff die Hand ausrutscht.

Der interessanteste Moment ist eine Auseinandersetzung zwischen Rico und Layla. Das Publikum soll abstimmen, wen von beiden es unerträglicher findet – und wählt Layla, die immer die politisch avancierteste Position vertritt – und damit die der Mehrzahl des Publikums. Obwohl ihr also inhaltlich voll zugestimmt wird, finden die meisten ihr moralisch hochstehendes Gutmenschentum unerträglich und verschenken ihre Sympathie lieber an den gewalttätigen, dummen Rico mit den schrecklichen Ansichten – aus dem Schmieder einen echten Menschen gemacht hat.

DU MUSST DICH ENTSCHEIDEN 3 Marcel UrlaubGeht`s da zu Adorno? Anna Rieser und Andreas Beck auf der Wiener Gameshow-Bühne © Marcel Urlaub // Volkstheater

Die Fragen decken so ziemlich alles ab, worüber zurzeit in den sozialen Medien gestritten wird: Sollte man Putin ermorden dürfen? Gehören potentielle Kindesmissbraucher prophylaktisch weggesperrt? Sind die Festklebeaktionen der Klimaaktivisten richtig? Und so weiter. Das sollte heiß und kontrovers werden, der Moderator muss immer behaupten, es brodle im Publikum, aber tatsächlich stimmen alle immer erwartbar ab, alle wissen, was sich gehört. Höchstens, dass mal ein paar altmodische linke Sozialdemokraten die korrekten postkolonialen Positionen noch nicht verinnerlicht haben und für die Akzeptanz und Toleranz von Fremden sind, statt anzuklicken, dass der Ausdruck "Fremde" nicht benutzt werden darf, weil das "Othering" ist.

Alle sind sich mehr oder weniger einig, sind milde amüsiert und mit der Zeit ein bisschen gelangweilt. Es gibt hübsche Showeinlagen, Hasti Molavian und Kaoko Amano singen mitreißend, aber von "Stahlbad"-Fun, vor dem man sich hüten müsste, kann keine Rede sein. Selbst als der arme Ossi mit der Chance auf Verdoppelung seiner Bälle dazu gebracht wird, mit dem Hammer auf seinen geliebten Alpha Romeo einzudreschen, in dem auch noch seine Frau und sein Sohn sitzen, ist das viel zu harmlos und unecht, es wird nie moralisch ungemütlich für die Zuschauerinnen, wie man es im selben Theater bei Markus Öhrn oder Signa oder Florentina Holzinger schon erlebt hat.

Das "Stahlbad" ist ein Sommerabend

Der ganze Abend krankt daran, dass Voges sich satirisch über diese Gesellschaft lustig machen will, in der jeder sich in seine Meinung als die einzig wahre verbeißt, und das als ganz schrecklich darstellen will. Gleichzeitig möchte er aber auch, dass die Fragen durch die Abstimmungen ernsthaft aufgeworfen werden – wobei das VT-Team über Shows wie die von Ferdinand von Schirach, in denen genau das ganz unironisch passiert, vermutlich ästhetisch die Nase rümpfen würde. Aber beides gleichzeitig – beißende Satire und ernsthaftes gemeinsames In-die-Tiefe-Denken – klappt nicht. Weder reicht es zum von Adorno befürchteten Betrug am Glück noch zur von Schiller erhofften ästhetischen Erziehung, nur zu netter Unterhaltung am lauen Sommerabend.

 

Du musst dich entscheiden! Gameshow für Österreich
von Kay Voges, Johan Frederik Hartle und Ensemble
Uraufführung
Regie: Kay Voges, Bühne: Michael Sieberock-Serafimowitsch, Kostüme: Mona Ulrich, Komposition: Fiete Wachholtz, Finck von Finckenstein, Video Art: Max Hammel, Lichtdesign: Voxi Bärenklau, Dramaturgie: Alexander Kerlin, Henning Nass, Live-Schnitt: Lisa Rodlauer
Mit: Anke Zillich, Elias Eilinghoff, Andreas Beck, Hasti Molavian, Uwe Schmieder, Günther Wiederschwinger, Paula Carbonell Spörk, Kaoko Amano, Hardy Emilian Jürgens, Fabian Reichenbach, Max Hammel, Fiete Wachholtz, Georg Vogler, Bettina Lieder, Christoph Schüchner, Anna Rieser, Claudia Sabitzer, Andreas Beck.
Premiere am 15. September 2023
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, keine Pause

www.volkstheater.at

Kritikenrundschau

"Voges und Hartle sind mit allen diskursiven Wassern der politisch korrekten bis 'woken' Gegenwart gewaschen, von Schiller bis Marx (Christoph Schüchner) ziehen sie Denker aus der Geschichte hinzu", findet Michael Wurmitzer im Standard (17.9.2023). Das Ergebnis sei ein "anregenden Abend voller Hirnschmalz und flotter Dialoge, der sich gerade wegen seines hohen Bewusstheitslevels nicht vor Zoff und Hau-drauf-Witzen scheut", zeigt sich der Kritiker angetan.

"Die Mischung aus Politik, Philosophie und Unfug hört sich nach einem großen Abend à la Christoph Schlingensief an", schreibt Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (17.9.2023) – und ist sogleich enttäuscht: "Doch davon kann leider keine Rede sein." Weil man "alles sowieso nicht ernst nehmen" könne, werde "das Mitspielen bald unlustig". Die Zusammensetzung der Kandidat*innen der Show erscheine "ebenso wenig zwingend wie der Umstand, dass der Showmaster so ähnlich heißt und aussieht wie der Fastfood-Clown Ronald McDonald". Kralicek wähnt sich folglich "in der falschen Show".

 

Kommentar schreiben