Absonderliche Abgründe

29. Mai 2023. Nach einer wahren Begebenheit – oder "nur ein Theaterstück"? Behauptung steht gegen Behauptung im neuen Stück von Susanne Kennedy und Markus Selg, einmal mehr verschwimmen kunstvoll Realitäten, und die Zuschauer:innen bekommen mindestens einen Albtraum mit nach Hause.

Von Martin Thomas Pesl

ANGELA sucht den Exit © Julian Röder

29. Mai 2023. Nein, dies ist kein Stück über Angela Merkel, mögen auch manche ihre Amtszeit wie eine seltsame Endlosschleife empfunden haben. Susanne Kennedy sieht ihr Stück "ANGELA (a strange loop)" vielmehr als Fortsetzung einer Serie, zu der auch "Women in Trouble" und "Jessica, an incarnation" an der Berliner Volksbühne gehören. 

Auch die neueste Protagonistin, wie die anderen umgeben von einer sehr amerikanischen Künstlichkeit, ist "in trouble". ANGELA (auch in den deutschen Übertiteln stets in Versalien) leidet an einer Krankheit, bei der ihr Körper zu viele Hormone produziert, sie in eine flache, weiße Welt verschwindet und nach ihrer Rückkehr aus dem Mund ein Baby "gebiert". Ihr Körper zuckt in Trance, der ganze Raum flimmert mit, ewig lang. Strange ist das alles durchaus, aber nicht unbedingt ein Loop. Denn die Krankheit scheint linear in drei Phasen zu verlaufen. Am Ende steht eine Art Tod, auch wenn ANGELA (Ixchel Mendoza Hernández) diesen an ihren Klon auslagert, der gleichzeitig ihre Mutter ist (Kate Strong). "I’m just dying, it’s all", lautet dafür die Erklärung, die nichts erklärt. Die Freundin Susie, der Boyfriend Brad (Tarren Johnson, Dominic Santia) applaudieren dämlich. Das Leben, der Tod, eine einzige gestreamte Performance. 

Die Kochzeile als Projektionsfläche

Die Uraufführung erfolgte kürzlich beim Kunstenfestivaldesarts in Brüssel, die Wiener Festwochen zeigen die Produktion erstmals im deutschsprachigen Raum in der Halle G des Museumsquartiers. Einen Stock drüber, in der Halle E, luden Kennedy und ihr Ko-Kreator, der Multimedia-Künstler Markus Selg, das Publikum 2022 zum Flanieren durch ihr Werk ein. Die Opernneuinszenierung "Einstein on the Beach" als begehbare Installation wurde als Großereignis gefeiert: eine Kennedy für alle.

Kaum ein Jahr später werden wir wieder auf Distanz gehalten, strömt Unbehagen aus der blaulichtigen Videoarchitektur und der Differenz zwischen vom Band kommender Sprache und fast perfekter Lippensynchronizität. Angreifen lassen sich an der minimalistischen Wohnküche nur die giftgrüngelben Türen und Essmöbel unterhalb des dreimal aufgemalten Schriftzugs "EXIT". Die Kochzeile ist virtuell und verwandelt sich Markus Selgs Fantasie entsprechend mal in eine ins Nichts führende Rampe, mal in einen brennenden Wald, mal in eine ins Verschwommen-Schwindlige verzerrte Version ihrer selbst.

Diesmal ohne Masken

Die Gesichter der Spieler:innen sind dafür – anders als früher – nicht durch Masken verfremdet. Umso mehr sticht ihre Ausdruckslosigkeit ins Auge, während ihre Stimmen bar jeder Emotion, meist aneinander vorbei, Verstörendes äußern. Auch die menschliche Interaktion ist in der Kennedy-Selg-Welt zur unvollkommenen Performance verkommen, die sogar den einen oder anderen Lacher auslöst.

ANGELA2 Julian Roeder uAuch die Mund-Geburt wird per Handykamera livegestreamt. © Julian Röder

Nur Diamanda La Berge Dramm sagt nicht viel, umso perfekter gerät ihre Performance. Die kahlgeschorene Geigerin war schon der Star von "Einstein on the Beach". Hier ist sie PERSON, ein berückendes Wesen, das in ANGELAs Leben eindringt und, wenn es sie nicht gerade entführt, an einem Fake-Lagerfeuer sitzend ins Publikum starrt und gelegentlich ein spaciges Saiteninstrument bearbeitet. Gemeinsam mit den schauerlichsten Videopassagen zeichnet La Berge Dramms Präsenz ganz analog für die späteren Albträume der Zusehenden verantwortlich.

Kritik und Faszination

Anfangs verkündet eine Laufschrift, es handle sich beim Gesehenen um eine gründlich recherchierte wahre Begebenheit, später informiert uns ein Kater mit animiertem Pelz: "Remember this is merely a play. None of this is real." Kennedy unterwirft uns elaboriertem Gaslighting, und wir lassen es geschehen. Immer wieder thematisiert sie die Entkoppelung von der Realität, die unser Alltag mit sozialen Medien auslöst: Da gibt es ASMR-Schmatzgeräusche, TikTok-Kommentare und "Hey guys, it’s me"-Videoupdates, und wenn am Ende alle Lichter und LED-Wände auf einmal erlöschen, leuchtet immer noch der Screen von ANGELAs Handy. 

ANGELA3 Julian Roeder u"I'm just dying, is all" © Julian Röder

Man mag da Kritik hineinlesen, aber es schwingt auch Faszination mit. Da freilich die Überschneidung zwischen Online-Allround-Influencer:innen und Festival-Theater-Zuseher:innen in der Regel gering ist, fühlen sich letztere inhaltlich stets ein bisschen hinterher. Das ist natürlich Absicht, denn Susanne Kennedy ist der David Lynch des Theaters. Sie will, dass wir ihr weiter und weiter in absonderliche Abgründe folgen, weil wir meinen, noch nicht ganz verstanden zu haben. Bis wir merken, dass es nichts mehr zu verstehen gibt, ist es zu spät.

ANGELA (a strange loop)
von Susanne Kennedy und Markus Selg
Text, Regie: Susanne Kennedy, Bühne: Markus Selg, Kostüme: Andra Dumitrascu, Sounddesign, Montage: Richard Alexander, Live-Musik: Diamanda La Berge Dramm, Video: Rodrik Biersteker, Markus Selg, Dramaturgie: Helena Eckert, Licht: Rainer Casper.
Mit: Diamanda La Berge Dramm, Ixchel Mendoza Hernández, Tarren Johnson, Dominic Santia, Kate Strong und den zusätzlichen Stimmen von Ethan Braun, Rita Kahn Chen, Susanne Kennedy, Ruth Rosenfeld, Rubina Schuth, Cathal Sheerin und Marie Schleef.
Premiere im deutschsprachigen Raum am 28. Mai 2023 
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.festwochen.at

 

Kritikenrundschau

"Typische Susanne-Kennedy-Verfremdung, dazu kommen Angelas digitale, von Markus Selg erschaffene Erlebniswelten", schreibt Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (30.5.2023). "Selbsterschaffung, Werden, Vergehen, alchimistisch unterfüttert, der Trip beginnt zu wirken, technisch ist er ohnehin verblüffend. Sehr seltsam sicherlich, aber auch sehr eigenwillig gut."

"Künstliche Stimmen, TikTok-Kommentare und abgespacte Klänge eines Wesens mit E-Saiteninstrument forcieren das Unbehagen, Markus Selgs virtuelles Design voller brennender Wälder hält den Entzündungswert des Abends hoch. Es ist, als säße man in einem Horrorfilm mit giftgrünen Türen, in dem die größte Angst beim Aufgehen dieser jene vor einem Miteinander ist", schreibt Julia Schafferhofer von der Kleinen Zeitung (29.5.2023).

"Das Autorenduo vermag es nicht, das Stück so klar zu entwickeln, dass es aus sich heraus verständlich ist", beklagt Edwin Baumgartner von der Wiener Zeitung (30.5.2023). "Zugegeben: Durch die durchwegs mitlaufenden Videos entstehen berückende Bilder, die beeindrucken, sofern nicht endlose Stroboskop-Sequenzen zum Augenschließen nötigen. Vielleicht ist es eine Art Überwältigungstheater: Fühlen statt denken, ahnen statt erkennen, schauen statt sehen."

"Zu sagen, die Zeit verginge wie im Fluge in diesem Oratorium für Beatmungsgeräusche und virtuelle Menschen, wäre glattweg gelogen", bemerkt Ronald Pohl vom Standard (29.5.2023). Man lerne während hundert langer Minuten, dringende Bedürfnisse nach Aufklärung hintanzustellen. "'ANGELA (a strange loop)' zerrt an den Nerven, zieht aber nicht in den Bann. Während die Fragen, die Kennedy ans Leben stellt, immer größer und maßloser werden, schrumpft – wenigstens diesmal – die Bühnenkunst."

"Der technische Aufwand mit echt wirkenden Scheinwelten im Museumsquartier ist enorm, das Ergebnis für die Bühne kümmerlich: Fünf Darstellende präsentieren diese aufgeblasen-pathetische Pseudo-Denke im Stil einer Laienspiel-Gruppe. Kennedy und Selg boten Plattitüden bis zum Abwinken. Kurz und schlicht: Das ist der Stoff,
der Fans des Post-Dramatischen im Theater heute entzückt", schreibt Norbert Mayer von der Presse (29.5.2023). "Nein, diese langweilige Endlosschleife an Zeitgeist mit all ihren leeren Phrasen muss man wirklich nicht gesehen haben."

"Die Ebenen und Wahrnehmungen, das Analoge und Virtuelle, das Vergangene und Zukünftige schieben sich ineinander, verwischen Grenzen, faszinieren in ihrer Vermischung allemal", schreibt Sylvia Staude in der Frankfurter Rundschau (3.7.2023) über das Gastspiel bei Theater der Welt. "Der rund 100-minütige Abend fühlt sich an, als schiebe Susanne Kennedy der Zuschauerin mal einen Tatsachen-Boden unter, als ziehe sie ihn dann wieder weg. (...) Man muss das Stück nicht in einem herkömmlichen Sinn verstehen, um das Schauspielhaus mit einem starken Eindruck zu verlassen."

 

 

 

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