Szégyen / Schande − Für die Wiener Festwochen adaptiert Kornél Mundruczó den Roman von J.M. Coetzee
Ein Hundeleben
von Martin Pesl
Wien, 17. Mai 2012. Mensch siegt über Tier, Mann über Frau, Stadt über Land, Weiß über Schwarz. Dieses Karussell kollektiver Erniedrigungen ist der Südafrikaner J.M. Coetzee 1999 abgefahren, in seinem schmalen, aber komplexen Roman "Schande" ("Disgrace").
Kornél Mundruczó, seit 2009 regelmäßiger Gast bei den Wiener Festwochen, hat den großen, brutalen Stoff hier mit seinem ungarischen Stammteam adaptiert. Ausstatter Márton Ágh lässt dazu, wie schon bei "Das Eis" (siehe Nachtkritik aus 2010), mehrere Räume ineinander übergehen, die dem filmerprobten Regisseur rasche Schnitte von hier nach da ermöglichen: ein OP für Hunde, Wohnungen, Käfige, ruralen Dreck.
Post-Apartheid Plot
Im Grunde erzählt Mundruczó mit Ergänzungen die Handlung des Romans. Professor David Lurie (Sándor Zsótér) beginnt auf der Siegerseite: Er ist menschlich, männlich, städtisch, weiß, trägt auch weiße Anzüge, liebt Oper und unterrichtet englische Literatur: Wordsworth, Byron, Shelley. Diese Lyrikernamen werden ihm schon bald genüsslich mit ungarischem Akzent um die Ohren gehauen, als er nach einem grotesken Hearing Job und Würde verliert, weil er seine Affäre mit einer Studentin zwar eingesteht, aber nicht herzhaft genug bereut.
David zieht aufs Land zu Tochter Lucy (Annamária Láng), die eine Farm betreibt, umgeben von Schwarzen. Selbst als sie von drei Freunden ihres Nachbarn Petrus (Roland Rába) vergewaltigt und geschwängert wird, ist sie entschlossen, der Arroganz der städtischen Bürgerlichkeit auch weiterhin den Rücken zu kehren. Übrigens werden Schwarze hier nicht durch Gesichtsbemalung, sondern mit Afro-Perücken gekennzeichnet, was als ironische "Umgehung" der Blackfacing-Debatte in der deutschen Theaterszene gelesen werden kann – oder auch nicht.
Rohe Gewalt und viehischer Instinkt
Stetige Soundkulisse und roter Symbolfaden ist das Gebell streunender Hunde, für die Lucys Freundin Bev (Lili Monori) ein Hospiz eingerichtet hat. Gegen Ende schlüpfen immer mehr der Darsteller oben ohne, nur mit einem Sporthöschen bekleidet in Hunderollen, jaulen und werden von Monori ohne große Hoffnungen dem Publikum zum Kauf angeboten. Auch ein süßer echter Dackel, Miska, ist dabei, aber der Vorwurf, man wolle mit Tieren auf der Bühne die Herzen der Zuschauer billig erobern, kann Mundruczó nun wirklich nicht gemacht werden. Denn gleich die an den Anfang gezogene zentrale Vergewaltigungsszene dreht einem eher den Magen um. Auch hier spielt ein Hund, wenn auch nur eine gut gefertigte Puppe, eine unappetitliche Rolle...
Die erwähnten Achsen der Erniedrigung zwischen Schwarz und Weiß, Tier und Mensch überschneiden sich, moralische Sieger bleiben aus. "Es gibt kein höheres Leben, nur Leben." In dem dominieren rohe Gewalt und viehischer Instinkt, übrigens gerade auch in Davids sexuellem Umgang mit der Studentin. Parallel dazu argumentieren sich die Figuren immer wieder um Kopf und Kragen.
Bereitschaft zur Grenzüberschreitung
Das alles geht uns nahe, weil es echt wirkt und wir nicht glauben können, dass wir es sehen. Mundruczó ist ein Meister der Nahaufnahme im Theater. Das Filmemacherdenken legt er nie ganz ab, und das gereicht ihm zum Vorteil, da er perfekte Schauspieler dafür hat, die durch schmerzhaft uneitle Körperlichkeit und Emotionalität bestechen. Ihre Bereitschaft zur Grenzüberschreitung – Nacktheit, Prügel, Sex – ist der Schlüssel zum zwingenden Charakter auch dieser Mundruczó-Inszenierung. Und wie meistens stellen auch hier wieder schwungvolle Songs (famose musikalische Einrichtung: János Szemenyei) dem vorgeführten Hundeleben zynisch eine Scheinwelt gegenüber, wo der Rhythmus regiert.
Freilich, so eingängig die vielen Musikeinlagen sind, die Rache am weißen Kulturmenschen trifft durchaus auch den Festwochenbesucher. Oft wird er angesprochen, aufgefordert zu Verantwortung, soll Schutz oder Erlösung bieten. Nicht zuletzt werden ihm neben den sehr expliziten Gewaltszenen auch ein paar Längen zugemutet. Das müssen wir aushalten.
In der zweiten Hälfte wiederholt sich die Vergewaltigungsszene vom Beginn, diesmal nur per Video einsehbar. Erst spät unterbricht Roland Rába und erinnert schelmisch, das hätten wir ja schon gesehen. "Aber solche Szenen brennen sich irgendwie am meisten ein, warum eigentlich?" Ausweg aus dem Karussell finden wir bei Mundruczó keinen. Einen berührenden, pulsierenden Theaterabend hat er allemal geschaffen.
Szégyen / Schande
nach J.M. Coetzee
Konzeption und Inszenierung: Kornél Mundruczó, Bühne und Kostüme: Márton Ágh, Musik: János Szemenyei, Dramaturgie: Viktória Petrányi, Künstlerische Mitarbeit: Yvette Bíró, Technische Leitung und Licht: András Éltető.
Mit: Annamária Láng, Lili Monori, Kata Wéber, Gergely Bánki, János Derzsi, László Katona, Roland Rába, János Szemenyei, B. Miklós Székely, Sándor Zsótér.
www.festwochen.at
Auf Norbert Mayer von der Wiener Tageszeitung Die Presse (19.5.2012) wirkt der Abend "wie die Retro-Veranstaltung einer Putztruppe, die mit Gewalt gegen Gewalt demonstriert". Die Coetzee-Adaption empfindet der Kritiker als Missbrauch der Vorlage. Zwei pausenlose Stunden lang sei diese Dramatisierung "abartig, dilettantisch und so unübersichtlich wie die Bühne (Márton Ágh) aus Sperrmüll, der mit Erde, Käfigen und Monitoren angereichert wurde." Wo die Prosa des südafrikanischen Nobelpreisträgers bewegend und Einsicht bringend Rassenprobleme vorführe, bleibt die Adaption aus Sicht des Kritikers roh, sei "rassistisch unter dem Deckmantel der Kritik." Wo im Roman Beziehungen subtil gezeichnet seien, etwa zwischen dem Vater als Täter und der Tochter als Opfer von Missbrauch, herrscht bei der Aufführung für Norbert Mayer "übelster Sexismus."
Von geschockten Gesichtern ob der ungebremst an diesem Abend ausgestellten Brutalität berichtet Margarethe Affenzeller im Wiener Standard (19.5.2012), die sie allerdings ein Stück weit ins Leere gehen sieht. "Es führt vorerst kein Weg in eine gerechte Gesellschaft, es sei denn ein absolut schonungsloser. Das vermag Kornél Mundruczós Theater anzuzeigen." Dennoch: "Zu viele nackte, geschundene Leiber verfehlen am Ende die ganz große Wirkung. Trotz eines schönen, anrührenden Schlussbildes."
"Mundruczós Inszenierung emotionalisiert und brutalisiert Coetzees Roman", so Hartmut Krug in der Sendung Kultur Heute auf Deutschlandfunk (15.5.2012). "Auftrumpfendes Fingerzeig-Theater" tobe sich hier aus, "das mit viel Nacktheit und derb klamaukigem Scheinrealismus auf Wirkung setzt". Im Gegensatz zu Coetzees Roman setze der Regisseur kleine, angedeutete Hoffnungsbilder. Insgesamt sei alles dennnoch nie spannend, sondern nur deutlich.
"Man mag sich als Zuschauer von Mundruczós sexualisierter Brachialregie selber genötigt fühlen – entziehen aber kann man sich der sinnlichen, in jedem Fall heftigen Bildkraft des Ungarn nicht, sein Theater zwingt zu einer Haltung, zum Denken, zur Reaktion", ist Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (29.5.2012) begeistert. In seiner "Hardcore-Version" von J. M. Coetzees "Schande" gehe es Mundruczó weniger um die südafrikanische Geschichte als vielmehr allgemein um das Thema Erniedrigung, um den Rassismus einer Gesellschaft und die Frage, wie jeder Einzelne seine Würde bewahren könne. "Mundruczó liest das Original gar als einen Roman 'über uns, uns Europäer' und macht daraus: Theater auf der Höhe einer Endzeit(stimmung)." Dass er überdies – "nie dumm, eher satirisch" – auf die politische Situation in Ungarn rekurriere, unterstreiche die Entschiedenheit, mit der er hier am Werk sei. "Das ist das Bezwingende an dieser gewiss auch effektheischenden Inszenierung: dass hier einer genau weiß, was er erzählen will – und es auch kann."
Ganze drei Sätze verliert Ulrich Weinzierl in der Welt (29.5.2012) über diese "Schande", bevor er sich zu Mnouchkine-Elogen aufschwingt. Die lauten folgendermaßen: "Mit Mehrfachvergewaltigung fängt naturgemäß auch 'Schande' bei den Wiener Festwochen an." Der Ungar Kornél Mondruczó mache aus dem Roman des Südafrikaners J.M. Coetzee ein reichlich ödes Brutalszenario der Sonderklasse. "Das Unternehmen dürfte weniger mit Kunst als mit Spekulation zu tun haben."
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