Das Leben ist ein Sterben

9. September 2023. Lucien Haug hat Sophokles' "Antigone" übertragen – ins Schweizerdeutsche. Eine Fassung, die den Stoff greifbar und verständlich macht und trotzdem ihre eigene Poesie hat. Mit nur zwei Darsteller:innen und einer Chor-Überraschung hat Antú Romero Nunes sie inszeniert, und das Publikum jubelte.

Von Claude Bühler

Vera Flück und Sven Scherer © Ingo Höhn

9. September 2023. Der bleibende Eindruck des Saisonauftakts am Theater Basel: Wie zwei Menschen plus Chor das Publikum über 100 Minuten lang mit einer komplexen Familiengeschichte, geschrieben vor mehr als 2400 Jahren, in der tiefe weltanschauliche Konflikte verhandelt werden, fesselt und am Ende zu einem Jubelsturm hinreißt. 

Dass das Publikum hier wohl nahtlos den anspruchsvollen Inhalten in Versform folgte, ist wesentlich der Schweizerdeutsch-Version des Basler Autoren Lucien Haug zu verdanken: So nah, direkt und alltagspoetisch wirkt diese Sprache, dass man sich bisweilen fragt, wie weit sich Haug von Sophokles' Original entfernt habe. Nicht allzu weit, wie ein (vorgängiger) Vergleich mit einer bestehenden Übersetzung zeigt. Eine Eigenschöpfung Haugs: "Das Leben ist ein Sterben mit der Nase eines Clowns."

Charakter-Duell in Mundart

Es scheint, als wäre es generell darum gegangen, dem hiesigen Publikum den Einstieg in diese antike Welt mit den verdichteten Konflikten zu erleichtern. Anfangs lockert Sven Schelker als Kreon das Publikum mit Gesangsübungen. Vera Flück als Antigone zeigt Polaroid-Fotos ihres "Peers" (Vater) und ihrer "Brüetsch" (Brüder) – in einem eigens zugefügten Prolog, der die Vorgeschichte abrollt, damit man die Voraussetzungen des Dramas auch auf sicher präsent hat. Ganz kurz: Antigones Brüder Polyneikes und Eteokles haben sich gegenseitig im Herrschaftskampf um die Vaterstadt Theben ermordet.

Eingestreute Jokes, etwa eine Begebenheit an einem Fussballmatch, sorgen wiederholt für Belustigung, sodass man sich gelegentlich fragt, wie die Dramaturgie die Kurve ins tödliche Drama noch kriegt. Die Figuren enthüllen jedoch nach und nach gegenteilige Konzepte, wie sie das Leben auffassen. Antigone steht für das Tragische, die Liebeskraft und den Götterglauben, König Kreon für das diesseitig Rationale, das Progressive und politische Machtprinzipien. Was folgt, wenn das Stück nach dem Prolog beginnt, ist ein Charakter-Duell über mehrere Szenen. Wohl zur Betonung des Effekts werden alle Rollen von nur den zwei Personen verkörpert. 

Antigone als Kraftzentrum

Zu Beginn ergeht ein Dekret. König Kreon gibt Eteokles, der als Herrscher Theben verteidigte, ein Staatsbegräbnis. Polyneikes als Angreifer der Stadt soll jedoch den Hunden und Vögeln zum Frass vorgeworfen werden und unbestattet bleiben, womit ihm auch der Zugang in die Unterwelt verwehrt bliebe. Kreon verurteilt Antigone zum Tode, weil sie dagegen verstösst, also Polyneikes begräbt und betrauert. Ab da lässt Regisseur Antú Romero Nunes Sophokles' unerbittliche Uhrwerk-Dramaturgie der Katastrophe zu laufen. 

Die beiden Darsteller aller Rollen: Vera Flück und Sven Schelker © Ingo Höhn

Der Konflikt enthüllt eine weitere Trennlinie zwischen den Beiden: Es ist die der Kraft. Antigone sprüht, speit und schimpft in unbändiger, zuweilen ungestümer Energie. Sie nimmt klagend aber auch, als könne sie gar nicht anders, Schicksal, Unglück und Tod auf sich. Kreon jedoch strampelt all dies weg – und wird schließlich von alledem eingeholt. Seine Kontur besteht auf Prinzipien. Als diese laut der Voraussage des Sehers Teiresias mit dem Niedergang seines Hauses einzustürzen drohen, schlottert er kraftlos mit dem ganzen Körper.

Cleverer Einfall: Der Chor, der sich als Volkes Stimme immer wieder einschaltet, sitzt im Publikum. Das wirkt gerade dann effektvoll, wenn Kreon seine Tiraden über die staatstragende Funktion des Gehorsams zum Besten gibt, und sich das Volk leise weiter unterhält. Und auch am Ende, wenn Kreon zusammenbricht, und der Chor die Bühne stürmt. 

Unterhaltsame Vermittlung des vielschichtigen Stoffs

Nunes versteht das Duell Antigone-Kreon offensichtlich als sinngebend für Sophokles' Drama. Aber wie sich die anderen Figuren darin bewegen, bekommen wir so nur als Skizze (Schelker als weinerliche Ismene) oder als Karikaturen mit, auch wenn Flück den Figuren Teiresias, dem Wächter oder dem Sohn Kreons Haimon eigene Noten verleiht. Diese sind jedoch derart komödiantisch aufgemacht, dass sie zwar die Geschichte mit starkem Akzent vorantreiben, aber aus dem sozialen Gewebe fallen.

Antigone2 805 IngoHoehnGlücksfall des Abends: Vera Flück als Antigone © Ingo Höhn

Der Konflikt verfeinert sich über die Zeit nur wenig, weil Mundart zu einer emotionaleren Spielweise animiert und profanisierend wirkt. Das urwüchsig Kraftvolle kontrastiert stellenweise mit Niedlichkeiten, die dem Dialekt eigen sind. Die Stärke der Inszenierung bleibt die unterhaltsame Vermittlung des vielschichtigen Stoffs. Die Spannung hält ohne Abfall durch. Vera Flück spielt die Antigone als eine ehrliche Haut, die Furcht und Staunen weckt. Ihre kreative Spiellust füllt die Bühne. Ihre Besetzung ist für diese Inszenierung der Glücksfall des Abends.

Antigone
nach Sophokles von Lucien Haug
Inszenierung: Antú Romero Nunes, Bühne: Matthias Koch, Kostüme: Helen Stein, Lena Schön, Musik: Pablo Chemor, Lichtdesign: Vassilios Chassapakis, Dramaturgie: Michael Gmaj, Leitung Sprechchor: Julia Kiesler, Leitung Gesangschor: Sarah Hänggi.
Mit: Vera Flück, Sven Schelker, Gesangs- und Sprechchor, Statisterie des Theater Basel.
Premiere am 8. September 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.theater-basel.ch


Kritikenrundschau

"So erfrischend authentisch wirkte eine antike Tragödie schon lange nicht mehr", schreibt Mélanie Honegger in der Basler Zeitung (11.9.2023) und lobt die "Leichtigkeit" von Fassung und Inszenierung der "gelungenen Kombination" Lucien Haug und Antú Romero Nunes. "Bis zum Finale zieht sich die Zankerei auf der Bühne teilweise hin, Konflikt reiht sich an Konflikt, sodass sich gegen Schluss eine gewisse Ermüdung breitmacht", schreibt Honegger. "Flück und Schelker aber vermögen über die Längen hinwegzugleiten. Sie treten konstant mit so viel Lust und Humor auf, dass es eine Freude ist, ihnen zuzuschauen."

"In der Basler 'Antigone' steht nicht die politische, sondern die gesellschaftliche oder psychologische Fahrt in den Abgrund im Vordergrund", schreibt Dominique Spirgi u.a. in der Aargauer Zeitung (11.9.2023). Diese komme in der Mundartfassung sehr viel unmittelbarer und verständlicher über die Rampe als in der Kunstsprache der gängigen Übersetzungen. "Der Abend lebt letztlich von der hinreissenden Präsenz von Vera Flück und Sven Schelker. Sie schaffen es damit, alle Skepsis gegenüber der Übertragung des klassischen Textes ins Schweizerdeutsche rasch verschwinden zu lassen", so Spirgi. "Sie bewältigen das Pendeln zwischen den zutiefst tragischen und berührenden und den possenhaft-parodistischen und amüsanten Momenten mit spielerischer Leichtigkeit."

Die Übersetzung leiste durchaus einen Mehrwert. "Man hört nochmal neu hin, die Mundart ist wohl auch emotionaler als die Schriftsprache, und halt nie geschwollen, oder hochtrabend, im Gegenteil, mit ihren Verkleinerungsformen ist sie oftmals eher ein bisschen ironisch", so Andreas Klaeui auf SRF2 (11.9.2023). Allerdings habe die Ironisierung auch die Tendenz, den Konflikt zu verniedlichen zwischen Antigone und Kreon und damit zwischen Moral und Staatsraison. "Da rauscht Nunes mit seiner Verspieltheit manchmal etwas flapsig drüber weg." Sehenswerte sei der Abend gleichwohl, wegen des tollen Schauspiels."

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