In die Vollen

5. November 2023. Staraufgebot: Team Herbert & Herbert tobt sich bei dieser Oper künstlerisch aus. Herbert Fritsch, der Meister des zugespitzten, (körper-)komischen Anarchotheaters hat inszeniert, Herbert Grönemeyer komponiert. Angekündigt wurde eine "musikalische Komödie" – herausgekommen ist ein Abend, der noch viel mehr ist. 

Von Julia Nehmiz

"Pferd frisst Hut" am Theater Basel, Regie: Hebert Fritsch, Musik: Herbert Grönemeyer © Thomas Aurin

5. November 2023. Der samtrote Vorhang ist unten. Da erschallt aus dem Orchestergraben eine Fanfare, cineastisch, als würde gleich ein Blockbuster starten. Dann schmelzende Geigen, Harfenglissando, Glockenschlag. Trompeten übernehmen das Thema, bombastischer Sound, der wieder verhallt und wieder anschwillt und zur treibenden Lokomotive wird, zum gehetzten Ritt durch Rhythmus und Zeit.

Operettenseligkeit, Hollywood-Opulenz, Walzerglück

Schon in der Ouvertüre klingt an, was an diesem Abend, der sich gegen sämtliche Genrezuschreibungen sperrt, geboten wird. Auch musikalisch. Operettenseligkeit, Hollywood-Opulenz, Walzerglück, hymnische Pop-Balladen – Herbert Grönemeyer greift in die Vollen. Und Herbert Fritsch tut es ihm gleich.

Das Theater Basel hat Herbert und Herbert engagiert: Herbert Fritsch inszeniert, Herbert Grönemeyer komponiert. Es ist die zweite Zusammenarbeit der beiden, coronabedingt die erste, die auf die Bühne kommt. Fritsch verantwortet zum vierten Mal in Basel eine Musiktheaterproduktion. Und er bringt (nach seiner Oberhausener Inszenierung von 2009) zum zweiten Mal "Pferd frisst Hut" nach der Komödie "Ein Florentinerhut" von Eugène Labiche auf die Bühne. Und doch ist diesmal alles anders. Denn Herbert Grönemeyer hat das Stück vertont. Das Theater Basel kündigt diese Produktion als "Musikalische Komödie" an – es ist viel mehr.

PferdfrisstHut1 1200 Thomas Aurin uEin großer, bildgewaltiger Klamauk: Hubert Wild, Cécilia Roumi, Jasmin Etezadzadeh © Thomas Aurin

Das Stück selbst: ein großer Klamauk. Das war schon bei Eugène Labiche so, der den "Florentinerhut" 1851 schrieb. Labiche gilt bis heute als der französische Komödienschreiber, er hat rund 150 Stücke verfasst. "Ein Florentinerhut" ist eines seiner erfolgreichsten. Für die Basler Inszenierung wurde die Fassung von Sabrina Zwach nochmals überarbeitet. Und Herbert Grönemeyer schrieb die Songtexte, schnörkellos, in typischer Grönemeyer-Verknapptheit, keine Silbe zu viel. Die Inszenierung ist eine Koproduktion mit der der Komischen Oper Berlin und eine Kooperation mit der Ruhrtriennale. 2024 wird sie auf dem Festival, 2025 dann auch in der Komischen Oper im Schillertheater zu sehen sein.

Die Handlung ist so absurd wie bestechend, pure Unterhaltung. Sie spielt an einem Tag wie eine Art Roadmovie-Heldenreise, ein Konflikt stapelt sich auf den nächsten. Privatier Fadinard reitet an dem Tag, an dem er heiraten wird, am Morgen aus, da frisst sein Pferd einen Hut. Der gehört einer Dame, die ein Techtelmechtel in einem Busch abhält. Ohne ihren Florentinerhut kann sie nicht nach Hause zu ihrem eifersüchtigen Mann. Fadinard muss also einen Ersatzhut besorgen, seine Braut und die Hochzeitsgesellschaft im Schlepptau. Er gerät von einer katastrophalen Situation in die nächste. Bis am Schluss der gesuchte Hut als Hochzeitsgeschenk auftaucht. Doch bei Fritsch und Grönemeyer wartet kein Happy End.

Tür auf, Tür zu

So schräg-rasant die Handlung klingt, Herbert Fritsch setzt mit seiner Inszenierung noch eins drauf. Sein Ensemble inklusive Opernchor, allen voran Christopher Nell als Fadinard, lässt es auf der Bühne krachen. Tür auf, Tür zu – Fritsch, der wie immer auch sein eigener Bühnenbildner ist, hat in den perspektivisch verzogenen Raum zehn Türen zum Auf- und Zuschlagen plus eine Drehtür mit Treppe gebaut. Man kann gar nicht mitzählen, wie oft jemand gegen eine Tür rennt, sich die Finger einklemmt, durch die Drehtür saust, Türklinken abreißt, die Treppe hinunterstürzt – in unendlichen Varianten durchgeknattert, sitzt jeder Gag perfekt, wird durch die x-te Wiederholung absurd lustig. Dazu Wortverdreher, Versprecher, Körperverrenkungen, choreografiertes Badewannengeblubber, eine Eislaufkür (Christopher Nell und Sarah Bauerett als seine Verflossene Clara zischen "chchch" übers Eis, bis sich ihre "Schlittschuhe" ineinander verhaken) – Fritsch lässt ein Slapstickfeuerwerk nach dem anderen zünden.

PferdfrisstHut3 1200 Thomas Aurin uKein Happy End in Sicht: Jasmin Etezadzadeh, Cécilia Roumi, Christopher Nell © Thomas Aurin

Uneinholbar und zum Niederknien: Christopher Nell, der als Fadinard den Abend trägt. Er turnt wie ein biegsamer Spitzensportler durch Wortkaskaden und Bühnenunfälle. Und kann auch noch grandios singen. Das ganze Ensemble wirft sich mit Verve und Können in Spiel und Musik – wie Hubert Wild, der als Schwiegervater Nonancourt im Laufe des Abends auf badisch seine Myrthe ("Wo isch mei Mörth?") von Bonsai zu Baum babbelt. Und ab und an wird Grönemeyer von den Sänger:innen parodiert.

Wir brennen jetzt ins Ehebett!

Die Songs von Herbert Grönemeyer bieten oft einen Kontrapunkt im wilden Getöse. Dann wieder krönen sie die irrwitzig rasante Handlung. Trotz all der Komik flaut die Spannung im ersten Teil des gut dreistündigen Abends manchmal ab, hätte man sich etwas Straffung gewünscht. Nach der Pause zieht das Tempo zwei Gänge höher – bis es im Hochzeitsnachtstumult kulminiert. Die Ordnung löst sich auf, die Türen verrücken und fangen fast an zu tanzen. "Wir brennen jetzt ins Ehebett", singen die Chorsänger:innen und wippen im Takt, als würden sie Fadinard in den Boden rammen. Fritsch und Grönemeyer entlarven das Konstrukt der Ehe als gesellschaftliche Zwängerei. Die wilde Jagd nach Hut und Hochzeit endet so, wie sie verlief: Im Chaos. Aber in einem, das ein grandioser Spaß ist.

 

Pferd frisst Hut
Eine Musikalische Komödie nach Eugène Labiches "Ein Florentinerhut" in einer Bearbeitung von Sabrina Zwach
Musik von Herbert Grönemeyer, Liedtexte von Herbert Grönemeyer ("Heiss" von Sabrina Zwach / Herbert Grönemeyer), Orchesterarrangements von Thomas Meadowcroft
Koproduktion mit der Komischen Oper Berlin, in Kooperation mit der Ruhrtriennale
Musikalische Leitung: Thomas Wise, Inszenierung und Bühne: Herbert Fritsch, Bühnenbildmitarbeit: Oscar Mateo Grunert, Kostüme: Geraldine Arnold, Chorleitung: Michael Clark, Lichtdesign: Cornelius Hunziker, Dramaturgie: Roman Reeger.
Mit: Christopher Nell, Hubert Wild, Florian Anderer, Gottfried Breitfuss, Raphael Clamer, Sarah Bauerett, Jasmin Etezadzadeh, Nanny Friebel, Julius Engelbach, Jonathan Fink, Cécilia Roumi, Emily Dilewski, Chor des Theater Basel, Sinfonieorchester Basel.
Premiere am 5. November 2023
Dauer: 3 Stunden, 25 Minuten, eine Pause

www.theater-basel.ch

Kritikenrundschau

"Dieser angefressene Hut, er wird später an Berlins Komische Oper und zur Ruhrtriennale gehen, hat das Zeug zum Publikumsrenner", schreibt Reinhard J. Brembeck in der Süddeutschen Zeitung (online 5.11.2023). Die "allzu ausladende Ouvertüre" könne zwar weg, meint der Kritiker, auch stoße Herbert Grönemeyer in den Ensembles und Songs mit Chor an seine kompositorischen Grenzen. Aber: "Das Stück bedient ein sonst von Opernhäusern nicht gebotenes Genre zwischen Helge Schneider und Volkstheater, es ist unverstellt direkt und unverschämt beifallssüchtig." Dieses Konzept ginge auf, schreibt Brembeck – der "froh ist, mal drei Stunden lang nicht an die großen Welt- und Menschheitsprobleme gemahnt zu werden".

Die Musik sei hier Teil der Handlung "und nicht bloß Beigemüse", findet Markus Wüest in der Basler Zeitung (online 5.11.2023). Ein "ungeheuer rasantes Stück" sah der Rezensent, das im Sinne von Herbert Fritschs Theaterverständnis auch gut ohne Botschaft auskomme. Vor allem die Schauspieler:innen hebt der Kritiker lobend hervor. Christopher Nell spiele den Fadinard "mit fast chaplinscher Perfektion". "Beim Polizisten Tavernier, wie ihn Florian Anderer zum Leben erweckt, wird man den Eindruck nicht los, Mirco Nontschew und 'RTL Samstag Nacht' gäbe es noch." Und Sarah Bauerett gebe die Clara "wie einen Vamp aus der Vorkriegszeit". Der Chor des Theaters Basel sei "wandelbar, wunderbar und elementar". Wem Slapstick, Körperakrobatik und Wortspiele gefallen, der solle unbedingt hingehen, so der Kritiker.

"Ein unverwüstlicher Klassiker wird nicht zerstört, sondern mit frischen Tönen und szenischen Ideen in einer neuen Gattung wiederbelebt. Der Tiefgang stellt sich ganz von allein ein", schreibt Jürg Altwegg in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (6.11.2023). "Nicht alle szenischen Gags sind gelungen, aber der Text überzeugt mit Wendungen wie der 'Hut Couture' durch seinen Wortwitz." Das zunächst eher befremdliche Zusammenspiel von gespro­chener und gesungener Sprache werde indes immer überzeugender und mache aus der Bearbeitung "ein vergnügliches und intelligentes Gesamtwerk, dessen Soli genauso berauschen wie die Auftritte des Chors", so Altwegg. "Die antiquierte Frivolität des bourgeoisen Boulevards wird ohne billige Konzession an den Zeitgeist entsorgt. Eine Prise Sex-Appeal ist dabei."

Eugène Labiches Stück sei per se eine Steilvorlage fürs Fritschtheater, schreibt Joachim Lange in der taz (6.11.2023). Und Fritsch entfessele das "Komödienchaos" zuverlässig "mit seiner fabelhaften Crew". Bei den eher im gängigen Musicalsound daherkommenden Songs sei es vor allem "die ironische Überspitzung, in die Fritsch seine Interpreten treibt, die die Nummern eine rettende Handbreit über den Reim-dich-oder-ich-schlag-dich-Klippen der Grö­ne­meyer-Texte schweben lässt", so Lange. "Für sich genommen wären die meisten Bum-bum-bum oder La-la-la gerahmten Sprüche als Songlyrik nur schwer auszuhalten. Weil sie aber allesamt eine so perfekte Nonsenssohle aufs Parkett legen, muss man in den etwas überlangen drei Stunden selbst über Klassiker herzlich lachen."

"Das Timing sowohl in den Musiknummern als auch in den einzelnen Sprechszenen ist dank des brillanten Ensembles nahezu perfekt. Die Inszenierung bietet virtuosen Klamauk und handwerklich perfekt zelebrierte Absurditäten, aber eben auch nicht mehr", schreibt Georg Rudiger in der Badischen Zeitung (6.11.2023). "Es fehlt an der richtigen Balance. Zwischen laut und leise, zwischen überdreht und erstarrt. Manche Szenen geraten an dem mehr als dreistündigen Abend zu lang, die Pause kommt zu spät. Auch fehlt es an Bindung zwischen Musik und Text – Grönemeyers Songs werden oft zu wenig vorbereitet und bleiben im luftleeren Raum."

Von "zähen drei Stunden" schreibt Timo Posselt in der Zeit (online 8.11.2023). Die "Schwächen" von Herbert Grönemeyers neuen Texten seien "gnadenlos" zutage getreten. Und Herbert Fritsch inszeniere "die Verwechslungskomödie Labiches als schlüpfrigen Slapstick-Reigen mit angezogener Handbremse. Ständig sucht irgendjemand irgendwas: den Hut, die Braut, das Timing."

Kommentare  
Hut frisst Pferd, Basel: Verstaubte Klamotte
Hier geht es nicht um die Spielfilmkomödie von 1939: Der Florentiner Hut, obwohl beide Male Eugène Marin Labiches Bühnenkomödie die Vorlage bildet. In Wikipedia lesen wir: „Die inoffizielle Uraufführung fand am 3. April 1939 in Anwesenheit Adolf Hitlers auf dem KdF-Schiff Robert Ley während dessen Jungfernfahrt statt.‟ Übrigens mit Heinz Rühmann, und wie es damals hieß: „die Pointen hageln wie Maschinengewehrfeuer.‟ Leider vergleicht das niemand.
Was soll man zu Basel* sagen: Immerhin machen sie ein Projekt für die braven Bürger, die nun auch tagsüber in die große Theaterhalle dürfen und z.B. arbeiten, schwatzen usw. Betreute Öffentlichkeit sozusagen.
Über das Stück lässt sich nicht viel sagen, die Musik treibt das Ensemble zu allerhand Bauchlandungen, das Bühnenbild besteht vor allem aus Türen; es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Der beste Moment in jeder Hinsicht ist der Schluss.- Leider spielt die Musik dann weiter, wohl, wie häufig, um den Beifall zu befeuern und die mühsam erzeugte Spannung noch etwas zu erhalten. Was bleibt von dem Stück in Erinnerung? Eine verstaubte Heiratsklamotte.
Das Ganze lohnt nicht weiter, Tempo auf der Bühne und des Vergessens dürften ähnlich sein.
Es gibt noch eine Karikatur auf die Arbeiterklasse im Stück, das ist der Mann, der zu viel schwitzt und das mehrfach singen darf. Schön, wenn das Theaterpublikum etwas zum Lachen hat.
* Siehe dazu Ganga Jey Aratnam, Ueli Mäder, Sarah Schilliger: Wie Reiche denken und lenken. Reichtum in der Schweiz: Geschichten, Fakten, Gespräche, 2010
PS: In der SZ schreibt deren Kritiker: dass er froh sei: "mal drei Stunden lang nicht an die großen Welt- und Menschheitsprobleme gemahnt zu werden". Ich denke, das Gegenteil ist richtig! Das Stück zeigt das zentrale Problem der SZ und der hiesigen Menschheit: wo ist das Hirn hin?!
Kommentar schreiben