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Totentanz im Lokschuppen

von Charles Linsmayer

11. November 2011. Draußen fahren die Züge vorbei, und die vom Theater St. Gallen als zweite Spielstätte genutzte Lokremise beim Bahnhof eignet sich hervorragend, um den unfertigen Rohbau jener Villa zu evozieren, in die Privatdozent Jörgen Tesman die ihm angetraute Generalstochter Hedda Gabler nach der Hochzeitsreise heimführt. Anstelle von Zwischenwänden hängen lange Plastikbahnen von der Decke, der Boden ist erst teilweise betretbar. Auf einem provisorischen Tisch nimmt ein Architekturmodell den Endzustand des Gebäudes vorweg, und fertig sind eigentlich erst die bis zur Decke ragenden Büchergestelle, in die Tesman, von Matthias Abold mit einem Stich ins Karikaturistische als in punkto Frauen vollkommen ahnungsloser, einzig um seine akademische Karriere besorgter Fachidiot verkörpert, seine Bücher einordnet.

Im roten Morgenmantel
Wenn Boglárka Horváth als Hedda Gabler erstmals das Spielfeld betritt, trägt sie zu offenen halbhohen Sportschuhen einem seidenen roten Morgenmantel, mit dem sie ihre Formen abwechselnd lasziv verhüllt und enthüllt. Sie wird sich während der 100 Spielminuten, auf die Volker Schmidt das Stück verkürzt hat, noch mehrfach umziehen, aber nichts entspricht ihrer Spielweise so sehr wie diese Kombination aus Femme fatale und Teenager. Kein Vamp, der Blut gerochen hat (wie kürzlich Milva Stark in Bern), aber auch nicht das nölende Girlie, als das Katharina Schüttler 2005 an der Berliner Schaubühne Furore machte. Mal kindlich verspielt, mal melancholisch versonnen, mal trotzig aufbegehrend und die Frustration über ihre Langeweile laut herausschreiend, steht sie wie die Inszenierung überhaupt mitten drin zwischen verschiedenen Möglichkeiten, von denen keine wirklich überzeugend rüberkommt. So übt sie zwar jene fatale Macht über die Männerwelt aus, die Ibsen der Figur zuerkennt, aber es ist nicht verbale oder psychologische Raffinesse oder das Unwiderstehliche einer Persönlichkeit, sondern etwas rein Körperliches, das sie dominieren lässt.

Paralysierender Sex Appeal
Richter Brack, gespielt vom imponierend konsequenten Bruno Riedl, macht sich darüber keine Illusionen und setzt kühl-berechnend zur Eroberung an. Er destabilisiert Hedda mit seinen Koks-Lieferungen, wartet geduldig, bis seine Stunde da ist, bleibt aber gefasst und ungerührt, als sie ihm den fast schon sicheren Triumph im letzten Moment durch ihren Selbstmord wieder raubt. Oliver Losehand als Eilert Lövburg dagegen ringt, fühlbar paralysiert durch ihren Sex Appeal und sentimental früheren Erinnerungen nachhängend, bis zuletzt um die Treulose und geht, als er die Vergeblichkeit seines Strebens erkennt, ohne Widerstand für sie in den Tod.

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 Hedda Gabler (Boglárka Horváth) in Aktion © Tine Edel

 

Vielleicht aber macht sich diese Hedda gar nichts aus Männern, geht sie doch die abgründigste Beziehung nicht zu einem Verehrer, sondern zu Thea Elvstedt, der Rivalin um die Gunst Eilert Lövburgs, ein. Von Ines Schiller auf extravagante Weise verkörpert, versteckt die junge Frau, die ihren Mann verlassen hat und nun treu zu Lövburg steht, ihre Hemmungen und Ängste zunächst lange hinter einem kindlich-aufgeregten, nervös-ruhelosen Verhalten, macht aber, anders als Hedda Gabler, eine innere Entwicklung durch. Nachdem Hedda sie mit Hilfe von ein bisschen Koks zu frivolen Tänzen und Umarmungen verführt hat, klammert sie sich, wieder zu sich gekommen, verängstigt, beschämt und in trostloser Panik an eine Säule und macht jene traurigen Augen, wie man sie von Giulietta Masina aus "La Strada" kennt.

Freiheit im Tanz
Obwohl Volker Schmidts Choreographie schwer durchschaubar ist, besteht doch kein Zweifel, dass Tanz und Musik für die Inszenierung eine wichtige Rolle spielen. Immer wieder werden Szenen mit Musik untermalt oder dramatisiert, verfallen die Figuren in Tanzbewegungen, und aus dem von Ibsen vorgesehenen Dienstmädchen Berte wird in Gestalt der dunkelhäutigen Odette Hendricks eine stumme Figur namens Deidre, die keine anderen Aufgaben hat, als mal als Serviererin, mal als Putzfrau Ballett-Einlagen vorzulegen. Den tänzerischen Höhepunkt des Abends liefert dann aber Hedda Gabler selbst, als sie ihr Spiel verloren gibt und in ihrem weit ausschwingenden violetten Rock wild-ausgelassen durch die Halle tanzt, um sich dann plötzlich, gleichsam aus der letzten Pirouette heraus, zu erschießen.

Irgendwie scheint das Provisorische, Unfertige des Schauplatzes auch der Inszenierung anzuhaften. So kommt zwar Hedda Gablers Langeweile überzeugend zum Ausdruck, die ausweglose Lage aber, die ihr nur noch die Flucht in den Tod lässt, die nimmt man der Aufführung, Totentanz hin oder her, einfach nicht ab. Da nützt auch das über dem Bühnengeschehen gezeigte Video mit dem Rückenakt einer Frau, die verzweifelt versucht, ihre Hände aus einer Fessel zu befreien, wenig. Absurderweise gelingt es der Frau nämlich just in dem Moment ihre Fesseln zu lösen, als Hedda Gabler, von Richter Brack schachmatt gesetzt, erkennen muss: "Unfrei also, nein, den Gedanken ertrage ich nicht."

Hedda Gabler
von Henrik Ibsen
Regie: Volker Schmidt, Bühne und Kostüme: Daniela Kerck, Musik: Hans Platzgumer, Dramaturgie: Karoline Exner.
Mit: Boglárka Horváth, Matthias Abold, Ines Schiller, Olivier Losehand, Bruno Riedl, Pia Weibel, Odette Hendricks.

www.theatersg.ch


Kritikenrundschau

Eher kabarettistisch als gefährlich findet Peter Surber im St. Gallener Tagblatt (12.11.2011) diese Inszenierung, die ihm in vielem modisch, aber insgesamt nicht sachgemäß erscheint. Besonders der Logikbrüche wegen, die dem Transport des Stoffes ins 21. Jahrhundert aus seiner Sicht geschuldet sind. Zwar findet die Regie Surber zufolge immer wieder pfiffige Bilder, die dem Text neue Töne abgewinnen würden. Vielleicht sei die Welt der schönen reichen Hedda heute auch tatsächlich so, wie hier gezeigt. "Vielleicht kann man die 'Langeweile' dieser Hedda, einer Frau mit allen Privilegien und allem Widerwillen gegen die bürgerlichen Konventionen, auf diese Art in die Gegenwart übersetzen. Aber dann bleibt nur noch Oberfläche. Design ersetzt Tragik – da verhallt am Ende der Schuss, mit dem sich Hedda umbringt, ins Leere." Denn bei Ibsen streife sie am Ende ihre Fesseln ab. "Nicht so die St. Galler Hedda: Sie bleibt gefesselt in den Fallstricken einer Aktualisierung, die dem Seelendrama nicht traut und es durch Seelengeplänkel ersetzt."

Volker Schmidt setze in seiner Hedda-Gabler Verheutigung oft auf grell plakative Effekte und Auftritte," schreibt der Konstanzer Südkurier (12.11.2011) und verkürze manches auf Musical-Oberflächlichkeit. "Dies allerdings zu einer äußerst differenzierten Musik von Hans Platzgumer." Trotzdem bisweilen droht die Inszenierung aus Sicht des Kritikers "in effektvoller Vordergründigkeit zu verflachen; dass sie insgesamt fesselt, ist vor allem dem intensiven Spiel der Darsteller zu danken."

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