Sei klug, sei alt, sei du selbst

von Charles Linsmayer

Zürich, 16. August 2012. Seit Marta Górnickas "Tu mówi chór" ("Hier spricht der Chor") 2010 am Warschauer Zbigniew-Raszewski-Theater uraufgeführt wurde, geht der Produktion mit 25 polnischen Laienschauspielerinnen der Ruf voraus, es sei da eine ganz neue Form von chorischer Darstellung entwickelt worden. Zum Auftakt des 33. Zürcher Theaterspektakels gab es nun Gelegenheit zu überprüfen, ob das Stück, das im übrigen bereits für den ZKB Förderpreis 2012 nominiert ist, wirklich hält, was die Fama verspricht.

Ungeheuer ist die Baba

Wenn die von Marta Gónicka nicht nur getextete und inszenierte, sondern auch dirigierte Aufführung beginnt, stehen 25 Frauen in einer geschlossenen Gruppe der Dirigentin gegenüber. Sie sind verschiedenen Alters und immer wieder anders gekleidet, und ihre einzige Gemeinsamkeit sind die nackten Füße. Auf ein Zeichen der Dirigentin hin beginnen die Frauen im Chor und in einem marschartigen Rhythmus zu erzählen, wie eine polnische Baba, eine Art Hefegebäck, gebacken wird, was für Zutaten das braucht, wieviel die Zutaten kosten, wie lange der Backvorgang dauert.

Baba bedeutet offenbar auch "Frau", und allmählich wandelt sich das Kochrezept in eine selbstkritische Befindlichkeitsstudie der polnischen Frau. Eine Frau, die Kraft wie kein Mann hat, wird beschworen, ein rhythmisches Chorstück geht in chaotisches Geschrei über, eine gewisse Lara wird zur Prostituierten und fragt: "Zahlst du eine Stunde?" Dann wieder erklingt, zu einem Hymnus gesteigert, das Chorlied aus "Antigone": "Ungeheuer ist viel. Doch nichts ungeheurer als der Mensch."

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© Antonio Galdamez Munioz

Von Marilyn Monroe bis Elfriede Jelinek

Eine Zeitlang klingt alles wie absurde konkrete Poesie, bis sich eine Stimme mit Marilyn Monroes "Teach me tiger I would kiss you..." über den Chor erhebt und mit "Wir Frauen sind anders schrecklich, wir sind schrecklich anders" ein erster Höhepunkt erreicht ist. Aus einem chaotischen Gewimmer heraus wächst ein vielstimmiges Geschrei, das plötzlich abbricht und der Stille Raum gibt.

Nach weiteren oftmals nicht leicht zu identifizierenden Zitaten von Roland Barthes, Simone de Beauvoir oder Elfriede Jelinek mündet die Aufführung in einen rhythmischen Wechselgesang, der dem auf den Frauen lastenden Druck, jung, schön und sexy sein zu müssen, den emanzipatorischen Refrain "sei klug, sei alt, sei du selbst" gegenüberstellt.

Großartiger Sprechgesang

Bei aller Originalität der verwendeten Texte, bei aller kompositorischen Könnerschaft ihrer Zusammenstellung – das wirklich Überzeugende, ja Einmalige an der Produktion ist nicht der Inhalt, sondern tatsächlich die Art und Weise, wie die Texte chorisch, rhythmisch und nicht zuletzt auch körpersprachlich umgesetzt sind. Die fünfundzwanzig Frauenstimmen wirken mal vollkommen homogen wie aus einem einzigen Munde kommend, mal fächern sie sich auf in die verschiedensten Stimmgruppen, die miteinander in einen Disput treten, mal antwortet der Chor einer Solostimme, mal löst er sich in Chaos auf, um im nächsten Moment wieder perfekt unisono zu klingen.

Gesang ist dabei eher die Ausnahme und kennzeichnet immer besondere Höhepunkte, normalerweise ist es ein chorisches Rezitieren, das sich durch eine äußerst genaue Artikulation auszeichnet und durch die polnische Sprache mit ihren vielen Zischlauten, aber auch mit ihrem Vokalreichtum eine ganz besondere Qualität bekommt. Die Sprecherinnen kommen ohne jedes Requisit aus, die Choreographie ist nicht eigentlich ballettmäßig, sondern eher ein Äquivalent zum rhythmischen Sprechen und ein vom Text her bedingter Wechsel in Aufstellung und Gruppierung.

Und doch schaut man 50 Minuten lang gebannt auf diese Sprecherinnen mit ihren ausdrucksstarken Gesichtern, auf denen sich ganz unprofessionell die Lust und die Freude an dem Agieren und Artikulieren spiegelt, das dem ihm vorauseilenden Ruf, eine neue Art chorisches Sprechen zu sein, auf überzeugende Weise gerecht wird.


Hier spricht der Chor (Tu mówi chór)
Konzept, Libretto und Regie: Marta Górnicka, Choreographie: Anna Godowska
Mit: Marta Górnicka und 25 Darstellerinnen

www.theaterspektakel.ch

Kritikenrundschau

Die Collage greife auf große Texte zurück, von Sophokles' "Antigone" bis zu Barthes oder Jelinek, haften bleiben aber auch weniger geistreiche Elemente wie ein In-extenso-Bezug auf Lara Croft, so Claudio Steiger in der Neuen Zürcher Zeitung (18.8.2012). Regisseurin Górnicka selbst trete selbst als dirigierende Chorleiterin in Erscheinung, "Dreh- und Angelpunkt ist in Ermangelung dramatischen Treibens das Besungene – und auch das dezidierte 'Wie' des oft stakkatoartig grellen Vortrags." Im rohen Vortrag seltener Geradlinigkeit liege eine eigentümliche, archaische Kraft. "Und doch fehlt diesem Stück, was seinen Vorbildern das Teuerste, was mit darzustellen die Aufgabe des antiken Chores war: die Dimension von Schicksal und Tragik menschlichen Daseins."

Ein erster Radio-Bericht über das Zürcher Theaterspektakel 2012 (22.8.2012) auf dem Schweizer Radio DRS 2 ist hier nachzuhören.

 

 

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