Faust - Am Theater Heidelberg von Philipp Preuss in Bild und Ton gebracht
Macht euch eine eigene Bildung
von Thomas Rothschild
Heidelberg, 17. Februar 2018. Der moderne Theatergänger weiß, dass nicht nur zwey Seelen, ach! in seiner Brust wohnen, sondern dass diese Brust auch auf mehrere Körper verteilt sein kann. Regisseure werden nicht müde, uns zu belehren, dass Rolle und Darsteller nicht identisch sind und eine Figur auf der Bühne mehr repräsentiert als bloß ein Individuum. Diesmal, in Heidelberg, sind es vier Fäuste, die sich gleich zu Beginn die Verse teilen, die Goethe eigentlich dem Geist in den Mund gelegt hat. Sie tragen Ganzkopfmasken aus Latex, die sie fast gleich und wie Puppen aussehen lassen.
Welchen Schaden die Schule anrichten kann, durften wir eben erst von Alexander Eisenach in der FAZ erfahren. Anders als Eisenach hat Philipp Preuss, der diesen "Faust" in Heidelberg anrichtet, seit seiner Indoktrination durch mehr oder weniger dumme Lehrer begriffen, dass das Theater keineswegs eine "Bebilderungsanstalt für gelbe Reclambändchen" ist, sondern dass, umgekehrt, die Texte in den (früher cremefarbenen) Heftchen – genau wie eine Partitur im Konzert – überhaupt erst auf dem Theater ihre eigentliche Gestalt erlangen und dass Goethe und Thomas Mann sich ziemlich genau im Klaren waren, warum sie für den "Faust" oder den "Zauberberg" die Form und die Sprache des Dramas respektive des Romans wählten.
Offenbar hat Preuss nun im "Faust" hinreichend Uninterpretierbares und Unsagbares gefunden, um auf die Aneignung eines epischen Werks zu verzichten. Und er benötigt keinen "überbordenden Roman", um sich zum Bild zwingen zu lassen. Er findet es in der Theatergeschichte und eben in der bildenden Kunst, die nicht umsonst doppeldeutig so heißt. Dabei allerdings kommt ihm der Text zeitweilig abhanden.
Gretchen ist überholt
Überblickt man Preuss' bisheriges Schaffen, so fällt seine Affinität zur bildenden Kunst auf, die in mehreren Ausstellungen dokumentiert wurde und nun auch seinen Heidelberger "Faust" prägt: Nachdem die vier Herren, zu denen sich, wie in Stephan Kimmigs Stuttgarter Version, eine Frau als Mephisto gesellt hat, nach circa 50 Minuten die Masken abstreifen und den Gang gebrechlicher alter Männer verabschieden, zelebrieren sie in choreographierter Eintracht eine Kommers-Sauferei in Auerbachs Keller. Mephisto holt den Wein nicht auf wundersame Weise aus dem hölzernen Tisch, sondern lässt ihn, bühnenwirksam, von oben herabregnen. Umgeben ist die Spielfläche von einer Art Lammettavorhang, in dem sich das farbige Licht bricht.
Dann hat Gretchen ihren Auftritt. Die vier Fäuste inspizieren sie von oben bis unten, während sie da steht, als wäre ihr ein Malheur passiert. Zunehmend gewinnt man den Eindruck, dass die Tragödie des verführten Mädchens Philipp Preuss nicht sonderlich interessiert – und man kann es ihm, offen gestanden, nicht wirklich übel nehmen. Gemessen am Reflexionsniveau der intelligenteren Beiträge zu #MeToo erscheint diese Tragödie doch ziemlich banal. Die Realität raubt der Literatur den Anspruch aufs Exzeptionelle.
Halbstündige Applausordnung
Mehr und mehr zerfällt das Bühnengeschehen in Brocken, die durch keinen Rhythmus, keinen Sog verbunden sind. So trefflich sich Preuss im Räumlichen zurecht findet, so sehr hat er Probleme mit dem Timing. Er scheint in einzelne Bilder derart verliebt zu sein, dass er nicht von ihnen lassen, sie nicht beenden möchte. Nach der Pause, aus der man in Erwartung der angekündigten Motive aus "Faust II" in den Saal zurück kehrt, lässt er gut eine halbe Stunde lang diverse Figuren – einen Kaiser, dessen Damen, einen Hofnarr, zwei Männer im Arztkittel, die wie in einem Anatomie-Lehrbuch durchleuchtet werden, drei Kraniche, surrealistisch vereinzelte Körperteile – an die Rampe treten und sich verneigen. Ein Bekenntnis zum Theater als Verkleidungskunst? Das Programmheft verrät: Es handelt sich um eine Applausordnung für die auftretenden Figuren aus "Faust II". In Wahrheit ist es ein Vorwand für die Präsentation von Bildern, zu denen kein Text mitgeliefert wird. Die Einlage, die Faust aus den Augen verliert, mündet in eine Sprachorgie aus dem Wort "Heinrich": Murmel Murmel.
Schon zuvor, in dem Vers, den Faust zu Wagner spricht, "Überall regt sich Bildung und Streben", lässt Philipp Preuss das Wort "Bildung" mehrfach wiederholen. Eine ironische Volte? Oder doch ein Fingerzeig ans Publikum? Gretchen singt die obligatorische Zutat aus der amerikanischen Popkultur. Der Titel heißt "Anyone". Er steht nicht im gelben Reclambändchen.
Faust
von Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Philipp Preuss, Bühne: Ramallah Aubrecht, Kostüme: Eva Karobath, Musik: Richard Eigner, Video: Konny Keller, Dramaturgie: Lene Grösch.
Mit: Hans Fleischmann, Raphael Gehrmann, Mathis Reinhardt, Christina Rubruck, Andreas Uhse, Sheila Eckhardt, Lisa Förster, Sophie Melbinger.
Dauer: 3 Stunden 50 Minuten, eine Pause
www.theaterheidelberg.de
Kritikenrundschau
Einen ungewöhnlichen Faust, einen "Faust für Fortgeschrittene", ein eigenwilliges, bildmächtiges und ganz aufs Atmosphärische getrimmte Experiment sah Volker Oesterreich von der Rhein-Neckar-Zeitung (19.2.2018). "Wer bereit ist, sich auf eine entschleunigte Inszenierungskunst einzulassen und nicht auf plakative Bildwelten angewiesen ist, die so hektisch geschnitten sind wie eine Netflix-Serie, kann dem polarisierenden Abend einiges abgewinnen."
Ralf-Carl Langhals vom Mannheimer Morgen (19.2.2018) sah ein "düsteres Potpuorri des großen Stoffs, eine Art Konfetti-Regen aus unbekannten Stellen". Das Grundproblem des schaffenswütigen wie doch auch genussüchtigen Titelhelden werde bis an die Untergräglichkeitsgrenze im Entschleunigungsgetus ausgespielt: "das Alter, das Bewusstsein, dass die Kräfte schwinden, dass für Heldentaten künftig weder Kraft noch Zeit ist". Langhals schließt: "Trotz aller Längen, Zumutungen und Unbequemlichkeiten: ein mutiges Unterfangen, ein großer Abend für Heidelberg, eine neue Farbe im Spielplan – und ein Regisseur, den man sich wird merken müssen."
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danke für die kritik der theaterkritik. die vielfalt der angebotenen pressestimmen führt jedoch jeden leser zum kritiker seines vertrauens.
Oder man macht beides:)