MILF - Theater Basel
Horror mit Nudelauflauf
22. Mai 2022. Voller popkultureller Referenzen baut Regisseurin Sahar Rahimi eine Geisterbahn des bürgerlichen Lebens in der Uraufführung des Stückes von Anne Haug.
Von Claude Bühler

22. Mai 2022. Der feuchtheiße Sommer hat den Publikumsandrang zur Premiere ausgedünnt. Ein nebliger, dunkler Novemberabend hätte eh besser zu der Geisterbahn gepasst, auf die uns Regisseurin Sahar Rahimi mitnimmt. Der Horror beginnt (wie in den Genrefilmen üblich) mit Details. Sie mahnen Verdrängtes an, die zur aufgeputzten, heilen Welt nicht passen. Hier ist das zu Beginn ein Schlussapplaus an einem kleinstädtischen "Charity"-Wettbewerb. Es wird geknipst, geklatscht, gestrahlt.
Popkulturreferenzen
Die drei kleinen Mädchen vor einer geblümten Fotowand stecken in blauen Kleidchen wie die Schwestern im Kubrick-Film "The Shining". Die Krönchen und das Lächeln, das die Mutter auch mal an den Mundwinkeln ziehend nach oben korrigiert, können über das Leiden nicht hinwegtäuschen: minutenlang die Beine in Ballett-Auswärtsdrehung und die Arme oben im Halbrund – das ist halt schmerzhaft. Aber die Mädchen bewahren Haltung. Und Mutti trägt einen roten Verband am Handgelenk. Haltung auch im Unglück, ein bestimmendes Motiv des Abends.
Ist das Kubrick oder mehr Lynch? Bühne und Kostüm von Evi Bauer © Lucia Hunziker
Als die Fotowand hochgeht, wird der Blick auf ein erstickend-wuchtiges Schlafzimmer freigegeben. Selbst einem David Lynch wäre das für seine Filme zu explizit unheilverkündend. Umgeben von schwarzem Stoff ein düster beleuchtetes Riesenbett, überfüllt mit großen Stoffpuppen, daran angelehnt die Mädchen, als Puppen mit Leuchtaugen, wie die Kinder im Film "Das Dorf der Verdammten".
Davor stellt sich hochgemut die Familie auf, Mami Tamara (Hausfrau), Papi Dominik (Augenarzt), Mädchen. Tamara präsentiert den täglichen, dampfenden Nudelauflauf. Dazu gibt es Dialog-Stereotypen: „Wie war dein Tag?“, „Es sind Schinkenstückchen drin!“ Immer alles frontal ins Publikum, denn die Leute reden nicht miteinander, sie stellen ein gehobenes Mittelstands-Glück aus. Bei einer späteren Wiederholung der Szene sagt Tamara, ihre Finger seien im Nudelauflauf. Dominik irritiert: "Da reden wir wochenlang kaum ein Wort und plötzlich machst du einen Witz."
Das Grauen kommt
Mit kurzen Einschüben aus Stroboblitzen und düsteren Trampelsounds, ähnlich den "jump scares" in Horrorfilmen, in denen schockartig das Monster angekündigt wird, hüpfen wir von Szene zu Szene. Das Grauen kommt wenn die Figuren allein sind. Der Mutter läuft Blut aus dem Mund, sie schleckt es gierig wieder ein. Blut läuft auch aus einer Steckdose, der Vater wischt es panisch mit seinem teuren Pulli auf. Aber da ist das "Monster" bereits in die abgeschottete Welt eingedrungen: Kat. Kat in Lederkluft, hochschwanger mit entblößtem Bauch ist die ehemalige Liebhaberin von Tamara und auch Dominik, sprengt erst den Kindergeburtstag als Clown, dann die elterliche Zweierkiste.
Edga Eckert als Dominik © Lucia Hunziker
Tamara weidet eine Kinderpuppe aus, reißt an ihren Gedärmen, leckt am Herzen und gibt sich dann wütend dem Sex mit Kat hin. Dominik geht hasserfüllt auf Kat los, würgt sie, ergeht sich später in einem weinerlichen Wutausbruch. Das sei sein Haus, seine Frau, sein Leben. Aber Kat nimmt auf alles Anspruch. Sie kriegt auch alles, weil Tamara und Dominik längst ihr Leben hassen. Nach dem Sex mit Kat gebiert Dominik riesige Blumen. Am Ende sitzen sie einträchtig bei Bier und Bestellpizza. Kühn wäre gewesen, die Szene mit einer "Happy End"-Leuchtschrift von oben herab ironisch zu überzeichnen. Denn sehen die drei einem Leben in Liebe und Offenheit entgegen? Soll man das ernst nehmen?
Fantastische Theatermaschine
Mit den übertriebenen Horrorfantasien und den dick aufgetragenen Klischees hätte man sich auch eine schrille Groteske über den gärenden Nudelauflauf des Alltäglichen vorstellen können. Aber das Stück besteht wesentlich daraus, ernsthaft bürgerliche Eingespurtheit und Rollenverständnisse zu zelebrieren, etwa auch die Unfähigkeit Dominiks, aus seinen Rollenvorstellungen auszutreten. Letzteres wird jedoch zu wenig konsequent durchgeführt. Für die intimen Moment im Stück ist Rahimis virtuos bespielte Theatermaschine zu effektvoll, sie wirkt zu fantastisch.
Die melancholischen Songs, der ausgefeilte Soundtrack der Live-Musikerin Franziska Ameli Schuster erfüllen die Bühne mit Sentiment. Eine Entdeckung ist auch Edgar Eckert als Dominik, der die Ambivalenz zwischen ernstem, gutem Willen und Abgründen und Hilflosigkeit auch ohne äußerliche Regung spürbar macht.
Bleibt noch die Frage, was der Titel meint. Der Begriff "MILF": "Mother I'd Like to Fuck", wurde als Porno-Genre mit Darstellerinnen mittleren Alters berühmt. Der Zusammenhang mit dem Abend bleibt unklar. Das Wort kommt nicht vor. Der sexualisierte Blick wird nicht konkret, sondern wird nur im Gesamtzusammenhang mit den traditionellen Rollenklischees thematisiert.
MILF
Von Anne Haug
Regie: Sahar Rahimi, Bühne und Kostüm: Evi Bauer, Musikerin: Franziska Ameli Schuster, Licht: Stefan Erny, Roland Heid, Dramaturgie: Kris Merken.
Mit Edga Eckert, Marie Löcker und Yevgenia Korolov. Magdalena Radivojevic, Lorin Senpinar und Johanna Landtwing.
Premiere am 21. Mai 2022
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause
www.theater-basel.ch
Kritikenrundschau
Der symbolisch überladene "Horror-Trip" und "Rachefeldzug des lesbischen Paars" ist für Mélanie Honegger von der bz (22.6.2022) "weder besonders tiefgründig, noch bietet die Inszenierung einen sonderlich modernen Feminismus. Dafür überzeugt der Abend mit grässlichen Frauenrollen, die es in dieser drastischen Explizitheit nur selten zu sehen gibt".
Michael Laages hat für "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (21.5.2022) "eine ziemlich aufregende kleine Psychostudie" in Basel erlebt. Während das Stück er einen kleinen, nicht abendfüllenden Plot besitze, gehöre der Abend im Ganzen "eindeutig der Regisseurin Sahar Rahimi“. Sie „macht aus dem Text einen wirklich aufregenden kleinen Abend" über "Besitz und Eifersucht" mit "feiner Grundironie" und eindringlichem Sounddesign.
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