Presseschau vom 3. Mai 2011 – Die Frankfurter Rundschau über das postmigrantische Theater in Berlin
Was bedeutet Integration?
Was bedeutet Integration?
3. Mai 2011: "Ein Gespenst geht durch Berlin", schreibt Jürgen Otten (Frankfurter Rundschau, 3.5.2011). Und dieses Gespenst "mit dem etwas verunglückten, weil nach soziologischem Grundkurs und Political Correctness riechenden Namen 'Postmigrantisches Theater' hat es zu etwas gebracht. (...) Kaum zu glauben, aber wahr: Seit Monaten schon richten sich alle Augen darauf, und so begierig, als seien die anderen Theater im Grunde kaum mehr als Spielwiesen, an denen die Realität spur- und grußlos vorbeischlendert."
Das stimme freilich nicht, denn Nurkan Erpulat, "der die Debatte darüber, was Theater kann und soll (und will), in elektrisierender Art und Weise angefacht hat", habe ja auch am Deutschen Theater inszeniert, Clash. Er provoziere. Er überschreitete Grenzen. "Aber er überschreitet die Grenzen (der Sprache, der Körperlichkeit, des bürgerlichen Anstandes) nicht, um einen radikalen Erfolg zu erzielen. Er will damit einfach darauf hinweisen, dass es diese Grenzen gibt. Ihm geht es darum, dass man auf die Krux dessen, was in seinen Stücken verhandelt wird, aufmerksam wird. Auf dieses grandiose Gefühl, dass man eigentlich nichts machen kann und deswegen alles machen darf." In Verrücktes Blut gehe er auf einen "Kern des Theaters zurück, den wir bei Friedrich Schiller finden und den wir in der jüngeren Vergangenheit nicht selten vermisst haben. Es ist der Kern des Spiels, des Spielens."
Beide Abende seien "entgrenzt und in ihrer Sprache scharf wie ein Messer, sie ritzen sich gleichsam in den Körper und in den Geist des Betrachters ein". Kein Blatt werde vor den Mund genommen. Erpulats Theater spreche Klartext. "Den gepflegten, besonnenen Dialog wird man hier vergebens suchen." Das postmigrantische Theater präpariere aber das Individuum aus der Gruppe heraus. "Integration bedeutet", schreibt Otten, "den Schritt in einen Raum hinein zu tun, der schon möbliert ist. Was aber, wenn die Möbel demjenigen, der eintritt, gar nicht gefallen? Sprich: Wer bestimmt eigentlich, was Integration bedeutet? Was macht das Wort aus den Menschen, für die es angewendet wird? Wie gehen sie damit um?"
Solche Fragen stelle man sich auch im Volkstheater Heimathafen Neukölln, etwa in ArabQueen.
Auch hier frage das Theater "nach den Normen, die gültig sind oder ungültig, danach, wie junge Menschen in einer nur vermeintlich egalitären Gesellschaft damit zurecht kommen: nämlich zunächst mal gar nicht." (dip)
Mit dem postmigrantischen Theater beschäftigte sich auch die Tagung der Dramaturgischen Gesellschaft Ende Januar 2011 in Freiburg.
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Erpulat habe ja auch am DT inszeniert, wenn auch nur mit jungen Leuten und
in den Kammerspielen ("Clash"): warum auch nicht ???
Und dann der Satz darauf: "Und Nurkan Erpulat wird es vermutlich völlig egal sein, an welchem Ort er seine Arbeiten zeigt."
Mit Verlaub, ich will diese Debatte nicht unbedingt wieder aufwärmen, es gibt Wichtigeres, aber viele von uns haben doch seinerzeit gerade mitbekommen, daß Herr Erpulat eine Festivaleinladung ausschlug, was sein gutes Recht ist ! (und warum sollte es auch für jemanden sprechen, wenn es ihm völlig egal ist, wo er seine Arbeit zeigt ?!!), insofern schon darauf bedacht gewesen ist, wo und wann er seine -von vielen hochgelobte- Arbeit zeigt !
Wozu jetzt dieser "Schwulst", der zudem nachweislich unrichtig ist ?
Nichts kann dieser Arbeit, nichts müßte ihr feindlicher sein, möchte ich hier am liebsten fortfahren ,als dies: der Hype.
Aber, Herr Otten (und nicht nur er) sprechen nun ebenso, leider; da sehne ich mich geradezu zu der etwas reservierteren Kritik Herrn Keims seinerzeit zurück oder auch zur Nachtkritik zu dem Abend, denn die dort formulierten Einwände dagegen beginnen (unbeantwortet !) zu schwinden und Jubel macht sich breit.
"Auf dieses grandiose Gefühl, daß man eigentlich nichts machen kann und deswegen alles machen darf", "So kitschig das klingt, Erpulat gibt ihnen ihre Würde zurück, die sie zuvor abgegeben haben...": Ja, das ist, so formuliert, gefährliches, kurzfristegoistisches, im übrigen diskurs-stromlinienförmiges und nicht zuletzt auch kitschiges Spiel, denn ob man mit dem Leben spielen sollte, das mag man Schiller und Otten fragen, die Würdeverschenker gebend, danke auch !!: jedenfalls ist mir nicht nach Kindern, gleich welcher Hautfarbe, zumute, die in die Welt "gefickt" werden.
Wer eine "Ficksprache" spricht, der spricht vermutlich "integrierter"
als es einem so lieb sein kann, spricht eine "Kraftsprache", eine Sprache der "Not und Verzweiflung, Be- und Unterdrückung, nicht zuletzt der Hilflosigkeit", (...): aber, liest man Herrn Otten, klingt das alles nach Klartext und großer spielerischer Befreiung, was aus dieser heraus erst zu konfrontieren wäre meineserachtens.
Der Nachtkritikerin ging seinerzeit das Switchen zwischen den verschiedenen (stereotypen !) Gesichtern der pistolefuchtelnden Lehrerin nicht auf, Herr Keim vermißte gewissermaßen das Ufer, an dem überhaupt Reibung und Vertiefung des Themas hätte stattfinden können, und ich fürchte, daß eher die schillerlesenden Feingeister den Abend verstehen konnten, die anderen allerdings mehr ihr grandioses Gefühl kultivieren und wahlweise begießen konnten, eigentlich alles machen zu dürfen.
Da folge ich lieber der Predigt der Nova aus "Über die Dörfer": Die mir da Entgegenkommenden tun es noch nicht mit dem jugendlich ermutigten Anspruch darauf, mich zur Not einfach über den Haufen laufen zu dürfen, weil man sich gerade in dem grandiosen Gefühl befindet, sonst eigentlich nichts machen zu können: wie reizend.
Aber, Klartext: stimmt schon, könnte es tatsächlich sein: Klartext zum "Stand der Dinge hierzulande"..
Der Sarrazin-Bezug bei Herrn Erpulat ist nicht zu übersehen und vielfach (meist begeistert) herausgestellt, ja, besungen worden.
"Verrücktes Blut" und "Clash" haben zweifellos ihre Qualitäten, die bestreite ich keineswegs; bemerkenswert jedoch scheint mir das Ganze erst dadurch werden zu können, wenn es zu einem Diskussionsprozeß kommt, der die dem Stück zuteilhaft gewordenen positiven und skeptischen Kritiken bzw. Kommentare, welche ihrerseits jeweils die Richtung zum "Bemerkenswert-Merkmal" deutlich in sich tragen und somit (vermutlich ganz zu recht) die Nominierung für das TT bewirkten (gegen die ich nicht das Geringste zu sagen habe), aufeinander zu beziehen versteht: das wäre dann der Prozeß, den "Verrücktes Blut" angeregt hat. Was jetzt geschieht dagegen, sieht ganz anders aus: Ein Abend wird über den grünen Klee gelobt, fast heilig gesprochen, jedenfalls bekommt das dann wieder eine salbungsvolle, sakrosante Note, die Diskussionen eher verhindern als begünstigen wird: das ist die Richtung meines Einwandes hier.
Ich beschäftige mich im übrigen gerade mit Björn Bickers "Illegal", und da stoßen wir nicht minder auf sogenannten "Klartext", den Herr Otten geradezu zur "Sprache der Straße" verklärt (also, "Kanak Sprak" jedenfalls ist von 1995 und spielt bei Zaimoglu heutzutage -siehe seine letzten Überschreibungen, aber ich könnte ebenso "Schattenstimmen" und "Schwarze Jungfrauen" nennen- keine Rolle mehr !!), stoßen auf Zeilen wie "Wir scheißen auf Eure Gesetze,
denn Eure Gesetze scheißen auf uns". Na, wenn das kein saftiger Satz ist ! Aber, bevor ich mich darüber zu sehr freue, daß es mitunter befreiend wirken kann, ihn auszusprechen, mit ihm auf die Straße erst zu treten, um meinem Unmut Luft zu machen und möglicherweise Ermutigung zu finden (von der Straße her), sollte ich ihn als "Klartext" tunlichst einerseits ernst nehmen, sollte ihn aber darüberhinaus schon auch schleunigst befragen, denn stimmen "wir" dem denn pauschal zu, daß unsere Gesetze so auf Menschen scheißen, daß ich sie verstehen könnte, wenn sie hier und da sich daraus das Recht ableiten, auf mich zu scheißen- auf der Straße ?? Abgesehen davon, daß Deutschland nicht alternativlos dasteht im "Konzert der wohlhabeneren westlichen Demokratien":
Wählt "man" Deutschland, weil andere Gesetze anderer Länder noch mehr scheißen, wählt man mitunter, weil "man" gerne in den Genuß eines so gesetzlichverfaßten Gemeinwesens wie es Deutschland sein mag, geht nicht auch ein Reiz von "geordneten Verhältnissen" von diesem Land aus (und werden Menschen, die in Deutschland Fuß gefaßt haben zB. als politische Exilanten, jetzt wo sie ihre Meinung stärker vertreten könnten, politisch aktiver als der "Durchschnittsbürger"), kommen will, oder hatte "man" aus verschiedenen Gründen keine Wahl (die "Migrationsgeschichten" sind bekanntlich sehr vielfältig und schwerlich unter einen Hut zu bringen, fraglich schnell eher das Label "Migrationsgeschichte" selbst).
Chart-"Reentry" scheint gesichert- ist Nachtkritik, Herr Otten, jetzt mehr Mensch, wo sie doch so gerne spielt (Charts !)), möglicherweise -was ich an dieser Stelle nur hoffen und anregen kann- auch solche Einlassungen wie jene Herrn Ottens beispielsweise in Richtung "Fragwürdige Verbindung von Sexualität mit politischen Zielen bzw. "Idealbildern" (Ficken als besseres Klonen ???)" oder in Richtung "Sollte "Kanak Sprak" (zweifelsohne Deutsch !!) an den Schulen unterrichtet werden (als Sprache der Straße) -immerhin erscheint dieser Vorschlag prima facie "bolognaaffin" zu sein- ??" befragt.
post scriptum: Schon witzig, daß ich gestern, als ich auf den Otten-Artikel reagierte, tatsächlich auf der gegenüberliegenden Straßenseite (Lutherstraße) von der Bäckerei "Feddersen", in einem neu eröffneten Internetcafe saß: diese Bäckerei ist ein Senkel/Zaimoglu-Ort par exellance- scheinbar überträgt sich das auf wunderliche Art ... , lg aus Kiel