Presseschau vom 6. Juli 2011 – Bernd Stegemann analysiert in der Berliner Zeitung den Zustand des deutschen Stadttheaters

Die nächste Innovation

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Die nächste Innovation

6. Juli 2011. "Erhaltet das Stadttheater!", ruft Bernd Stegemann, Chefdramaturg an der Berliner Schaubühne, in der Berliner Zeitung (6.7.2011). "Diente das Stadttheater von seinem Ursprung her der abendlichen Unterhaltung, die der bürgerlichen Selbstvergewisserung und Emanzipation aufhelfen sollte", schreibt Stegemann, "so wird es mit der Erfindung des Regisseurs im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einer Manufaktur, die sich ganz den Intentionen desselben zu fügen hat."

Die Institution sei zum permanenten "Gegner des Künstler-Regisseurs" geworden und sei "doch zugleich seit den 1960er Jahren unter dem Label des Regietheaters der privilegierte Ort, um dessen Kämpfe auszutragen". Und nur im Stadttheater gebe es ein Publikum, "das man angreifen, verhöhnen, langweilen und maßregeln kann und das doch über viele Abende hinweg die Treue hält und die meisten Angriffe auf sein Bedürfnis nach Theater tapfer weglacht, -schläft oder genießt".

Der Umbau des Stadttheaters scheine nun in den letzten zehn Jahren in eine neue Phase gegangen zu sein: "Die ständig wachsende Zahl an neuen, von einer Theaterleitung erfundenen Produktionen verkehrt die Druckverhältnisse, die bisher von den Forderungen der Regisseure auf die Institutionen ausgingen. Kürzere Probenzeiten, höhere Aufführungsschlagzahl, kleinere Ensembles und Ausstattungsetats stellen den Regisseur vor Anforderungen, die wieder an die Anfänge seines Berufs erinnern."

Die ästhetischen Folgen dieser Beschleunigung seien überall zu beobachten: "Der erste Einfall zählt, das direkte, meist moderierende Spiel mit dem Zuschauer verdrängt das realistische Schauspiel. Die Erarbeitung von Figuren wird übersprungen, da in der Eile nur Klischees möglich wären. Die Bühnenräume werden zu Einheitsbühnenbildern."

Es wäre denkbar, so Stegemann, "dass die nächste Innovation nun aus einer anderen Richtung kommt. Was Partizipation, Demokratie und Vernetzung für Institutionen bedeuten, ist in drastischen und noch schwer erkennbaren Formen im Internet und seinen Kommunikationsformen zu beobachten. Theater als Darstellung menschlicher Handlungen und Kommunikation wird auf diese Veränderung ebenso reagieren wie es das in allen vorherigen Epochen getan hat."

Die Zerschlagung von Traditionen und Institutionen diene aber zuerst und immer "dem Beschleunigungswillen des Kapitals und der Entsolidarisierung der um dieses Kapital kämpfenden Individuen". Das Theater müsse diese gesellschaftlichen Übel immer wieder neu auf der Bühne sichtbar machen, und die Gesellschaft habe in ihren Stadttheatern die Fortdauer einer ständigen künstlerischen Provokation sicherzustellen.

(dip)

 

Mehr lesen? Matthias von Hartz über Wege aus der Krise des Stadttheaters.

Kommentare  
Stegemann über Stadttheater: ein wahrer Satz
Beim Einheitsbühnenbild ist ja die Schaubühne mit den Design-Sitzlandschaften von Jan Pappelbaum fast schon Vorreiter und was die (klein)bürgerliche Selbstvergewisserung betrifft, steht sie dem DT in nichts nach. Alles bestens vernetzt und austauschbar. Nur bei der quantitativen Aufführungsschlagzahl hapert es an der Schaubühne noch gegenüber dem DT. Woran leidet denn Bernd Stegemann nun eigentlich wirklich? Nervt ihn etwa sein Chef und Künstler-Regisseur Ostermeier so schrecklich? Wo sind denn jetzt die Innovationen an der Schaubühne? Von den angesprochenen Druckverhältnissen und Übeln ist auf Berliner Bühnen allgemein nicht viel zu sehen, außer dass das DT z.B. den Zuschauer mit belanglosen Produktionen direkt druckbetankt. Das BE schnarcht, die Schaubühne und Volksbühne dümpeln, gehalten von einigen wenigen Highlights und das Gorki verliert sich immer mehr im Erzählmodus, investiert aber wenigsten noch in den Nachwuchs. International sind ja alle toll vernetzt aber echte Innovation kann man eher mit der Lupe suchen. Viel Bla Bla um einen letzten wahren Satz, die Innovation kommt, noch ehe es die Stadttheater gemerkt haben werden, von da, wo man es nicht für möglich gehalten hätte und zwar per Abstimmung aus dem Internet. Die Entsolidarisierung hat längst begonnen. Ein Stadttheater ohne sein Publikum wird zwangsläufig im Kampf ums Kapital unterliegen. Letztendlich sind es die starren Traditionen von veralteten Institutionen, die die notwendigen Innovationen verhindern werden.
Stegemann über Stadttheater: keine Zukunft ohne Autor
Über das Theater zu sprechen bedeutet immer und stets, über die Gesellschaft zu sprechen, in der, von der, durch die das Gespräch über das Theater geführt wird. Ohne ein Gespräch über die Gesellschaft gibt es kein Gespräch über das Theater.

Die geschriebene Geschichte des Theaters wird markiert von den Namen der Autoren, die für es geschrieben haben - von Aischylos bis Beckett. Es gibt keine Zukunft des Theaters ohne Autor - bleibt die offene Frage nach dem Menschen, der, sui generis und im weitesten Sinne, spielt, spielen kann, spielen will. Der Regisseur spielt demgegenüber allenfalls die zweifelhafte Rolle eines Zuhälters.

Der langjährige Rezensent der FAZ Rossmann hat es offenbar über Jahrzehnte verstanden, den Wirtschaftsteil des Blattes, für das er schreibt, nicht zu lesen: Dort wurde immer schon die Trommel gerührt für die Errichtung eines universellen „kulturellen Dienstleistungsbetriebs“.

Den holländischen, den italienischen Kulturpolitiker, seinen Bonner, Rostocker, Hamburger - die Reihe lässt sich beliebig verlängern - Klon zur Zielscheibe zu machen, kann nur denjenigen einfallen, die weder den „Vertrag von Lissabon“ gelesen, noch die mühselig zusammen gezimmerte UNESCO-„Konvention zum Schutz der kulturellen Vielfalt“ zur Kenntnis genommen haben.

Es handelt sich, im ersten Fall, um ein von beinahe allen politischen Parteien Europas getragenes neoliberales Manifest, das, um nur von unseren Interessen zu sprechen, jeden kritischen künstlerischen Ansatz unter die Bedingung seiner Verkäuflichkeit stellt, und, im Falle der zweiten Bemühung, um einen gegenwärtig zur Aussichtslosigkeit verurteilten Versuch, diese Entwicklung aufzuhalten.

Weder Stegemann noch von Hartz (!) sind offenbar bereit, die makrostrukturellen Aspekte der profitorientierten „Säuberungsphase“, die, um nur von unseren Interessen zu sprechen, Kindergärten, Jugendheime, Schulen, Universitäten und eben auch - und noch dazu relativ spät - die Theater heimsucht, ernst zu nehmen.

Die Unfähigkeit, das eigene Problem im Licht der Verbrennungen zu sehen, die die globalisierten Kapitalströme nun wirklich nicht nur dem deutschen Stadttheater zufügen und daraus die Konsequenz zu ziehen, begründet den Untergang dieser gepriesenen Theaterstruktur: Sie hing zu sehr am Halse derer, die sie erwürgten.



Stegemann über Stadttheater: Kunst gegen Leben?
Entsteht hier jetzt nicht vielleicht auch ein etwas verzerrtes bzw. eindimensionales Bild, wenn man allein auf diesen einen Artikel von Bernd Stegemann fokussiert? Ich würde sagen, dass der nur funktioniert, wenn man ihn im Kontext der anderen Artikel des Arbeitsbuches 2011 "Heart of the City. Recherchen zum Stadttheater der Zukunft" liest. Erst dann wird klar, dass es um die Konfrontation der unterschiedlichsten Haltungen zum Thema Stadttheater geht. Und von dieser Vielfalt der Formen und Auseinandersetzungen lebt das Theater!

In Bezug auf Bernd Stegemanns Beitrag sind besonders die folgenden Sätze zum Verhältnis "Produzent" - "Regisseur" bezeichnend:
1. "[...] und natürlich gibt es hier eine Theaterleitung, die von Auslastungszahlen viel und von Kunst gar nichts versteht." (Starker Tobak, da sind interne Spannungen vorprogrammiert, verschleuderte Energien, welche eigentlich produktiv für den Kunstprozess genutzt werden könnten und müssten.)
2. "Seelische Schäden werden billigend in Kauf genommen, soweit sie der Steigerung der Kunst dienen."
(Abgesehen vom öffentlichen Allgemeinplatz kann man sich darunter erstmal nichts vorstellen. Worin genau bestehen bzw. wie zeigen sich diese seelischen Schäden an und in den Schauspielern?)

Die einen verstehen nichts von Kunst, die anderen nichts vom Leben. Na, dann Prost. Ging es nicht mal darum, über die Ästhetik bzw. die ästhetische Form das soziale und politische Leben zu befragen und zu verändern? Wo stehen wir jetzt?
Stegemann über das Stadttheater: wer hat recht?
Steckel hat recht.
thw
Stegemann über Stadttheater: Koalitionsverhandlungen
@ 4

Fragt sich aber eigentlich immernoch, wenn Herr Steckel recht hat,
ob das nicht anhand der nunmehr diversen "Singleauskopplungen" aus
dem "Theater der Zeit"-Arbeitsbuch (siehe § 3) gut und gerne diskutiert werden kann, inwiefern er da richtig liegt. Mir kam der erste Überflug des Arbeitsbuches vor, als besuchte ich irgendwelche Koalitionsverhandlungen, wo Leute ihre achsozeitge-
mäßen Claims abstecken; z.B. lese ich den Roselt-Artikel bislang
eher als eine Art Versuch, nun den "Schamdiskurs" auszubeuten, wo aus dem "Schulddiskurs" in den Zeiten, wo aus allen Lautsprechern dröhnt "Ich bin ich, allein das ist meine Schuld", nun wirklich nichts mehr herauszubringen ist. Wenn Sie mich jetzt zB. sehen könnten: Also, wenn Blicke töten könnten, so müssen sie es noch lange nicht, ich habe ja auch noch niemanden erwürgt, wenn ich mit beiden Händen auf der Bühne erscheine etcpp.: Gutes Sommerloch allerseits und Vorhang !.
Stegemann über Stadttheater: Roselt, Scham und Phänomenologie
Berichtigung:

Naja, das mit dem Roselt-Artikel meine ich zwar so wie angedeutet, aber diesen habe ich versehentlich in das Arbeitsbuch eingekoppelt, es ist mir aber wirklich fast so, als fehlte dem Buch annährend nur noch dieser.
Mir fehlt in diesem Artikel ein wenig Konkretion zum gewählten Bild vom Ozon.
Woher kommt das Ozonloch ? Wer sich schämt, hat der FCKW losgelassen ??
Lege ich "Erniedrigte und Beleidigte" zugrunde, dann ist die Reduktion dessen, was dort "verhandelt" wird, auf Scham schlichtweg fahrlässig, eigentlich zynisch zu nennen. Es ist aber tatsächlich unwahrscheinlich, daß Blicke töten können, sonst hätte ich wohl -im Affekt freilich !!- zwangsläufig schon so manchen Homunculus
Marke "Mc Fit und Mc Fit-Massengrooves" auf dem Gewissen oder vor dem Gewissen, und Mila hätte ich schon garnicht trainieren können ...: wo sonst sind Blicke so präsent wie in diesem Anime ??
"Phänomenologie und Theater": Der Blick auf Herrn Roselt scheint sich mir schon zu lohnen, auch wenn mir sein Artikel einfach zu glatt geht und ich hochverwundert darüber war, daß er hier fast unkommentiert "passieren" konnte, obgleich ich mindestens einen regelmäßigen Poster vor Augen habe, der da gewiß besser als ich Kritisches hätte zu anmerken können, ja lohnend zu sein, was nicht zuletzt daran liegt, daß mir Phänomenologie immer als das Gesunde in der Philosophie erschienen ist, ja, egal welches Philosophische Seminar ich besuchte bzw. sah, immer erschienen auch die Phänomenologen die Gesündesten unter den Lehrenden zu sein. Spötter meinen zwar, das liege daran, daß Phänomenologen sich nie widersprächen, weil sie zur Not nur neu drauf gesehen hätten -auf ihren Gegenstand, aber ich glaube nicht, daß der Wert dieser "Methode" sich darin erschöpft..
Stegemann über Stadttheater: Stand der Dinge im Berliner Theater
Ad @1:
Macht die Schaubühne nicht so schlecht:
Ostermeiers Ibsen-Inszenierungen und "Dämonen" sind immer noch wichtig und haben einen neuen Inhalt aufgezeigt.
Mayenburgs "Nibelungen" waren toll, weil sie einem Hebbels unglaubliche Sprachbilder zu Bewußtsein gebracht haben. Niemand im 19. Jahrhundert - auch der der Größte: Georg Büchner nicht - hatte so eine Heiner-Mülller-Phantasie. Beim Dünnbrettbohrer Thalheimer spürtest Du davon kaum einen Hauch.
"Perplex" ist eine der intelligentesten Boulevardkomödien der Saison (neben der ganz anders gearteten "Spanischen Fliege").
"Dritte Generation" müsste einfach jeder gesehen haben.
Katie Mitchells "Fräulein Julie" ist von einer atemberaubenden technischen Perfektion. Und auch intellektuell so, dass man nie wieder "Fräulein Julie" sagen kann, ohne sich daran zu erinnern.
Jossi Wielers "Iphigenie" in Buchenwald mit der wunderbaren Judith Engel war auch nicht ohne.
Ich finde, das ist kein schlechter Schnitt.

Dass die Volksbühne "dümpele", finde ich auch ungerecht.
Die spanische Fliege jetzt ist eine Sensation: ein Theater, das aus akrobatischer Komödiantik Sinn gebiert (ohne ihn dem Zuschauer aufzudrängen). Das ist ein Paradigmenwechsel - der komödiantische Schauspieler -, der wie Pension Schöller viel kopiert und in die Theatergeschichte eingehen wird. "Nach Moskau" war irrsinnig gut gespielt. "Iwanow" ist immer noch ein Juwel des Spielplans (wie früher auch Gotscheffs "Kampf des Negers" und "Das große Fressen", leider nicht mehr zu bewundern). Pollesch baut zur Zeit die anregendsten und perfektesten Bühnenbilder. Gob Squad beschäftigt uns intellektuell. Und mit Seneca (Medea) hat Castorf die heißeste Ausgrabung am Dramatiker-Himmel getätigt (wenn auch leider nicht bewältigt). Gegen das pessimistische Weltbild dieses Philosophen und Dramatikers im Haifischbecken Neros ist Heiner Müller ein Waisenknabe. Lest ihn (Agamemnon), spielt ihn! Schwärzer kann man unsere Welt, in der der Verbrecher (der Mächtigste) belohnt und der Unschuldige (der Machtlose) in den Orkus getreten wird. Oder was passiert denn jetzt in Syrien, Libyen, Irak, Afghanistan, wo nur das Gesetz der Stärke regiert. Und bei uns?

Am DT ist Moritz Grove zur Zeit der einzige Lichtblick, der einzige Spieler mit einer echten Vitalität. "Die Sorgen und die Macht" waren als Stück wichtig und haben durch den improvisierenden Schauspieler Kuttner auch gelebt. Im Grunde wars aber Textaufsage-Theater, also kein Theater. "Über Leben" fand ich ja als Stück ganz gut. Aber ich mag das überhaupt nicht, wenn Wohlstandsschauspieler mit leeren Tschechow-Augen in den Saal starren, lange Pausen und tiefsinnige Banalitäten absondern und mehr oder weniger jammern, dass sie so allein sind und wir uns einfach nicht verstehen können. Das wissen wir ja. Aber sich in diesem Gestus zu suhlen, finde ich pervers. Das sind so Grunewald-Probleme. "Soziale Kälte" hat Castorf das in seiner kreativen Zeit mal genannt (bezogen auf (...) Jelinek mit ihrer "Raststätte").

Das BE ist natürlich eine Katastrophe. Man hat den Eindruck, dass die gelungenen Aufführungen, die es dort durchaus gibt, die Müdigkeit, die alle lähmt, nicht aus dem Muff pusten kann. Die Müdigkeit heißt Peymann und tut aktivistisch, was aber reine Schlafwandelei ist. Dieses Theater scheint immer noch von den Zinsen eines geistigen und künstlerischen Kapitals zu zähren, das es in den 70er und 80er Jahren einmal angelegt hat. Dass es von diesen Zinsen "leben" könnte, kann man nicht sagen.
Unter die gelungenen Aufführungen zähle ich Wilsons "Dreigroschenoper", die mir wirklich eine Modellaufführung zu sein scheint, in die man alle Schulklassen der Welt schicken kann, damit sie das Stück auf amüsante Weise kennen lernen. Über den sozialkritischen Biss, den das Stück auch noch hat, können sie sich dann ja nach dem Amüsement Gedanken machen, wenn sie Feuer gefangen haben und das Buch zum Stück lesen.
Sehr liebe ich auch - man wird mich schlagen - die Stein-Inszenierungen am BE. Sie bringen uns Einsichten nahe, auf die man beim eigenen Lesen nicht gekommen wären. Stein ist ein wunderbarer Leser, eine Rarität in unserem Theater. Und ich liebe alles, was nicht mainstream ist, sondern einen eigenen Kopf hat.
"Der Parasit", ein wichtiges Stück ("Minister schreiben nicht, was unter ihrem Namen umläuft"), witzig inszeniert.
Stegemann über Stadttheater: Stand der Dinge im Berliner Theater II
Das Maxim-Gorki-Theater langweilt mich. Es ist alles so schnellfertig und oberflächlich. In der Kunst ist der zu gehende Weg zwischen zwei Punkten eben nicht die gerade Linie. Dieser Overkill an Produktionen, dieses ewige Verwursten von Romanen und Filmen, deren Komplexität man natürlich in keiner Weise gerecht werden kann. Dieser wuselige Aktivismus täuscht auch nur Leben vor und perlt an einem ab.
Stegemann über Stadttheater: Wider das Wegsparen
herr stegemann ist nicht die schaubühne. herr stegemann ist eine eigenständig denkende persönöichkeit, die meines erachtens zu recht fürmsich proklamiert und versucht, uns alle, ja UNS alle!! - dazu aufzurufen, das stadttheater nicht den kapitalistischen hunden und wegsparern zum fraß vorzuwerfen, damit hat er einfach recht, und es ehrt ihn, der isch aufgrund seiner position auch bequem zueücklehnen und schweigen könnte, hier position einzunehmen und auf eine entwicklung hinzuweisen, die besorgnis erregend ist.
Stegemann über Stadttheater: Vermissen der künstlerischen Provokation
@ Guttenberg
Ich schrieb ausschließlich über die Entwicklung in der vergangenen Spielzeit. Sie zählen zu recht einige ältere Sachen auf, die auch immer noch gespielt werden. Für mich ist aber die momentane Tendenz entscheidend und die lässt eben die von Stegemann geforderter Innovation eher vermissen. Ich bin aber auch ein unermüdlicher Optimist. Es gab einige interessante Sachen den Berliner Bühnen nur eben eher auf den kleinen Studiobühnen oder im Off. Die großen kreisen um sich selbst und versinken in Melancholie. Ich vermisse diese von Stegemann geforderte künstlerische Provokation. Ich finde witzig, dass sie Polleschs Bühnenbilder so anregend und perfekt finden. Etwas Schlimmeres hätten sie Pollesch nicht antun können, als ihn darauf zu reduzieren. Aber es ist tatsächlich so, seine Diskursschleifen haben sich in der schönen Illusion und Repräsentation, die sie eigentlich zerstören wollen, längst selbst verfangen. Pollesch ist an einem Punkt angekommen, wo es so nicht mehr weiter geht. Die Vorzüge der großen Bühne haben sich in ihr Gegenteil verkehrt. Es klingt so ein wenig Resignation in seinem neuen Stück mit. Eine kleine Ahnung von Gescheitert sein? Ich hoffe nicht.
„Die Sorgen und die Macht“ war mit Sicherheit eine der besten Inszenierungen am DT, Kuttner wird ja wiederkommen und auch Jette Steckel, deren „Kleinbürger“ ich für wirklich innovativ halte. Zum Gorki habe ich insgesamt eine andere Meinung, muss aber eingestehen, dass die letzte Spielzeit nicht so gut war, wie die davor. Aber das sind alles persönliche Einschätzungen, man kann das natürlich auch ganz anders sehen. Sehr schön finde ich, was sie zu Fritsch im anderen Thread geschrieben haben. Auch ich bin der Meinung, dass „Die (s)panische Fliege“ nicht nur sinnfreier Klamauk ist. Der Gedanke mit der Subversion des Lachens kam mir auch. Ich habe versucht Parallelen zu Castorfs „Pension Schöller“ aus dem Jahr 1994 zu ziehen. Damals war Herbert Fritsch ja noch als betörender Schlangen-Nackttänzer mit auf der Bühne. Wo Castorf dem deutschen Kleinbürger mit Hilfe von Kartoffelsalat und Heiner Müller zu Leibe rücken wollte, müht sich Fritsch nicht mit theorielastiger Sinnsuche ab, sondern nimmt ihn als gegeben hin und setzt auf die Subversion des befreiten Lachens. Alles erklärt sich aus den Figuren heraus, der moralische Zeigefinger bleibt stecken. Aber auch das ist ein Prinzip, das man nicht unendlich weiterführen kann, ich hoffe das Fritsch Fliege keine Eintagsfliege bleibt. Über die neue Spielzeit an der Volksbühne ist noch nicht viel bekannt, außer das Marthaler und Leander Haussmann zurückkehren. Wo bliebt da die notwendige Innovation?
Stegemann über Stadttheater: irgendetwas Originelles
@ Stefan.
Sie schreiben sehr schön und unaufgeregt. Und nicht so theorielastig. Da macht der Diskurs Spaß. Gerade auch, um den Fächer unterschiedlicher neben einander bestehender Lesarten aufzuschlagen.
Zu Pollesch haben Sie sicher recht. Aber zu diesen Diskursschleifen gehört ja auch die Selbstironie. Die im aktuellen Theater durchaus nicht gängige Liebe zum Wort, zur Rede, zum dialektischen Verstehenwollen, die seine Aufführungen auszeichnen, zeigt ja durchaus ihre Kehrseite: das Gelaber. Es ist durchaus ein Witz (oder eben Ironie der Sache), dass Polleschs Theatralität contre coeur viel inspirierender ist, als die sich selbst aufhebenden Denkkreisläufe minuziös mitzuverfolgen. Er ist eben doch größer als Künstler, denn als Philosoph: d.h., was er uns zu schauen gibt, wirkt stärker, als was er uns sprachlich mitteilt. Dabei hat seine Sprache ja durchaus auch grandiose Metaphern gefunden: ich denke nur an den Geldschein als Metapher für die Inkommensurabilität von innerem und äußerem Wert in "Schmeiss dein Ego weg". Der Geldschein hat keinen "inneren" Wert, weil er nur ein Stück Papier ist. Lustigerweise beruht sein innerer Wert allein auf dem, was draußen draufgedruckt ist. usw.
Ich bin mir gar nicht so sicher, ob Pollesch das wirklich von sich weisen würde. Aber selbst wenn diese meine Auffassung seinem Selbstverständnis widersprechen würde, würde das ihren Charme noch erhöhen, weil Pollesch dann als Don Quijote des Diskurses einen absurden Kampf führen würde (dessen theatralisches Gesicht Martin Wuttke ist).
Überrascht hat mich Ihr Schlusssatz: Wo bleibt die notwendige Innovation? Innovation - Fortschritt... Ich dachte, das Hegelsche System- und Fortschrittsmodell sei abgeschafft worden zugunsten eines pluralistischen Weltbildes, in dem Vieles neben einander existiert und das Fortschreiten der historischen Zeit sich höchstens durch Renaissancen des Alten in neuer Gestalt kund tut. Ich finde es unfair, von normalen Menschen wie Regisseuren ständig Meisterwerke zu fordern. Wenn Kathrin Angerer als Nastja in "Nach Moskau" von der Proletin zur rote Zarin aufsteigt, dann finde ich das in dieser Qualität schon eine große Leistung der Inszenierung, auch wenn die Methode Castorf vielleicht schon ein bißchen verbraucht ist. Aber immerhin ermöglicht er Fritsch, Pollesch oder den wunderbaren Pastor Ephraim Magnus. Wenn unter diesen Umständen Teilerfolge erzielt werden, bin ich schon glücklich. Ärgern tue ich mich, wenn Milan Peschel in "Sein oder Nichtsein" einen faden Aufguss des Volksbühnen-Stils ohne auch nur die Spur von etwas Eigenem präsentiert oder wenn jemand wie Sebastian Baumgarten überhaupt nichts Anderes tut, als Ideen anderer zu verkaufen. Mit jemandem, der nichts zu sagen hat, habe ich keine Lust mich zu unterhalten. Fazit: Die Leute müssen nicht unbedingt mit jeder Aufführung das Theater neu erfinden. Das geschieht nur in Glücksfällen und die sind nicht planbar. Zum Glück. Aber ich will wenigstens eine eigene Auseinandersetzung, eine eigene Sichtweise, irgendwas Originelles.

P.S.: Diese 30-Minuten-Pantomime in "Rocco und seine Brüder" am Gorki war schon etwas sehr Schönes, Poetisches und Originelles. Auch das Ballett der Bühnentechnik. Leider hat das dann aber nicht den Dreh ins Inhaltliche bekommen. Es war einfach nur schön.
Stegemann über Stadttheater: innovativ relativ
@guttenberg: die "dämonen" haben einen neuen inhalt aufgezeigt? dieses stück ist in seiner vorgesternhaftigkeit so altbacken, dass es schmerzt. und ich hatte mich so sehr auf norén gefreut ..
auch "fräulein julie" war jetzt nichts besonders innovatives, wenn man frau mitchells übrige arbeiten kennt.
und die "iphigenie" wurde wohl gerade wegen ihrer innovativität so schnell wieder abgespielt und abgesetzt. wielers "prometheus" fand ich da spannender.

und wieso ist "textaufsagetheater" kein theater?
Stegemann über Stadttheater: schauen und hören
@ Hans Wurst:
"altbacken": wieso ist das schlecht? Glauben Sie immer noch, dass die Welt seit Adam und Eva kontinuierlich besser geworden ist?
"wer Frau Mitchells Arbeiten kennt" - da müssten wir uns erst einmal darüber unterhalten, ob wir das Phänomen "Stil" für etwas Gutes oder Schlechtes halten. Wenn ich einen Picasso kaufe, will ich ja auch, dass er wie Picasso aussieht und nicht wie Matisse. Man kann also kaum so umstandslos behaupten, dass jemand schlecht ist, nur weil er einen Stil entwickelt hat. Das ist ein echtes Problem. Da muss man schon ein bißchen nachdenken. Da kommt man nicht mit jokes und privaten Befindlichkeiten drüber hinweg.
"so schnell wieder abgesetzt" - mit dem Argument der Platzausnutzung/Nachfrage weist man nach, dass Lady Gaga, Madonna, Prince die Spitze menschlicher Kultur bezeichnen und Büchner, 80 Jahre nicht gespielt, ein Stümper war.
"wieso ist Textaufsagetheater kein Theater?" - Weil Theater bereits bei den Griechen von dem Verb theaein - schauen kommt und auch in den folgenden 2500 Jahren immer ein Spiel zum Schauen war. Selbst im Barocktheater mit seinen Gesten und Posen und Wortarien. Für's Textaufsagen gab's bei den Griechen das Odeion von odein=Deklamieren. Und auch diese Tradition hat sich über 2500 bis zu unseren Rezitationsabenden gehalten. Sollten Sie ein theaterwissenschaftliches Seminar besucht haben, werden Sie mir jetzt unter die Nase reiben, dass auch ein Rezitationsabend performative Elemente hat. Aber das nennt dieselbe Wissenschaft dann eine Performance und nicht Theater.
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