Faust I - Stephan Kimmig inszeniert in Stuttgart zur Saisoneröffnung einen Goethe-Jelinek-Mix mit halluzinogenen Pilzen
Gott pumpt Höllendampf
von Verena Großkreutz
Stuttgart, 7. Oktober 2017. Da kotzt er ins keimfreie Weiß der heiligen Halle, die sich auf der Bühne immer wieder um sich selbst dreht: Faust, der Klassiker, in weißer Hose und weißem Hemd, kotzt zwischen die abstrakt verschlankten Säulen und damit vor seine eigene Haustür, würgt, bis die Tränen kommen. Der Kunsttempel ist Fausts Heim an diesem Abend im Stuttgarter Schauspielhaus.
Stephan Kimmig hat Goethes "Faust I", der Deutschen liebste Zitate-Enzyklopädie, in der Jetztzeit angedockt, auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt. Die Leere des klassizistischen Tempels wird später gefüllt. Mit "Sinngebern" unserer Zeit, in Gips gegossen und ausgestellt, als seien es griechische Skulpturen: ein Goldbarren, ein Smartphone, ein phallisch in die Höhe ragender Lippenstift, ein Hometrainer.
Vier Personen teilen sich alle Rollen. Gretchen ist auch Gott, Mephisto eine Frau. Zwei Männer spielen Faust, ein alter (Elmar Roloff) und ein junger (Paul Grill). Verjüngung gibt's nicht. Die Fausts geben den Monolog "Hab nun, ach!" gemeinsam, dann übernimmt der jüngere. Kimmigs Faust ist nicht auf der Suche nach unermesslichem Wissen. Paul Grill drechselt, rezitiert, schreit seine Verse oft wie im Wahn, wie im Rausch: Faust als Hedonist, der Sinnleere mit Kokain und halluzinogenen Pilzen stopfen will. Ist er erstmals in Mephistos Fängen ("Ich bin der Geist, der stets verneint!"), gleicht das einem Partygespräch. Faust im Yogasitz, Mephisto in der Hocke an die Wand gelehnt.
Mephisto liest Adorno
Eine cleane Welt, leer, kalt – Schwarz und Weiß die einzigen Farben. Mephisto ist eine Mephista. Hat alles gesehen und das immer wieder, ist deshalb müde, weltenmüde. Dann wieder aggressiv. Natürlich schlauer als Faust – hat Adorno gelesen! Sandra Gerling als Mephista ist groß. Verleiht dem Teufel ungewöhnliche Facetten: Etwa wenn sie ihre überlegen klugen, vielzitierten Sätze ironisch dehnt und verzerrt, als gingen sie ihr selbst schon längst auf die Nerven – so wie das lästige Dienen, auch wenn es zum Wohle des Bösen ist. Macht sieht anders aus. Ihr Zynismus zielt auch auf die eigene Lage. Schon vor Beginn sitzt sie mit einem schwarzen Pudel auf der Bühne, der aufs lustlos ausgerufene "Platz, Sitz, Fass" nur müde blinzelt. Und wer glaubt schon an Magie? Ja, eine glänzende Mephista ist Gerling, mit präziser Bewegungskomik. Steht oft da, als trage sie die ganze Last der Welt auf ihren Schultern. Nein, es ist kein Spaß, der Teufel zu sein. Als habe Faust sein Alter auf sie abgeworfen.
Aufs Gretchen wartet man lange. Stattdessen Fritzl-Grauen. Kimmig kombiniert Goethe mit Ausschnitten aus Jelineks "FaustIn and out", ihrem Kommentar zu Goethes "Urfaust". Fritzl, der seine Tochter 24 Jahre lang in einem Kellerverließ quälte und vergewaltigte, wird Faust gleichgesetzt, der den Tod von vier Menschen, die Auslöschung einer ganzen Familie zu verantworten hat. Fritzl und Faust – beide getrieben von der Gier nach Allmacht. Die Szenen verschmelzen ineinander – Rollenswitching inbegriffen.
Faust lernt Gretchen im performativen Rahmen nach der Pause im Foyer kennen: Da singt Gretchen, sich selbst auf der Klampfe begleitend, originellerweise den Depeche-Mode-Song "Personal Jesus" ins Mikro. Faust, inmitten des Publikumspulks, ist paralysiert von ihrer Erscheinung, kann kaum an sich halten, schreit sein "Mein schönes Fräulein, darf ich wagen ..." euphorisiert heraus.
Blonde Zöpfe, aber nicht blöde
Gretchen ist kein armes Opfer. Auch wenn ihr Ende vorhersehbar ist. Ob Fritzl-Tochter oder Gretchen: Lea Ruckpaul spielt sie selbstbewusst, überlegen. Wirkt reflektiert, nicht naiv. Ihre Zöpfchenperücke, die sie für die Gesangseinlage trug, legt sie auf der Bühne wieder ab. Blonde Zöpfe – ein sanfter Hieb in Richtung "Faust"-Rezeption. Genauso wie die expressive Filmszene, die einmal auf die Tempelwand projiziert wird: Fausts Erdgeist-Beschwörungsszene aus Friedrich Wilhelm Murnaus genialem Stummfilm "Faust" von 1926. Der Umgang mit Klischees ist spielerisch: Mephista humpelt pferdefüßig, weil ein Schuh einen höheren Absatz hat. Gott pumpt höchstpersönlich Höllendampf in die Szene.
Keine Frage: Der Abend ist kurzweilig, und die Kombination aus Originaltext, Improvisationen und Jelinek-Kommentar funktioniert. Dank des großartigen Ensembles, aber auch dank der Bühnenmusik von Malakoff Kowalski, der für fließende Übergänge und eine gewisse Leichtigkeit sorgt und durch prächtige Gesangseinlagen zur Grunge-Gitarre begeistern kann: trefflich die Songauswahl mit einer Menge Subtext. Etwa "My wild love" von den Doors, in dem es heißt: "She rode all the day / She wrote to the devil / And asked him to pay / The devil was wiser / It’s time to repent / He asked her to give back / The money she spent."
Faust I
von Johann Wolfgang von Goethe
mit Texten aus Elfriede Jelineks "FaustIn and out"
Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Sigi Colpe, Licht: Wolfgang Göbbel, Musik: Malakoff Kowalski, Dramaturgie: Bernd Isele.
Mit: Sandra Gerling, Paul Grill, Elmar Roloff, Lea Ruckpaul, Malakoff Kowalski (Live-Musik).
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.schauspiel-stuttgart.de
Einer "zwar radikalen, aber doch klugen Behandlung unterzieht" Regisseur Stephan Kimmig den Goethe, berichtet Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (9.10.2017). Von der Stückhandlung bleibe nur ein "Gerüst" und von der riesigen Personage nur „ein famos aufspielendes Quartett, das vom ebenso famosen Bühnenmusiker Malakoff Kowalski zum Quintett aufgestockt wird“. Eine "Brisanz" entfache der Dramenklassiker an diesem Abend, "auch deshalb, weil die Inszenierung – von der 'Zueignung' abgesehen – von Anfang an virtuos mit Kälte spielt: einer Kälte des Sprechens, der Gefühle, der Atmosphäre".
Mit "unkonventionellen" Bildern baue Kimmigs "kantige" Inszenierung eine "Welt der Unerwartbarkeiten" auf, schreibt Sabine Fischer in den Stuttgarter Nachrichten (9.10.2017). Spielerisch werde mit der "scheinbar übermächtigen Bedeutungslast" des Goethe-Textes gebrochen. Kimmig öffne "geschickt der Raum für neue Perspektiven: Denn was in dieser sezierten Form von der Tragödie übrig bleibt (...), sind vor allem die fanatischen Allmachtsfantasien eines Mannes, der in seiner selbstzentrierten Dauerdepression nicht merkt, dass der Showmaster eine Frau ist (die Anspielung zielt auf den Mephisto von Sandra Gerling, Anm. Red.)“.
Einen Abend in "einer sterilen Farblosigkeit" besuchte Martin Halter für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (9.10.2017). "Goethe und Jelinek: das passt wie der weiße 'Faust' aufs schwarze Auge, wie vier Fäuste für ein postdramatisches Halleluja." Die klugen und selbstbewussten Frauenrollen überzeugen den Kritiker; die Faust-Gestaltung eher weniger. Manches an diesem Abend wirke "beliebig und improvisiert". Kimmig stelle "Faust", das "gipserne Ausstellungsstück aus dem Antikenmuseum", "mutig ins helle Licht der Gegenwart. Aber dort ist es dann so verloren wie ein Katzenklo in der Hundehütte".
"Kimmig stellt in seinem 'Faust' ambivalente, gespaltene Charaktere zur Debatte"; das mache den "Thrill" dieser Inszenierung aus, schreibt Otto Paul Burkhard in der Südwest Presse (9.10.2017). Die Schauspielleistungen werden ebenso gewürdigt wie verschiedene "rätselhafte Bildchiffren fürs Auge: Glocke, Riesenmobiltelefon, Feingoldbarren und einen überlebensgroßen Pfau – Symbol für Liebe, Leidenschaft und Eitelkeit". Fazit: "gutes Theater, widersprüchlich und nicht bescheidwisserisch".
Einen "feministischen" Faust hat Adrienne Braun für die Süddeutsche Zeitung (17.10.2017) in Stuttgart gesehen. Die Kritikerin moniert "Längen und überflüssige musikalische Passagen" und merkt an, dass der Abend Kennerschaft des Goethe-Textes voraussetzt (dann sei es allerdings "eine vergnügliche Herausforderung, die Textfragmente zuzuordnen"). Kimmigs Konzept erweise sich insgesamt "als klug". Der Regisseur entkomme "den ewigen Rollenstereotypen, die auch Goethe bei seinem Budenzauber bediente. Bei Kimmig steht nicht mehr der Mann im Zentrum, Gott und Teufel werden von Frauen gespielt, die Geschlechter sind gleichauf."
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Nun, das Stück ist maximal ambitioniert: Die Verbindung des historischen Leitkulturträgers Goethe mit Elfriede Jelinek, die zur modernen Anti-Leit-Kultur gehört und eine herausragende Stellung als Kritikerin des bestehenden und nicht nur kulturellen Unrechts einnimmt.
Kann das gelingen, der Repräsentant des um die Macht kämpfenden trifft auf eine scharfe Kritikerin des untergegangenen Bürgertums, wenn denn der „Bürger“ in seiner Praxis je viel mit Humanität zu tun hatte?
In Goethes Zeit ein notwendiger ideologischer Überschuss der gegen den Feudalismus kämpfenden Klasse, kämpfte diese heute einen ganz anderen Kampf gegen die sogen. 99 Prozent.
Freilich hat Goethe seinen Faust nicht geschont, so wie Jelineks Textbausteine die Erinnerung an den Fall Kampusch hervorrufen, die heutige Grete.
Man kann Faust nicht mehr aufführen, der Text ist zu bekannt, ständig eilen im Kopf die nächsten Zeilen voraus. Unmöglich sich des Inhalts erneut zu vergegenwärtigen; unmöglich auch dem anti-theoretischen und antiintellektuellen Affekt Fausts innezuwerden, auch wenn ganz zu Anfang an Adorno erinnert wird.
Auf der Bühne dreht sich alles, die Drehbühne wird maximal ausgenutzt, vielleicht eine Hilfestellung für deren große Schwester in der Oper, die schwächelt und der dringenden Renovierung bedarf. Die in der zweiten Reihe versammelte grüne Blase wird die Botschaft wohl gehört haben...
Dazu kommen die vielen Schiebetüren, die ständig hin und her geschoben werden, da ordentlich Dynamik simuliert wird. Als würde das nicht ausreichen, rennt Faust um den Drehbühnenaufbau herum als gehe es um sein Leben. Faust wird geteilt auf zwei Figuren (alt und jung), die alte spielt den Wagner gleich mit, wie auch Frau Gott noch Gretchen spielt, wenn ich das richtig mitbekommen habe, übrigens ist auch der Teufel eine Frau.
Wenn sich in den besten Zeiten des patriarchalischen Theaters, manchmal durchaus kritisch intendiert, die Frau entkleidete, so macht dies heute der Mann. Das ist so berechenbar wie die kommende Pause, aber keineswegs so erfrischend.
Es gibt zwei Teile, beim zweiten kam nicht nur bei mir etwas Müdigkeit auf. Irgendwann begann auch das Symbolistische oder besser Unverständliche zu wuchern, aber das gehört doch zu Goethe oder ? - wir sahen ein großes Kindersmartphone usw. und ganz zum Schluss einen Pfau, nicht echt, während zu Beginn der Pudel echt war! Und schonmal Anfangsympathie einbrachte.
Wir sehen auch die Arbeiter beim partiellen Bühnenabbau, freilich, was als Element (Verfremdung etc.) schonmal Sinn gemacht hat, verpufft im postmodernen Theater zum Pausenfüller, zur sinnfreien Zusatzunterhaltungsnummer. Aber haben die Arbeiter heute mehr zum sagen als bei Faust? Das war wohl die Sozialkritik im Stück.
Der Stück war weder richtig Goethe noch richtig Jelinek, man kann den heroischer Anfang einer Klasse und deren trübes Ende nicht zusammenzwingen, Aufstieg und Fall wäre ein anderes Stück gewesen. So endet auch diese Stück in der Ära Petras mit leerem Aktionismus und ebensolcher Symbolik.
Eher pflichtbewusster Beifall.
wird messerscharf untersucht und ausgeleuchtet, aber nie besserwisserisch oder mit dem Zeigefinger. Die Spieler sind gedanklich und sprachlich klar, leuchten, und spielen mit einer unglaublichen Intensität miteinander. Ein wunderbarer, herausfordernder Theaterabend. Danke, Herr Kimmig, Danke, Herr Petras.
(Werte Wienerin, vielen Dank für den Hinweis auf die SZ-Besprechung. Sie ward sogleich ergänzt. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)