Love Me Gender

23. September 2023. Sie wollen leben und lieben, aber irgendwie wird das nichts damit. Verstrickt in Rollen und Ambitionen rackert sich Shakespeares Personal vergeblich an seinen Lebens- und Liebesversuchen ab: Regisseur Burkhardt C. Kosminki hat sich auf die dunklen Seiten der Komödie konzentriert.

Von Steffen Becker

"Was ihr wollt" am Schauspiel Stuttgart © Toni Suter

23. September 2023. "Oh, it's such a perfect day / I'm glad I spent it with you". Zeilen aus einem Pop-Rock-Klassiker von Lou Reed. Dutzendfach gecovert und allein schon deshalb eine gute Wahl für eine von jährlich dutzenden Inszenierungen des Shakespeare-Klassikers "Was ihr wollt“.

Zugleich setzt die Entscheidung von Regisseur Burkhard C. Kosminski, das Lied zum Titelsong zu machen, subtil den Ton seiner Inszenierung. Vordergründig eine Liebesschnulze, melodisch aber in Moll gehalten – die Art von Song, die man hört, wenn man alles andere als einen "perfect day“ hat.

Wahres Geschlecht, wahre Gefühle

Am Schauspiel Stuttgart steht denn auch die Melancholie, die "dark comedy" des Werks im Fokus: Menschen haben ihr "perfect match" vor Augen, verbringen ihre Tage mit dem Objekt der Sehnsucht, aber können nicht ihr wahres Geschlecht und/oder ihre wahren Gefühle offenbaren. Für Kosminski sind Shakespeares Figuren nicht von Konventionen befreite Menschen, die im freizügigen Illyrien ein paar Kinks ausprobieren. Sie sind Gefangene ihrer Rollen. Die schiffbrüchige Viola kann den Herzog Orsino nicht offen lieben, weil sie ihm als Diener Cesario gegenübertritt. Die Liebe der vom Herzog begehrten Gräfin Olivia kann sie nicht erwidern, weil sie eine Frau ist.

Leiden und Leiden lassen

Nix ist in Stuttgart mit "Love has no gender". Man wohnt einem Klassiker bei, was auch vom großzügigen Einsatz der guten, alten Masken-Schminke unterstrichen wird. Also muss Paula Skorupa als Viola/Cesario (und auch zu sehen als ihr Zwilling Sebastian) vor allem leiden und Leid erzeugen. Das tut sie mit Hingabe. Besonders berührend in den Zwillingsmomenten, wenn sie im Auftrag ihres Herren Gräfin Olivia intensivst umarmt, nur um sich wenig später in deren Pose – quasi spiegelverkehrt – in des Herzogs Arme zu drapieren.

Starke Buffo-Charaktere: Christiane Roßbach (Maria), Anke Schubert (Sir Toby), Klaus Rodewald (Sir Andrew), Felix Strobel (Narr) ©Toni Suter

Hier zahlt sich aus, dass der Moll-Ton der Inszenierung von den unvermeidlichen Kalauermomenten nicht überlagert wird. Die punktuelle Ruhe lässt Raum für Details. Gut so. Eine Szene wie zwischen Cesario/Viola und dem Narr (Felix Strobel) wäre in einer reinen Slapstick-Inszenierung sicher untergegangen. Gemeinsam pfeifen sie vom Bühnenrand, er durchschaut sie, sie führen ein warmes, nur halb-verdecktes Gespräch über Geschlechtsidentitäten. Und die Chemie knistert dermaßen – fast wäre man versucht reinzurufen "Nehmt euch ein Zimmer" (und installiert bitte ne Kamera).

Ambitionen auf die Gräfin

Überhaupt legt Regisseur Kosminski seinen Schwerpunkt eher auf die Nebenfiguren. Breiten Raum nehmen die "Fuckbuddys" Sir Toby (Gräfin Olivias Onkel, gespielt von Anke Schubert) und Olivias Zofe Maria (Christiane Roßbach) ein. Drecksau-mäßig liebenswert (und lustvoll gespielt) nehmen sie Olivias Haushofmeister Malvolio mit einer Intrige auseinander. Sie sind das einzige Paar, das die Konventionen wirklich abstreift. Er ist eh schon drüber, sie hat Status-mäßig nichts zu verlieren. Der eitle Geck Malvolio hingegen endet mit seinen unbotmäßigen Ambitionen auf die Gräfin in der Demütigung. Immerhin: Sein Darsteller Matthias Leja bekommt sowohl für die schrillen Hybris-Momente wie für die tiefe Verletztheit am Ende Szenenapplaus.

Was ihr wollt 3 Toni SuterVerstrickung der Elemente: Felix Strobel (Narr), Paula Skorupa (Viola), von hinten: Peer Oscar Musinowski (Orsino) © Toni Suter

Die eigentlichen Haupt- und Überkreuz-Liebenden Olivia (Katharina Hauter) und Herzog Orsino (Peer Oscar Musinowski) bleiben dagegen blass – als hätte die Inszenierung irgendwann auf der Strecke das Interesse an ihnen verloren. Es bleibt nicht deren einzige Schwäche. Zu Beginn überzeugt die Bühne mit einer Spiegelkonstruktion, die sowohl die Figuren vervielfacht (Spiel der Identitäten) als auch die Zuschauer sichtbar macht (quasi als Projektionsfläche – was wollt ihr denn?).

Später ermöglichen rote Vorhänge Versteckspiele und sorgen buchstäblich für Verstrickungen. Der Wechsel zwischen beiden Elementen wirkt aber mit zunehmender Dauer willkürlich und auch die Inszenierung zerfasert nach hinten raus in einen schnell noch hingehudelten Schluss. Was ihr wollt? Das Publikum bekommt seinen klar erkennbaren Klassiker. Insofern: "A perfect day“ – aber eben in Moll.

Was ihr wollt
von William Shakespeare
Deutsch von Jürgen Gosch und Angela Schanelec
Regie: Burkhard C. Kosminski, Bühne: Florian Etti, Kostüme: Ute Lindenberg, Musik: Hans Platzgumer, Choreografie: Louis Stiens, Dramaturgie: Gwendolyne Melchinger.
Mit: Peer Oscar Musinowski, Paula Skorupa, Katharina Hauter, Christiane Roßbach, Felix Strobel, Anke Schubert, Klaus Rodewald, Matthias Leja, Boris Burgstaller.
Premiere am 22. September 2023
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

Kritikenrundschau

"Voller Witz und Spielfreude" habe das "glänzende Ensemble ausnahmslos gezeigt", wie viel "komisches Potenzial" in diesem Stück liege, lobt Dorothee Schöpfer in den Stuttgarter Nachrichten (24.9.2023). "Aber dass (Matthias) Leja den gebrochenen Hofmeister später auch als tief leidende Figur zeigt, die eben mehr ist als nur ein Hanswurst, gehört ebenfalls zu den Stärken dieser Inszenierung", so die Kritikerin, die insgesamt begeistert ist: "Was für ein Vergnügen, dabei gewesen zu sein!"

Mit Hilfe seines Bühnenbildners Florian Etti schaffe Kosmiski große, sinnfällig einleuchtende Bilder, findet Roland Müller im Südkurier (26.10.2023). Diese sehr geglückten Kosminski-Inszenierung gebe Shakespeare, was Shakespeare gebührt: "das voll komische Leben in m/w/d".

"Kosminskis Regie lebt von der Vielfalt der Register", lobt auch Otto Paul Burkhardt in der Südwest Presse (25.9.2023). Das kipplige Hin und Her zwischen derb und poetisch, zwischen obszön und lyrisch, zwischen Klamauk und zarten Gefühlen funktioniere gut und schlage Funken. "Kosminski steuert ruhig durch, meidet verkrampfte Witzigkeit, plakative Erotik und besserwisserische Zutaten. Das Ensemble? Agiert lebensprall mit Volkstheater-Flair, mit wachem Sinn für Sehnsüchte und Abgründe."

Man könnte meinen, das Stück "sei eine tolle Vorlage, um gewitzt ein paar der gegenwärtigen Diskurse zu verhandeln", so Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (26.9.2023). Danach sehe es zunächst auch hier aus: "Kosminski lässt Paula Skorupa beide Zwillingsgeschwister spielen, also Viola und Sebastian, die Frage des Geschlechts ist also nur noch eine des Anzugs." Das aber führe nurmehr "zu einer burlesken Verwechslungskomödie", alles bleibe "an der Oberfläche eines Theaters, das kaum tief in die Figuren blicken will". Interessant jedoch sei, wie Kosminski jene "Melancholie" andeute, "die man verstehen kann als die sanfte Trauer darüber, nicht aus der eigenen Haut zu können", so der Kritiker.

Zu Beginn des Stückes gehe es "ein bisschen arg klamaukig zu", fragt man Rezensentin Sophia Volkhardt, die auf SWR 2 (25.9.2023) über den Abend berichtet. Doch "bringen spätestens die musikalischen Einlagen des Narren – genial tragisch komisch gespielt von Felix Strobel – melancholisch düsteren Tiefgang in die Slapstickkomödie". Die Inszenierung sei ein rasanter Trip. Das Stück lebe vom Wechsel zwischen den boulevardesken Momenten des "durch die Bank mitreißenden Ensembles, bei denen eine Pointe die nächste jagt – die größtenteils auch zünden - und den stillen Momenten der Erkenntnis", findet die erfreute Kritikerin.

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