Die Welt ist eine Scheibe

3. April 2023. Ist er nun Gottes Sohn und der versprochene Erlöser oder nicht? Das ist die Frage, die im Zentrum der Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach steht. Der Regisseur Ulrich Rasche deutet sie als Drama einer zerrissenen Gesellschaft, die blind für die Lektionen der Geschichte ist.

Von Verena Großkreutz

"Johannespassion" von Johann Sebastian Bach an der Staatsoper Stuttgart © Matthias Baus

3. April 2023. Sie dreht sich, die Scheibe. Auch für Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion bringt Ulrich Rasche wieder die Bühnenmaschinerie in Gang. Aber nicht so spektakulär wie sonst. Die Drehbühne des Stuttgarter Opernhauses rotiert ganz gemächlich – und nicht in Schräglage oder ergänzt durch weitere kreisende Spielflächen.

Aber weil Rasche den "Walking Bass" des Barock, den Basso continuo, ganz wörtlich nimmt, ist es auch in seiner aktuellen Inszenierung so, dass die Menschen auf der Bühne immer in Bewegung sind: schreiten, gehen, wandern – steif, bleifüßig, wippend, erhaben, geschmeidig, elegant oder hüftschwingend, aber immer gleichmäßig, im langsamen Tempo und im Takt der Musik, mal mit der Scheibe, meist gegen ihren Lauf. Langsames Schreiten ist der Grundrhythmus dieses Theaterabends: die ganzen zwei Stunden lang, ob im Chor oder solistisch – vom mächtigen, komplexen "Herr, unser Herrscher“-Eingangs-Chor bis zum einfachen Schlusschoral "Ach Herr, laß dein lieb Engelein“. Ob mensch das ennuyierend oder für die meditative Versenkung nützlich findet, ist wohl Geschmackssache.

Stumme Hilfeschreie? Demutsgebärden? Gebete?

Christi Leidensgeschichte im Theater: Bei Rasche bleibt’s natürlich abstrakt, kreuzfrei, bei komplettem Verzicht auf christliche Symbolik. Bachs Jesus gerät beinahe zur Nebenperson. Sein Tod wird unspektakulär inszeniert: Der Bass Shigeo Ishino in der Rolle des Justizopfers zieht sich in gebeugter Haltung zurück in den Schattenbereich der Bühne. Einen Special-Effect als überirdische Antwort auf seine Hinrichtung gibt es aber trotzdem. Von oben knallt ein Staubsand-Gemisch auf die Bühne: Nebelinferno – inszenierte Totenstille – dann erste Huster im Publikum.

Ansonsten: Die Kostüme sind zeitlos einfach. Die Bühne ist leer und düster, die Nebelmaschine ständig im Einsatz, samt Scheinwerfer-Effekten. Beleuchtete, längliche Rechteck-Objekte in grellen Farben sinken vom Schnürboden herab und werden wieder hochgezogen. Mal blutrot, mal meerblau, mal hoffnungsgrün. Mal einzeln, mal als Gruppe, mal zwei-, mal dreidimensional. In Formationen, die Mauern ergeben oder Trennwände, die Keile treiben zwischen die Menschen – es geht ja bei Bach um das Drama einer gespaltenen Gesellschaft, um Israeliten und römische Besatzer, um Fans und Hasser von Jesus. Dann wieder dienen die Objekte als Leuchtrahmen oder als Projektionsfläche für Schwarz-Weiß-Filmchen, die ein gen Himmel gerecktes Händepaar zeigen, das sich auch mal ineinander verknetet und wieder löst. Stumme Hilfeschreie? Demutsgebärden? Gebete? Alles assoziationsoffen.

Johannes2 c Matthias Baus u© Matthias Baus

Der Chor ist das Volk. Rasche teilt ihn in Jesus-Gegner:innen (schwarz gekleidet) und Jesus-Gefolge (in weiß). Alles streng choreografiert: das Endlosschreiten auf der Drehbühne, später, wenn das Volk zu Wutbürgern mutiert, agiert es in Gruppen aus dem Hintergrund. Am Ende, im Schlusschoral, tut sich ein schmaler Lichtspalt auf rings um die Scheibe: Hoffnung auf Erlösung, auf eine bessere Welt? Der Chor zieht nun vereint in durchweg weißer Kleidung seine Runden auf der Drehbühne. Eine Gruppe schleppt trauernd einen Leichnam, gehüllt in schwarze Tücher, mit sich.

Mitleiden am Schicksal Jesu

Streng formal auch die Bewegungen der Solist:innen: Elegant und erhaben scheint etwa Andreas Wolf als Pilatus über die Bühne zu schweben, seine Bassbariton-Partie stimmlich veredelnd. Der Evangelist dagegen tritt stets seitwärts laufend und beinkreuzend auf, die Hände fest auf die Oberschenkel pressend. Aber was für eine Stimme: Moritz Kallenberg ist ein verdammt guter Evangelist. Immer aufgewühlter und empörter zeigt er sich über das katastrophale Fehlverhalten der Menschheit: Frei, kraftvoll entfaltet sich seine klangschöne Tenorstimme, höhensicher, dramatisch, ausdauernd.

Besonderes Augenmerk legt Rasche auf die vielen empfindsam-reflektierenden Arien. Er lässt die Interpret:innen mittig auf düsterer, leerer Bühne agieren: mitleidend am Schicksal Jesu. Einsam, sehr emphatisch singend, mit schmerzerfüllter Gestik, gebeugt schreitend, können sich die Sopranistin Fanie Antonelou, die Altistin Alexandra Urquiola, der Tenor Charles Sy und der Bariton Johannes Kammler eindrucksvoll und berührend in Szene setzen – die eine oder der andere wird freilich manchmal vom Orchester übertönt, das gelegentlich zu laut aus dem Graben schallt.

Johannes1 c Matthias Baus u© Matthias Baus

Rasche hebt den politischen Mord an Jesus auf eine allgemeine, zeitlose Ebene. Die Menschheit dreht sich im Kreis, lernt nichts aus der Geschichte, aus all den von Menschen verschuldeten Tragödien. Die Gewalt des Kollektivs, wie es sich in der Bach’schen Passion zeigt, findet Rasche heute im rechts marschierenden Wutbürgertum. Auch unsere Gesellschaft sei gespalten.

Kreuzigung der Musik

So weit, so gut. Problem: Rasche überträgt seine am Sprechtheater erprobte Ästhetik auf ein komponiertes Werk. Sein Inszenierungsstil steht für die Musikalisierung des Schauspiels, die Synkronisierung von Körper, Sprache und Rhythmus, für Sprechchöre. Da macht die Sprache die Musik und nicht umgekehrt.

Bei Bach sieht’s anders aus. Da muss Rasche nichts musikalisieren, sondern die Musik zu ihrem Recht kommen lassen. Das gelingt ihm in den Chornummern nur bedingt. Schon der ausladende Anfangschor "Herr, unser Herrscher“ gerät zum musikalischen Desaster. Derart Polyphon-Komplexes lässt sich offenbar nicht so einfach umsetzen, wenn sich die Beteiligten gleichzeitig darauf konzentrieren müssen, sich – weit verteilt im Raum – im Gleichtakt auf kreisender Drehbühne fortzubewegen.

Da kann der Barockspezialist Diego Fasolis am Dirigierpult im Graben noch so sehr den Taktstock schwingen, um den Chor mit sich selbst und dem im großen Ganzen recht manierlich spielenden Staatsorchester in Einklang zu bringen. Ganz zu schweigen von den aufbrausenden "Kreuzige“- und anderen Turba-Chören, in denen extreme rhythmische Ballungen und schneidende Dissonanzen zu bewältigen sind.

Da geht so gut wie alles schief im Chor, der zu diesem Zeitpunkt auf der Hinterbühne platziert ist. Die Stimmen kommen oft zeitversetzt beim Publikum an, das Klangbild ist äußerst diffus und schwammig. Und das im musikalisch interessantesten Part der Johannes-Passion. Ärgerlich, und wirklich schade.

Johannes-Passion
von Johann Sebastian Bach
Regie & Bühne: Ulrich Rasche, Musikalische Leitung: Diego Fasolis, Kostüme: Sara Schwartz und Romy Springsguth, Choreografie: Toni Jessen, Video: Florian Seufert, Licht: Gerrit Jurda, Chor: Manuel Pujol, Dramaturgie Franz-Erdmann Meyer-Herder.
Mit: Moritz Kallenberg, Shigeo Ishino, Andreas Wolf, Fanie Antonelou, Alexandra Urquiola, Charles Sy, Johannes Kammler, Kyriaki Sirlantzi, Linsey Coppens, Maximilian Vogler, Andrew Bogard, Michael Nagl, Staatsopernchor Stuttgart, Staatsorchester Stuttgart.
Premiere am 2. April 2023
Dauer: ca. 2 Stunden, keine Pause

www.staatsoper-stuttgart.de

Kritikenrundschau

"Keinerlei Realismus in der Aktion, es ist ein archaisches Spiel wie in einer antiken Tragödie", schreibt Jürgen Kanold in der Südwest Presse (4. 4. 2023). Nur Shigeo Ishino, "der mächtig männlich den Jesus singt", erscheine als Misshandelter mit farbüberströmter Brust. Moritz Kallenberg ist als Evangelist der Anführer dieser Gemeinschaft: klug, souverän, lässig bis tief erschüttert, verzweifelt ober der Geschehnisse: Der Tenor formt diesen Part beeindruckend - ein Evangelist nicht als Berichterstatter, sondern als Mensch mit Gefühlen. Dazu ein junges Ensemble, bemerkenswert nicht zuletzt Charles Sy in den Tenor-Arien." Mit Diego Fasiolis dirigiere ein Schweizer Barockspezialist: "zupackend, mit Tempo, drastisch. Man muss sich an die akustischen Bühnenverhältnisse aber gewöhnen, der Klang des Chors mit seinen dramatischen Einwürfen und rekapitulierenden Chorälen ist ferner, teils unfokussierter als bei einer zentralen Konzertaufstellung. Die Wirkung ist tatsächlich opernhafter, bilderreich. Johann Sebastian Bach aber, klar, hat eine Musik geschaffen, die über allem steht."

Ulrich Rasche scheine hier "d'accord mit der gläubigen Verkündigung", und doch entziehe sich sein "monumentaler Minimalismus der Festlegung auf eine konfessionelle Lesart", schließe sie allerdings auch nicht aus, meint Kritiker Martin Mezger in den Stuttgarter Nachrichten (4.4.2023). Rasches Formalismus lade sich an diesem Abend "symbolisch auf". Musikalisch heiße "Bach nach Stuttgart tragen", den Vergleich mit den einschlägigen örtlichen Kräften herauszufordern. "Und da hängen am Staatsoperneinsatz einige Bremsklötze", so Mezger. "Akzeptabel" seien die klein besetzten Choräle, alles Weitere: "ein mau artikuliertes Gewummer im verklumpten Klang, als wäre die Bach-Interpretation um Jahrzehnte zurückkatapultiert worden", fasst der Kritiker das musikalische Erlebnis zusammen.

Der Chor schreite im Puls der Musik, getrieben vom "exzellent aufgelegten Staatsorchester", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (4.4.2023). Die enorme Leistung dieses Abends sie die "Vergegenwärtigung des szenischen Gehalts von Bachs Musik allein durch diese selbst", meint der Kritiker. Musikalisch gebe es nichts zu meckern, bei keinem der Solisten, keiner Solistin, schon gar nicht dem Chor.

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