Tannhäuser - Bayreuther Festspiele
Wieviel Revolution ist möglich?
von Georg Kasch
Bayreuth, 25. Juli 2019. Mit diesen Kunstrevoluzzern würde man gerne mal durch die Welt brausen: eine coole, schöne, selbstbewusste Frau Venus am Steuer, neben ihr Clown Tannhäuser, der aussieht, als hätte Ronald Macdonald zu viel gefeiert, hinten die schwarze Dragqueen Le Gateau Chocolat und der Blechtrommler Oscar. In jenem kastenförmigen Citroën, in dem einst Marina Abramovic und Ulay jahrelang unterwegs waren, bringen sie Plakate und Flyer mit den Wagner-Worten "Frei im Wollen, frei im Tun, frei im Genießen" unters Volk und nieten dabei auch schon mal einen Jägerzaun um. Oder einen Polizisten. Das ist der Tabubruch, bei dem Tannhäuser aussteigt in Tobias Kratzers Inszenierung von Richard Wagners "Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg".
Deutschland sucht den Superminnesänger
So wie Barrie Kosky vor zwei Jahren in den Meistersingern den Wagner-Clan und dessen Entourage zu Handelnden machte, werden hier die Bayreuther Festspiele selbst zum Motiv: Das Theater ist die Wartburg, das Umfeld, aus dem Tannhäuser stammt. Damit macht Kratzer nicht – wie in Wagners Textbuch – Tannhäusers Unfähigkeit zum Thema, sich zwischen Hure (Venus) und Heiliger (Elisabeth) zu entscheiden. Sondern den Konflikt zwischen Revolution und Kunstreligion.
Bei Wagner verlässt Tannhäuser das endlose Leben von Sex und Lust aus Überdruss. Am Hof der Wartburg konkurriert er beim Sängerwettstreit um Elisabeth. Sie liebt ihn, er liebt sie. Aber als er bei "Deutschland sucht den Superminnesänger" der Reihe ist, die ideal-keusche Liebe zu preisen, bejubelt er ausgerechnet Venus. Skandal! Die Wartburggesellschaft verstößt ihn, Tannhäuser pilgert nach Rom, aber der Papst nimmt seine Reue nicht an. Am Ende rettet ihn die sterbende Elisabeth durch ihre Fürsprache bei Gott.
Eine Geschichte, die merkwürdig nach Weihrauch riecht und sich für Parodien anbietet – Nestroy und andere haben das genutzt. Dabei steckt schon ein ernster Konflikt darin: Wie viel Revolution ist möglich, wie viel Anpassung ist nötig? Statt Venusberg gibt's bei Kratzer die diverse, lustbetonte, solidarische Revoluzzer-Künstler*innengemeinschaft, so wie Wagner selbst mal 1848er-Revolutionär war. Für die Wartburg aber steht Bayreuth als Ort einer konservativen Kunstreligion.
Unter der Regenbogenfahne
Im zweiten Akt – dem Sängerwettstreit – wird die Bühne geteilt: Unten spielt die Handlung im Ritter- und Burgenstil, als sähen wir eine Inszenierung in Sepiafarben. Oben aber erleben wir dank Kameras schwarzweiß den Backstagebereich. Manuel Brauns Bilder von nervösen Choristinnen und coolen Technikern verdichten sich wundersam zu inhaltlichen Kommentaren: Wenn Elisabeth auf Tannhäuser trifft, dann leidet Wolfram, der ebenfalls in Elisabeth verschossen ist, in den Kulissen und muss erst vom Inspizienten wieder auf die Bühne getrieben werden.
Faszinierend, mit welcher Detailfreude und Genauigkeit, welchem Gespür für Binnenlogik und Pointen Kratzer und sein Ausstatter Rainer Sellmaier die Atmo im und ums Festspielhaus inszenieren: die Hitze! Die poshen Bussi-Gäste! Die vielen Polizisten! Die werden von Intendantin Katharina Wagner höchstselbst gerufen, weil der Sängerwettstreit von Venus und ihren Getreuen gestürmt wird.
Außerdem gibt’s Dank der Kunstguerilla szenisch noch ein paar Bayreuth-Debüts. So blitzt einmal auf der Bühne die Regenbogenflagge auf, und in der ersten Pause – sonst ein rein gesellschaftliches Ereignis – zelebrieren Venus, Le Gateau Chocolat und Manni Laudenbach am Teich vor dem Festspielhaus hinreißend queer ihr Kunstrevoluzzertum. Sollte es in Bayreuth eine Pride-Parade geben, könnte sie nicht schöner sein.
1 : 0 für die Revolte
Dass die Musik bei derlei Bilderfluten gelegentlich zum Soundtrack verkommt, hat vor allem mit Dirigent Valery Gergiev zu tun. Er verschleppt die Tempi, artikuliert Höhepunkte ungenau aus, bleibt oft im sängerfreundlichen, aber faden Mezzoforte. Mehrfach fliegt ihm die Sache fast um die Ohren – zu oft driften Orchester, Solisten und Chor auseinander.
Elena Zhidkovas Venus, aber auch alle anderen erweisen sich dabei als hervorragende Darsteller*innen, die sich lustvoll auf Kratzers Parallelgeschichte und ihre intertextuellen Bezüge einlassen. Stimmlich wird aus dem Sängerkrieg allerdings kein Sängerfest. Lise Davidsen beeindruckt mit enormem Volumen und einem stählernen Strahlen, das sie als Elisabeth allerdings nicht immer unter Kontrolle hat. Stephen Gould weiß nach Jahrzehnten im Geschäft, was er da als Tannhäuser singt und übersteht auch die halsbrecherische Romerzählung. Aber man hört ihm die Gebrauchsspuren doch deutlich an. Gleiches gilt für Elena Zhidkovas Venus. Auch bei den Übrigen glänzt zu wenig, was allerdings – siehe oben – auch gut am schwachen Dirigat liegen kann. So steht es auf der künstlerischen Ebene 1:0 für die Revolte.
So einfach macht es sich Kratzer auf der Inszenierungsebene aber nicht. Weder ist Elisabeth eine Heilige ohne Begehren, noch ist Tannhäuser ausschließlich für die Barrikade geeignet. Eigentlich passen sie sogar ziemlich gut zusammen jenseits des gesellschaftlich forcierten Dualismus, an dem sie im dritten Akt scheitern. Also schenken Kratzer und Braun ihnen – da sind sie längst tot – zumindest in angeschrabbelten Videobildern ein Happy End: Seit an Seit kurven sie darin im ollen Citroën Richtung Sonnenuntergang.
Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg
von Richard Wagner
Musikalische Leitung: Valery Gergiev, Regie: Tobias Kratzer, Bühne und Kostüm: Rainer Sellmaier, Video: Manuel Braun, Licht: Reinhard Traub, Dramaturgie: Konrad Kuhn Chor: Eberhard Friedrich.
Mit: Stephen Milling, Stephen Gould, Markus Eiche, Daniel Behle, Kay Stiefermann, Jorge Rodríguez-Norton, Wilhelm Schwinghammer, Lise Davidsen, Elena Zhidkova, Katharina Konradi, Le Gateau Chocolat, Manni Laudenbach.
Premiere am 25. Juli 2019
Dauer: 5 Stunden, zwei Pausen
www.bayreuther-festspiele.de
"Es ist schon unfair, dass die Eröffnungspremiere jetzt in die Musiktheatergeschichte eingeht als der Abend, an dem der Dirigent Valery Gergiev sein Bayreuth-Debüt versiebt hat," schreibt Florian Zinnecker auf Zeit-Online (26.7.2019). Dabei gebe es in Tobias Kratzers ebenso kluger wie leichtfüßiger Inszenierung ein paar ikonische Momente. "Aus der Tannhäuser-Handlung (...) macht Kratzer ein Opern-Roadmovie: packend, spannend und ziemlich lustig." Die Oper sei in klaren Konturen komponiert. "Es ist also sofort hörbar, wenn die Musiker nicht exakt zusammen spielen und singen. Unter Gergievs Leitung klingt das Ergebnis über weite Strecken unpräzise und verwaschen, nicht gestaltet, sondern eher unsicher dahingemurmelt."
"Regisseur Tobias Kratzer spielt auf der Bühne die Bayreuther Bühnengeschichte der Nachkriegszeit in Zitaten durch," schreibt Reinhardt J. Brembeck in der Süddeutschen Zeitung (26.7.2019) und spricht von einer "gelungenen Inszenierung". - während Waleri Gergijew handwerklich korrekt aber uninspiriert flach an der Partitur entlangmusizieren lasse, "keinerlei Verständnis für das große Leidenschaftsdrama auf der Bühne zeigt und dem Orchester (im Gegensatz zum Chor) nur einen hölzern analytischen Klang abwringt und in keinem Moment die Handlung vorantreibt oder gar bestimmt."
"Ein richtiger Knaller ist dieser "Tannhäuser" nicht, schreibt Martin Doerry auf Spiegel-Online (26.7.2019). "Auch Stardirigent Valeriy Gergiev hatte nicht seinen besten Tag." Darüber hinaus hat der Kritiker den Eindruck, "als ob sich der Regisseur vor den Wagnerschen Emotionen fürchtet. Wann immer Gefühle ausgedrückt und beschworen werden: Er lässt sie zumindest optisch brechen." Immer gehe es Kratzer um die Reduktion von Pathos. "Nüchternheit ist Trumpf, Komik und Witz ruinieren die Emotionen. Und dennoch: Dem neuen optisch unterhaltsamen "Tannhäuser" dürfte aus Doerrys Sicht ein längeres Leben beschert sein als der letzten "Tannhäuser"-Inszenierung von Sebastian Baumgarten aus dem Jahr 2011, die vorzeitig aus dem Spielplan verschwand.
"Leicht, biegsam, mit sprungbereiter Angriffslust, beweglicher Schwelldynamik, die gezielt in die Akzente schießt" findet Jan Brachmann von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (27.7.2019) das achtsame, glutvolle Dirigat von Valery Gergiev. Warum das Publikum ihn trotzdem ausbuhe? "[A]us politischen Gründen“, denn Gergiev gelte als Unterstützer des russischen Präsidenten Putin und als homophob. Dass Drag Queen Le Gateau Chocolat – "als dottergelbe Tüllbombe mit Bart, Busen und Königspudelfrisur" – beim "Sängerkrieg auf Wartburg" eine Regenbogen-Fahne über die Harfe werfe, ist laut "[e]in pflichtgemäßes Häkchen in der Zeile für politische Korrektheit in einer ansonsten schlauen, hochgradig unterhaltsamen Inszenierung": So "geschmackvoll, einfallsreich, pointiert und witzig“ sei Kratzers "Tannhäuser" inszeniert, "dass die Zuschauer gefesselt folgen und lachen müssen, auch wenn es am Ende bitterernst wird". Brachmann lobt die Sänger*innen: Stephen Gould als Tannhäuser sei hier "eine Kraftnatur ohne Sicherheitsnetz, bewundernswert in seiner Selbstverausgabung, ausdrucksstark in jedem Ton und jeder Geste". Elena Zhidkova, als Venus für die verletzte Ekaterina Gubanova eingesprungen, "saust im Helene-Fischer-Dress keineswegs atemlos, sondern zielsicher, mit Attacke, einem feurigen Mezzosopran und virtuosem Spiel durch die Nacht". Und Lise Davidsen als Elisabeth sei "ein Ereignis", der Star der diesjährigen Bayreuther Festspiele: "Ihre jauchzende Höhe ist klar und rein, dabei von Wärme getragen", so Brachmann, "eine junge, große Wagner-Stimme von gewinnender Schönheit, umwerfender Sicherheit und keinen Augenblick unberührt vom Drama."
"Kratzer und sein Team haben sich schlicht nicht einschüchtern lassen von der Tradition, der überwältigenden Aura des historischen Theaters und der hier noch immer virulenten Orthodoxie des Wagner-Kults", jubelt Christian Wildhagen in der Neuen Zürcher Zeitung (27.7.2019). "Sie erzählen dessen erzromantische Sage von der Zerrissenheit des Menschen zwischen Liebe und Lust, zwischen Konformität und Aufbegehren vielmehr in frechen, frischen Bildern – und tappen bei aller Ironie gleichwohl nicht in die Falle, sich und uns auf Kosten des Werks unter Niveau zu amüsieren." Dessen hohes Pathos habe immer schon zu Parodien gereizt. Aber Kratzer mache es besser: "er macht es brillant". Stimmlich überragend sei Lise Davidsen als Elisabeth von Thüringen; einige Wackler in den Ensembles und mehrere Unsicherheiten bei den Einsätzen der Solisten wie des gewohnt klangschön differenzierenden Festspielchors wohl auf das Konto von Gergievs unklaren Schlagtechnik.
"Von krassem Unterhaltungswert bei größtmöglicher Reflexion" sei der neue Bayreuther "Tannhäuser", schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (27.7.2019). Durch den Verzicht auf die religiöse Komponente falle vielvom Stück ab. "Es ist wie geschält und darunter knallfrisch." Unerwartet uninspiriert sei hingegen das Dirigat.
"Mit vielen guten Ideen, Witz, Klamauk und zutiefst melancholischen und rührenden Momenten fantasiert Kratzer seine Geschichte", so Christoph Schmitz im Deutschlandfunk (26.7.2019). Dafür nehme er manche Ungereimtheiten in Kauf, sogar Fehler. Auch dem Dirigenten Valery Gergiev gelinge vieles nicht mehr. "Wenn es kompliziert wird, gerät manches aus den Fugen."
"Atemberaubend dicht" findet Albrecht Selge Tobias Kratzers "Tannhäuser" in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (4.8.2019), "in einer Rasanz und mit einem Feuerwerk von Geistesblitzen, die ihresgleichen suchen". "Dass ich mich (...) in dieser Aufführung zum ersten Mal wirklich für das Schicksal des komischen Typen Tannhäuser zwischen den beiden Frauen interessiere, dass ich mich auch brennend für diese beiden Frauen interessiere, die lebendig sind und leidenschaftlich und voller Liebe und Verletzungen, fernab von allem verklemmten Sexualmurks à la 'Hurengöttin versus heilige Langeweile' – das macht diesen 'Tannhäuser' für mich zu einer einschneidenden Erfahrung", so Selge. "Und natürlich wäre alles, was die Regie leistet, nichts ohne starke Sänger: den berührenden Stephen Gould als Tannhäuser (…) Die Venus der Elena Zhidkova (die nur in dieser ersten Aufführung Ekaterina Gubanova vertritt) ist darstellerisch stärker als sängerisch. Lise Davidsen aber hat eine glutvolle, enorme Stimme, die in anderen Inszenierungen die Langweiler-Elisabeths vielleicht unangemessen zur Explosion brächte; zu dieser Elisabeth aber passt das, und wie." Die einzige Schwachstelle sei das Dirigat von Valery Gergiew, "das trotz einiger Wackler halbwegs stabil wirkt, aber kaum individuell oder charakteristisch".
"Kratzer und sein Team (...) scheren sich nicht um Hure (Venus) oder Heilige (Elisabeth), Sinnenrausch oder Liebe, sondern konfrontieren zwei Seinsauffassungen miteinander: auf der ästhetischen Ebene das Klischee der Werktreue mit dem jüngeren Bayreuther Regietheater (...) und der sogenannten Autorenregie; und auf der gesellschaftlichen Ebene Macht und Elend des Establishments mit dem Potenzial der, nun ja, Jungen, Kreativen", schreibt Christine Lemke-Matwey in der Zeit (1.8.2019). "Eine Aufführung voller Ironie und makellosem Handwerk, stets liebevoll, nie hämisch. Wollte man Tobias Kratzer etwas vorhalten, dann dass er die Dichotomien, die er zeigt, nur halbherzig dekonstruiert", so Lemke-Matwey: "Von Opas Mottenkiste hat man sich auf dem Grünen Hügel vor Jahrzehnten verabschiedet, und wo, bitte schön, treten noch säuberlich Aussteiger gegen Aufsteiger an, Kommunarden gegen Spießbürger? 2019 kennt die Spaltung der Gesellschaft weitaus verwirrendere Formen und Fronten."
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Blöde Witzchen!
Haarsträubende Inkonsequenzen.
Nach nervösem Beginn eine überragende Lise Davidsen und ein starker Stephen Gould.
Sehr unentschlossenes Dirigat. Lags an der diffizilen Akustik für den Debütanten?
eine Frage zu Ihrem Erlebnis:
In einer Rezension war zu lesen, dass Le Gateau Chocolat offensichtlich als einzige*r Darsteller*in (trotz stummer Rolle?!) am Ende ausgebuht wurde. LGC hat das hernach auch via social media beschrieben. Wie haben Sie das im Publikum empfunden? Hat das wirklich so stattgefunden? Oder haben Sie im Anschluss vielleicht irgendwelche Gespräche dazu mitbekommen? Bei all diesem ganzen Wagnerismus ja immanenten Kunst-Konservatismus – war der stellenweise Rassismus wirklich derart offensichtlich?
Dass so ein kruder Inszenierungsquark wohl nur an einem Haus wie Bayreuth mit seinem chronisch überinterpretiertem Wagner-Kanon und einem hysterisch-blutlüstern Skandal-witterndem Publikum angerührt werden kann, scheint niemanden zu interessieren: Kleinwüchsiger, (nicht sehr fabulöse) Drag Queen, Mezzosopranistin mit Führerschein und praller Wagner-Tenor im Clowns Kostüm fahren im Kleinbus durch Deutschland – allein diese Zusammenstellung hat ja bei 95% der Kritiker schon zur Seligkeit ausgereicht. Was genau jetzt die Kunstauffassung dieser Gruppe sein soll, außer dass sie in Schultheater-Manier inszeniert, überall Richard-Wagner-Aufkleber und Spruchbänder anbringen – wen interessiert’s? Auch dass der erste Akt, nachdem dann mal die Videos alle durchgefahren sind, für mindestens eine halbe Stunde, ein ödes am Tisch Sitzen, neben dem Tisch stehen, auf der Fahrerbank des Kleinbuses sitzen, ist – es scheint nicht ins Gewicht zu fallen. Der Tannhäuser plumpst dann endlich träge aus dem Kleinbus, wo vor Plastikbäumen und Pappmaché-Festspielhaus der Chor als geschlossene Gruppe zur Tannhäuser-Premiere pilgert, während die freundlich-verstrahlte Radfahrerin, die Tannhäuser aufsammelt und dabei irgendwas vom „Lenz“ singt (Festspiele im Frühling?), nach München zurück an ihren Ursprungsort ins Set der „Lindenstrasse“ radeln kann. Das geht dann immer so weiter: obwohl die Zuschauer-Choristen alle schon ins Festspielhaus gestolpert sind, treffen sich die Sänger der Tannhäuser-Aufführung, die dort anscheinend gleich beginnen soll, alle auf der Strasse am Hügel vor der Polizeiabsperrung wieder – wo sonst? Auch die „Elisabeth“ darf einmal, schlimm verhuscht durchs Plastik-Gebüsch lugen – und nachdem sie dann da auch alle ca. 10 Minuten rumstanden, wie sie es in jeder staubflockenden Uralt-Inszenierung tun würden, nehmen die Sänger den Clown, der wohl anscheinend ehemaliger Opernsänger war, bevor ihn die KSK rausgeschmissen hat, weil es eben nicht reicht, mit dem Kleinbus durch Deutschland zu fahren und bei Burger King zu essen, kurzerhand mit: soll er doch einfach den Tannhäuser jetzt drinnen singen – kennt man doch, die Netrebko kommt doch auch nur für 2 Lohengrin Vorstellungen ohne wirkliche Proben nach Bayreuth! Gebongt.
Ja, so geht das immer weiter und diese wirklich alles andere als intelligente Lücke zwischen einem von Opernsängern tölpelhaft gespieltem Realismus und einer vermeintlichen Ironie zu einem Werk, das einem dann aber doch so heilig ist, dass der Kleinwüchsige stumm bleiben muss und die Drag Queen den Mund nur im Tümpel unterhalb des Festspielhauses verfrachtet, aufmachen darf, stört auch keinen groß… (übrigens, vielleicht fängt da der Rassismus doch schon an, könnte man jetzt Le GateauChocolat fragen und nicht erst bei den paar Zuschauern, die sie ausgebuht haben – wo es aus ihrer Sicht ja ausgeschlossen ist, dass das etwas mit der Leistung auf der Bühne – oder im Tümpel- zu tun hat…Aber so ein pauschales Publikums-Bashing sitzt natürlich.)
Also, alles wie immer. Wäre das Ganze in Chemnitz oder Hagen rausgekommen, wären die Kritiker a) nicht hingefahren und hätten garantiert b) nicht so viel gelacht. (...) Wir freuen uns so auf den Ring 2020.
(Ein Teil des Kommentars wurde gelöscht, weil er nicht den Kommentarregeln von nachtkritik.de entspricht. Besten Gruß, d. Red.)
das ist nicht so leicht zu beantworten. Beim Applaus ging's etwas drunter und drüber; so wurde auch Eberhard Friedrich, der Chorleiter, einmal ausgebuht – vermutlich allerdings, weil ihn die Leute für Gergiev hielten, der dann gleich danach erschien. Bei den Entfernungen und der Erregungskurve kann schon mal was schiefgehen.
Beim Applaus für Le Gateau Chocolat gab's tatsächlich einige Buhs, aber mindestens ebensoviel Jubel (das ist meine Wahrnehmung aus Reihe 16). Ob das jetzt dem schwarzen Dragartist galt oder der Regie (die ja erst am Ende kam, da können Buher schon mal ungeduldig werden), lässt sich genauso schwer beantworten wie die Frage, wie das alles von der Bühne aus gewirkt haben muss. Dass allerdings Manni Laudenbach, der sich direkt vor Le Gateau Chocolat verbeugte, keine Buhs bekam, könnte für Le Gateaus These sprechen.
Ob das danach diskutiert wurde, kann ich nicht sagen, ich musste ja an den Schreibtisch.
Schöne Grüße,
Georg Kasch
Vielen Dank für Ihre detaillierte Antwort!
@Sich Fragender
Dafür, dass Sie in Ihrem ersten Absatz recht pauschales Kritiker*innen-Bashing betreiben (hintedi-hint-hint), versuchen Sie sich im Folgenden selbst ja an einer geradezu Stadelmaier'schen Tirade, die für mich vom heimlichen Sehnsuchtsort "Kritiker*innen-Schreibtisch" seufzt.
Aber Spaß beiseite. Wie es um das Verhältnis von Le Gateau Chocolat zum Regie-Team, der Inszenierung und der eigenen Rolle darin bestellt ist, können Sie auf denselben Social Media Accounts nachlesen, auf denen auch der Vorgang beim Applaus outgecallt wird. Dort werden Sie dann auch erleben, wie das Standard-Programm deutscher Kunst-Institutionen, die auf Rassismus aufmerksam gemacht werden, abgespult wird: Aggressive Verteidigung bis zum letzten Ressentiment (wodurch LGC aus meiner Sicht im Nachhinein bestätigt wird).
Als 1999 während eines Konzerts von Harald Juhnke die schwarze Sängerin Jocelyn B. Smith als Gast auftrat, wurde sie von großen Teilen des Publikums im Friedrichstadtpalast ausgebuht. Seitdem scheint sich nichts verändert zu haben und das Gaslighting, dass Sie hier ebenfalls betreiben, indem Sie suggerieren, dass LGC wahrscheinlich einfach überreagiert hat, ist einer der Gründe, warum ich überhaupt erst nachgefragt habe.
Die jüngsten Geschehnisse am Berliner Theater an der Parkaue zeigen einmal mehr, wie wichtig es ist, solche Vorgänge sichtbar zu machen und ins Licht zu zerren – egal ob Sprechtheater oder Oper. Deshalb greift denn auch Ihr pUbLiKuMs-BaShInG-Finger-Fuchtler ins Leere.
Schönes Wochenende.
Geht aber klar auch an die Regie.
– "It just doesn't fit there. Sorry, you must not like every crazy thing or person. This is freedom."
– "You help together with sik germans to destroy our german culture and wondering why some normal german people who don!t forget our culture and dont fight against germany and spy on gendermainstreaming don"t like you? if you realy wondering about this, please go to a specialist at home and ask him for help!"
1) "Die ›Buhs‹ richteten sich an die Regie und nicht an LGC."
Auch wenn Musiktheater nicht meine Leidenschaft ist, war ich doch bei genügend Opern-Aufführungen (zeitweise Konwitschny-Fan) um gelernt zu haben, dass gerade Opern-Publikum üblicherweise sehr genau differenzieren kann, wohin es die eigenen Reaktionen adressiert:
Wenn bei Händels "Hercules" die Dejanira einen Teil ihrer Arie live als projizierte SMS tippt und hinzufügt, es sei aber auch "eine verdammt schwere Arie" – dann wird nicht die Sängerin ausgebuht.
Wenn es bei Verdis "Don Carlos" ein hinzugefügtes Intermezzo gibt, wo alle Figuren eine stumme, Vaudeville-artige Szene im Stile von "Der Chef kommt zum Abendessen und alles geht schief" spielen – dann werden keinesfalls die Performenden ausgebuht.
Wenn in Webers "Freischütz" nach der Pause statt des Jägerchores im III. Akt allein der Darsteller des Samiels vor den Vorhang tritt und den Text ("Trallala. Trallala. Trallalala.") furztrocken deklamiert anstatt zu singen – dann wird nicht dieser Mensch am Ende in Buhs geduscht.
In meiner Erfahrung herrscht die Grundannahme, dass Opern-Darsteller*innen heilig und über jeden Zweifel erhaben (weil grundsätzlich unmündig und der sakrosankten Partitur ergeben) sind, und dass alles dem Publikum Missfällige, was sie auf der Bühne zeigen (müssen), einzig und allein auf das Werk eines häretischen, ignoranten (und vermutlich sexuell-neurotischen) Regisseur-Diktators zurückzuführen ist.
Ich bitte Sie – wenn unbeschuhte Wagnerianer (vergl. H. Rosendorfer) als Teil des Bayreuther Publikums eine schwarze Drag-Queen ausbuhen und den anderen Kollegen, der einen ähnlichen (weil stummen) und ebenfalls hinzu erdachten Part in der Inszenierung einnimmt, nicht ausbuhen … nun, ein Schelm, wer Ressentiment dabei denkt.
2) "Man dArF keine POC oder Queers (mehr) ausbuhen, ohne dass es einem sofort als Rassismus oder Queerfeindlichkeit aUsGeLeGt wird."
Dieses "Da wird mann ja wohl noch buhen dürfen!" erinnert mich auch ein wenig an die häufig bemühte Wendung, ein Zeiten von #MeToo wüssten die armen Männer gar nicht mehr, wie sie überhaupt noch mit einer Frau flirten sollten, weil aLlEs GlEiCh SeXiSmUs sei.
Und hier wie dort scheint mir der eigentliche Punkt komplett verfehlt zu sein. Stichworte wären beispielsweise Kontext, Sensibilität und Reflexion.
Es geht nicht darum, dass bestimmte Menschen, deren Leistung man bemängeln möchte, über Kritik erhaben sein sollen. Aber innerhalb eines leider nach wie vor von strukturellem Rassismus und Sexismus durchzogenen Systems weisen gewisse Dinge eben auch über sich selbst hinaus.
Ich vermute – in meiner gewiss maximal beschränkten Kenntnis der Opern-Regie – dass die Bühnen-Handlungen (u.a. wo und wie stehen/bewegen) von LGC vornehmlich auf die Regie zurückgehen. Allerdings steht diese*r Künstler*in vor allem als sie/er selbst auf der Bühne – vielleicht ähnlich wie z.B. Idil Baydar in Falk Richters "Am Königsweg". Buhe ich im Bayreuther Kontext (im Bewusstsein, dass ich meine Verachtung der Inszenierung gegenüber definitiv noch an den hauptverantwortlichen Empfänger werde zustellen können) also einen Menschen aus, der zuvorderst für sich selbst und also für eine Haltung (auf der Bühne) steht, so buhe ich zuvorderst keine Regie-Entscheidung aus sondern ebenjenen Menschen für das, was er ist. Und das finde ich kritikwürdig.
3) "So ein kleiner, marginaler Vorgang bekommt zu viel mediale Aufmerksamkeit."
Nein. Es sind die kleinen, flüchtigen Vorgänge, die in der Summe eben jene strukturelle Problematik im deutschen Theater-Betrieb ausmachen, von der ich oben schrieb. Es ist wichtig, dass diese Vorgänge immer wieder beschrieben und sichtbar gemacht werden, damit auf lange Sicht Veränderung erfolgen kann.
Kommunizierte Inhalte weisen IMMER über sich selbst hinaus. Das ist der Kommunikation systemisch wesentlich. Es weiß aber nicht jeder. Merken tun das leider noch weniger Menschen. Souverän mit diesem Wissen umgehen können noch einmal weniger Menschen - dies ist ein Dilemma. Und zwar ein menschliches. Ich vermute DAS menschliche Dilemma überhaupt.
Ich wäre sehr dankbar, wenn jemand mir seine Gedanken dazu schreiben würde. Ich erwarte mir keine Lösung des Rätsels, denn das Rätsel für die Lösung ist allemal besser, als umgekehrt. Danke für einen Kommentar.
Dass vielleicht in Bayreuth ein kunstsinniges Publikum zu einem ganz überwiegenden Teil LGC goutierte und wohlwollend zur Kenntnis nahm, und dass vielleicht irgendjemand, oder vielleicht zwei oder drei oder vier Leute im Publikum, anderer Meinung waren - aus Motiven, die wir nicht erforschen können.
Aus meiner Sicht macht LGC hier schlicht das, was eben ihre Rolle als Drag ist: Sich divenhaft aufführen, und das auch nach der Show, das ist die Aufmerksamkeit, die sie für ihr Geschäft braucht, und das meine ich nicht negativ, das gehört eben dazu. Es wäre ja geradezu peinlich, wenn es nicht mindestens ein Skandälchen darum gäbe. Und in dieses Konzept lebt natürlich von Leuten, die sich erregen, also danke Tim!
Ich möchte nur anmerken, dass ich den Regieeinfall, in Bayreuth mit Drag und Regenbogenflagge zu hantieren, eine recht billige Trittbrettfahrerei finde. Wer glaubt, dass das Bayreuther Publikum das noch als Provokation empfindet, der kennt weder das Bayreuther Publikum noch die Strukturen heutiger Homophobie.