Bitte vorblättern!

21. April 2023. Beim Festival "Female Peace Palace" hechelt man ständig hinterher. Und zwar mit großer Erkenntnisfreude, denn es füllt Wissenslücken einer männlich und westlich dominierten Gesellschaft. Zum Beispiel über Halide, die "Botschafterin der modernen Türkei", die viele Dinge als Allererste tat.

Von Sabine Leucht

"Halide. Words of Flame" in den Münchner Kammerspielen © Gabriela Neeb

21. April 2023. Wer war Halide? Ihr greiser Enkel, der für die Premiere extra nach München gereist ist, erinnert sie als ältere Frau, die Krimis las, aber vor dem Einschlafen schnell zum Schluss vorblätterte, um Bescheid zu wissen und Ruhe finden zu können. Ansonsten sagte sie an, was ihrer Meinung nach getan werden musste. Als "dominant" habe er sie erlebt. Die drei Schauspielerinnen, die zuvor auf der Bühne die historische Figur performativ umkreisten, sprachen von Halides "erschreckender Sturheit" und skizzierten eine Frau, die impulsive Entscheidungen traf und als charismatische Künstlerin, Politikerin, Pädagogin, Soldatin und Wissenschaftlerin für die Freiheit eintrat. Je nachdem, wo sie sie gerade verortete.

Virtuose Schnellsprecherinnen

"Halide Edib Adıvar (1884 – 1964) war eine türkische Dichterin, Revolutionärin, Offizierin, Professorin, Parlamentarierin und eine der bedeutendsten türkischen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. Als Halide Onbaşı (Korporal Halide) ist sie zudem die Symbolfigur für alle Frauen, die am Türkischen Befreiungskrieg beteiligt waren" weiß Wikipedia. Und da mal kurz nachzuschauen ist ausnahmsweise erlaubt und nötig, um kurz vor dem Schreiben wenigstens etwas Ruhe zu finden. Denn nach 95 Minuten intensiver Halide-Befragung im Werkraum der Kammerspiele schwirrt einem der Kopf. Die Schauspielerinnen Gülhan Kadim, Esme Madra und Tilbe Saran sind virtuose Schnellsprecherinnen, wechseln Positionen und täuschen Rollen an, wie man es braucht und bleiben dabei stets ganz locker im Modus des Ausprobierens. Und weil alle drei in der Türkei ausgesprochen populär sind, sitzen im Publikum jede Menge Leute, die längst befreit oder amüsiert auflachen, während man selbst noch mit den Übertiteln kämpft.

Halide1 1200 Gabriela Neeb uVirtuose Hinterhechel-Veranstaltung: Esme Madra in Yasemin Nur Erkalırs Bühnenbild © Gabriela Neeb Barbara

Mundels Vorhaben, allen Menschen der Münchner Stadtgesellschaft einen Grund zu geben, mal ins Theater zu gehen, geht hier prima auf. Da hechelt, wer kein Türkisch kann, halt mal hinterher. Ist ja oft genug andersrum. Überhaupt ist das Festival "Female Peace Palace", in dessen Rahmen "Halide. Words of Flames" zu sehen ist, eine ziemliche Hinterherhechel-Veranstaltung. Neben den vielen Wissenslücken, derer man sich ohnehin bewusst ist, wird man hier Abend für Abend auf neue gestoßen, die eine männlich (und westlich) dominierte Geschichtsschreibung ins kollektive Gedächtnis gerissen hat.

Botschafterin der modernen Türkei

Wer also war Halide? Aufgewachsen in einer osmanisch-bürgerlichen Familie in Istanbul, die dem Hof des Sultans nahestand, Universitätsabschluss 1901, mehrere Ehen - und auch in vielem anderen war Halide oft eine der ersten oder die einzige: als türkische Frau, die einen Beruf ergriff, die während der Revolution öffentliche Reden hielt, auf der Flucht vor der Gegenrevolution ihre Kinder verließ, im Unabhängigkeitskrieg kämpfte und später als "Botschafterin der modernen Türkei" weltweit Vorträge hielt.

Halide2 1200 Gabriela Neeb uLocker im Modus des Ausprobierens: Gülhan Kadim, Esme Madra und Tilbe Saran in "Halide" © Gabriela Neeb

Der ausgesprochen undramatische Text, den die Autorin und Regisseurin Emre Koyuncuoğlu aus Romanen, Artikeln und Reden Halide Adıvars sowie biografischem Material gebaut hat, ist allerdings ein Brett. Er beginnt mit der Frage, wie die umstrittene Freiheitskämpferin von heute aus zu betrachten sei, wo die Türkei eine Art Diktatur ist und Gerechtigkeit in weiter Ferne. Also frei nach Halide: Bitte vorblättern, damit man Bescheid weiß, wie etwas einzuordnen ist.

Von heute aus repräsentieren die drei Performerinnen Halide in verschiedenen Lebensphasen und stellen Fragen an ihre Biografie und an das, was sie selbst da eigentlich tun: Sie rufen sich zur Ordnung, wenn ihre lückenhafte Erzählung zu sehr nach "1001 Nacht" klingt, erwägen, dass ihnen das Thema vielleicht "eine Nummer zu groß" sein könnte und haben leider szenisch nur wenig Auslauf auf Yasemin Nur Erkalırs schöner Bühne. Einmal hüllt sich eine der drei in einen der von der Decke hängenden Layer aus Leinenstoffen, und einzelne Szenen werden als traditionelles Schattenspiel aufgeführt oder mit dessen Hilfe kommentiert oder karikiert. Kleine Püppchen, ein ganzer bunter Drache und im Stoff versteckte Schriftzeichen und Stickereien kann lesen und zuordnen, wer kann. Dazu duftet es nach Räucherstäbchen.

Angst vor langen Zöpfen

Vor allem aber wird sehr viel gesprochen. Anekdoten über die bewegte Geschichte von Halides Büste, ihr immenses Selbstbewusstsein oder ihre Angst vor langen Zöpfen, wie sie ihre früh verstorbene Mutter trug, treffen auf grundsätzliche Fragen: War die Muslima jüdischer Herkunft konservativ oder liberal? Was ließ die Frauenrechtlerin, die sich selbst nie als Feministin verstand, gegen die Londoner Suffragetten wettern, wie passt die Patriotin zur Pazifistin? Und wie die zu Halides Rolle im Völkermord an den Armeniern?

Dass er nie zur bloßen Huldigung wird, ist eine Stärke dieses Abends. Im nicht-huldigenden Fragen und Zweifeln ist er beredt. Vor der Frage nach dem, was diese so widersprüchliche Frau im Inneren angetrieben hat, verstummt er jedoch. Womöglich war es die Empathie mit der "armen Welt", die immer nahe daran war, in Hass umzuschlagen. Und die Lust daran, "flammende Worte" wie eine Waffe zu schwingen.

Halide. Words of Flame
von Emre Koyuncuoğlu
Regie: Emre Koyuncuoğlu, Bühne und Kostüm: Yasemin Nur Erkalır, Dramaturgie: Esra Dicle, Video: İrem Nalça, Puppe & Maske: Hilal Polat, Musik: Salih Korkut Peker
Mit: Gülhan Kadim, Esme Madra, Tilbe Saran
Premiere am 20. April 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

Schon allein, um die Geschichte von Halide Edib Adivar kennenzulernen, lohne sich die Inszenierung, schreibt Yvonne Poppek in der Süddeutschen Zeitung (21.4.2023). Regisseurin Emre Koyuncuoğlu setze die inspirierende Geschichte dazu aber auch noch "schwebend-schön" um. Streckenweise sei die Übertitelung des Stückes anstrengende, "doch Gutes, Spannendes hat manchmal seinen Preis."

Auch Michael Schleicher nennt es im Münchner Merkur (21.4.2023) einen Jammer, dass Halide Edib Adivar in Deutschland so wenig bekannt sei und nennt die Inszenierung ein "Fest für alle neugierigen Menschen". Die drei Schauspielerinnen Gülhan Kadim, Esme Madra und Tilbe Saran seien großartig und der Abend sehenswert.

Es sei schade, dass viele Gedanken an diesem Abend aufgrund der Masse von Text und Information vorbeirauschten, schreibt Anne Fritsch in der Abendzeitung München (3.5.2023). "Ein bisschen mehr Konzentration, Mut zur Lücke und ein bisschen weniger Tempo hätten dieser Inszenierung gut getan", so die Kritikerin.

 

 

 

Kommentare  
Halide, München: Nebulös
Die historische Figur, um die sich dieser Abnd dreht ist vorallen bekannt als türkische Fasch-Feministin.... Das verhandelt dieser Abend nicht und bleibt ansonst auch ziemlich nebulös...
Was ist da in Frau Mundel geraten?! War sie zu faul um sich eigenständig zu informieren? Hat sie gar selbst eine kemalistisch Haltung? Oder: War ihr das alles einfach nur ziemlich egal...
Diese Frage geht auch an Frau Leucht!
Solch einer historischen Person eine Bühne zu geben, ist schon arg pietätlos und ein Schlag ins Gesicht für jede kurdische KünerstlerIn.
Ich bin sprachlos.
Halide, München: Ideologisch
... weiß Mundel überhaupt, dass die istanbuler Koc-Uni an die Herr Koyuncuoglu unterrichtet, extrem ideologisch alle Departements hardcor filtert????
D.h. dort unterrichten eben nicht die Leute, die für eine frei denkende Welt stehen.
Halide, München: Kemalismus-Verdacht
Tja- stark und vorallem unverdächtig wäre es gewesen, auszuleuchten wie es zusammen geht: faschistoide Weltanschauungen und Feminismus… so aber macht sich der Abend in der Tat verdächtig, sentimental auf den Kemalismus (eine Stilrichtung des europäischen Faschismus) zu schauen bzw. etwas zu patriotisch daherkommt.
Halide, München: Perspektive
Halide ist eine umstrittene Figur mit vielen Pionierideen aus der Zeit der Jahrhundertwende, die später mit unterschiedlichen Intentionen verwendet werden. So kann jeder sie zitieren, je nachdem, aus welcher Perspektive er sie betrachtet. Sie spielt verschiedene Rollen an verschiedenen Wendepunkten der Geschichte. Das Stück enthält viele Diskussionen über sie und ergreift für keine Seite Partei, das kann man erkennen, wenn man das Stück gesehen hat. Dem Stück geht es nicht darum, eine Heldin zu schaffen oder eine Verräterin zu verurteilen. Es geht darum, die Probleme, die wir von der Vergangenheit bis zur Gegenwart durch Halide gespiegelt sehen, eingehend zu erörtern.
Halide, München: Wissen
Kennen Sie sich wirklich ansatzweise mit der Geschichte der Entstehung der türkischen Republik aus, Johanna?
Wissen Sie überhaupt wie die vermeintliche Pionierarbeit einer Halide wirklich aussah und wer darin überhaupt vorkam?
Ich denke ehrlich gesagt, dass Sie es nicht wissen..
Halide, München: Gewisse Ignoranz
es läuft da etwas gewaltig schief bei den münchener kammersspielen. und frau leucht wiederholt in ihrem artikel die botschaft der kemalisten, eine türkische fasch-feministin als "borschafterin der modernen türkei" ..wow..dieser figur eine Bühne zu geben ist in meinen augen auch gegenüber kurdische künstler respektlos. mit verlaub, frau mundel ansatz bzgl. diversität etc. zeigt da eine gewisse ignoranz

(Anm. Redaktion: Nur kurz zum Status der Aussage in der Rezension. Wenn in einem Text, die Formulierung in Anführungszeichen auftaucht, dann weil es dem Diskurs des Abends zugehörig ist und hier also als Zitat vorgestellt wird, das eben Zugang zum Abend herrstellt.)
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