Philotas − Bei Boris Jacoby sieht Lessing sehr, sehr lange her aus
"Ein trefflicher, ein großer Anblick"
von Georg Kasch
Berlin, 4. Juli 2010. Es ist schon ein ziemlich harter Brocken, dieses Trauerspiel: Da gerät ein jugendlicher Prinz bei seiner ersten Kriegserfahrung in Gefangenschaft, taugt aber nur solange zum Druckmittel gegen den eigenen Vater, bis er erfährt, dass der Sohn seines Feindes König Aridäus Gefangener des eigenen Lagers ist. Eine Pattsituation wie in einer Komödie. Dennoch bringt er sich um. Warum? Weil er seinem Vater zum Sieg verhelfen will.
Aus falsch verstandenem Heldentum also, und das begründet Philotas in Gotthold Ephraim Lessings gleichnamigen Trauerspiel mit einem solchen rhethorischen Aufwand, dass einem bisweilen schwindelt: "Jedes Ding ist vollkommen, wenn es seinen Zweck erfüllen kann. Ich kann meinen Zweck erfüllen, ich kann zum Besten des Staates sterben: ich bin vollkommen also, ich bin ein Mann."
Held ohne Menschenliebe
Offensichtlich hat da eine national-mystische Gehirnwäsche gefruchtet, und das Perfide an Lessings keine dreißig Seiten kurzem Einakter ist, dass nur in wenigen Momenten angedeutet wird, warum der Prinz so einen Quatsch faseln darf. Ist er das Opfer pubertärer Gefühlsduselei oder heroischer Erziehung, allgemeiner Schlachteneuphorie (Lessing schrieb "Philotas" als Reaktion auf Preußens Siebenjährigen Krieg) oder unbedachter Zurichtung auf eine Kriegsmaschine, "ein Held ohne Menschenliebe", wie es Aridäus ausdrückt?
Im Pavillon des Berliner Ensembles wird die Frage nicht beantwortet. BE-Schauspieler Boris Jacoby, der zuletzt F.K. Waechters "Schule mit Clowns" inszenierte, lässt den Text als verslose Meterware abschnurren. Dazu hat ihm Maria-Elena Amos den BE-üblichen Expressionismus entworfen: eine blutrote Schräge umgeben von einem Spiegelkabinett, das den Prinzen auf seinem Podest reflektiert, auch verzerrt. Die Spielwiese eines Selbstverliebten, der sich seine Eitelkeit nie eingestehen würde. Dabei gerät jene Szene, in der sich Sabrin Tambreas Prinz mit einem Schwert in der Brust vorstellt ("ein trefflicher, ein großer Anblick") zu den (unfreiwillig?) komischen und so starken Momenten der Inszenierung: Da glotzt Tambrea liegend so fanatisch auf seinen Bauch, dass es jedes heldische Gebaren zunichte macht.
Überhaupt dieser Prinz: ein schönes, hysterisches Kind unter Ganzkörperdauerspannung mit oft leerem Gesicht, ein gehetzter sonderbarer Schwärmer, selbstverliebt im Dialog mit seinem Spiegelbild, hypernervös und total überspannt. Für Momente blitzt da ein zersplittertes Profil auf, das Tambrea letztlich zur pathologischen Studie degradiert. Ein Trauerspiel, abgeschoben ins Private.
Man wird es satt
Daran, dass dieses Stück überhaupt spielbar ist, hat man während der guten Stunde im überhitzten, stickigen und viel zu eng bestuhlten Pavillon ernsthafte Zweifel. Obwohl sich Martin Schneider als äußerst jovialer König Aridäus (mit BE-üblicher Spielzeugkrone), Alexander Ebeert als zynischer Feldherr Strato und Jörg Thieme als vom Krieg arg mitgenommener Parmenio um Profil bemühen, bleiben sie mit ihren grellen Masken Knallchargen, die weder zu Typen taugen noch zur Ursachenforschung beitragen. Wenn am Ende Philotas blutüberströmt daliegt, greint Schneider gar so aufgesetzt, dass einem Lessings brecht'scher Clou - da wendet sich Aridäus ans Publikum und fragt: "Glaubt ihr Menschen, dass man es nicht satt wird?" - vollkommen gleichgültig bleibt.
Ende der achtziger Jahre soll es eine legendäre Inszenierung gegeben haben von Friedo Solter am Deutschen Theater. Ulrich Mühe ließ er den Eingangsmonolog auf ganz unterschiedliche Weisen sezieren und in der Sprache seine Figur auseinandernehmen. Nichts davon im Berliner Ensemble: Hier herrschen Hysterie, falsche Tränen und echter Schweiß.
Philotas
von Gotthold Ephraim Lessing
Regie: Boris Jacoby, Bühne und Kostüme: Maria-Elena Amos, Musik: Joe Bauer, Dramaturgie: Hermann Wündrich.
Mit: Alexander Ebeert, Martin Schneider, Sabin Tambrea, Jörg Thieme.
www.berliner-ensemble.de
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