Betrunkene - In Braunschweig spürt Stephan Rottkamp mit Iwan Wyrypajews Stück einer besseren Welt im Rausch nach
Wir wollen alle besoffen sein
von Jan Fischer
Braunschweig, 31. März 2017. Diese umhermäandernden Gespräche über das große Alles, an die man sich später nicht erinnert, die Menschen, die man geküsst hat, aber eigentlich nicht küssen wollte oder umgekehrt, die Wege, auf denen man sich torkelnd verlaufen hat und trotzdem irgendwie zuhause ankam.
Der Text des russischen Dramatikers Iwan Wyrypajew fängt diese eigenartigen, schönen und tragisch-hilflosen Momente des Alkoholrausches treffend ein – unter der Regie von Stephan Rottkamp zeigt das Staatstheater Braunschweig Wyrypajews Text "Betrunkene" als letzte Inszenierung auf der großen Bühne unter dem scheidenden Intendanten Joachim Klement.
Ein gigantisches Trampolin
Es ist ein großes Ensemblestück, das Rottkamp – den mit Klement eine langjährige Zusammenarbeit und Bekanntschaft verbindet – auf die Bühne stellt. 14 Schauspielerinnen und Schauspieler torkeln über die oben mit einem Beleuchtungsquadrat und unten spärlich mit einem zur Bühne hin offenen dreiseitigen Sitzquadrat eingerichteten Bühne. Kaum eine der Figuren kann sich noch richtig bewegen, man fällt, wirft Konfetti auf den Boden, der Chef eines Filmfestivals trifft auf ein schönes junges Mädchen, man bläst Herzluftballons auf und zwei Freundinnen zerstreiten sich über einen Mann, man setzt Partyhütchen auf, streitet sich unter Freunden und in einem vegetarischen Restaurant, ein Jungesellenabschied versucht "das Geflüster Gottes im Herzen" zu hören. Und in der zweiten Hälfte passiert Ähnliches in anderen Zusammensetzungen nochmal, nur klappt den Darstellern der feste Boden unter den Füßen weg, und alles, was sie trägt ist ein Trampolin, über die gesamte Breite und Tiefe des Spielraumes gespannt. Wenn die Schauspieler hüpfen, hüpfen die immer noch auf dem Boden liegenden Konfetti mit ihnen.
"Betrunkene" ist ein eigenartiges Stück, in kurze Episoden zerhackt, die erst am Ende ein wenig zueinander finden. Die spärliche Inszenierung – die im Grunde nur diesen Trampolineffekt kennt und das Hoch-und-Runterfahren des Beleuchtungsquadrates – fokussiert sich stark auf den Text. Die erste Hälfte ist eine brillante Beobachtung eben von betrunkenen Gesprächen und ihrer eigenwilligen Logik, der sozialen Rohheit und dem Schutzraum dieses Rausches, nicht minder brillant auf die Bühne gebracht von einem beständig torkelnden, beständig lallenden Ensemble. Es ist eine lustvolle, man möchte fast sagen: dionysische Erkundung des Suffs, in der sich witzige und tragische Momente zu einem taumelden Vollrausch vermischen.
Eine Welt der Liebe
In der zweiten Hälfte bricht die – schon in der ersten Hälfte immer ein wenig thematisierte – Religion in die betrunkenen Gespräche ein wie dem Ensemble der Boden unter den Füßen weg. Sie lallen weniger, das Torkeln besorgt der Trampolinstoff unter ihren Füßen. Alle beginnen sich zu lieben, unwahrscheinliche Paare – jeder versichert dem jeweiligen Partner, er sei derjenige, auf den sie schon immer gewartet hätten – finden sich, bis jeder versorgt ist. Die Liebe wird immer häufiger mit Gott, mit Religion in Verbindung gebracht: Lange Monologe werden geführt, jeder sei Gott, heißt es, jeder Teil seiner Liebe – überhaupt alles sei Liebe, und damit löse man alle Probleme der Welt. Man müsse sich nur lieben und ehrlich sein, man müsse sich aufgeben, "die ganze Scheiße", um in diese Liebe eingehen zu können.
Diese tiefgehende, im Christentum zumindest wurzelnde Religiosität in Wyrypajews Text ist wenigstens etwas befremdlich, auch wenn sie sehr allumfassend und protestantisch ist – sie schafft es nicht ganz, ihren etwas bitteren Beigeschmack damit zu entschuldigen, dass eben alles im Rausch geäußert wurde.
Sie ist allerding auch, so könnte man es lesen, die Flucht aus dem Vollrausch in die hyperromantische Mischung aus der Vorstellung eines großen Zusammenhangs – einer Art Weltseele – und einer besoffenen Interpretation von John Lennons "Imagine". Das Ensemble – das sich mit großer Freude und Körperlichkeit komplett besoffen gibt – sowie das Bühnenbild mit seinem gigantischen Trampolin machen die Inszenierung auf jeden Fall sehenswert.
Die mit der Ernsthaftigkeit des Rausches geführte Diskussion über eine hyperromantische Utopie, sei sie nun christlich oder sonstwie, ist zumindest eine, die sehr viel Reibungsfläche bietet. Als Abschiedsgeschenk an einen scheidenden Intendanten – und eine Art Erinnerungsstück – ist "Betrunkene" allerdings sicherlich eine gute Wahl, diese Idee eines Rausches, in dessen Schutz alles gesagt und getan werden darf, und der auf der Bühne in die – vielleicht etwas naive – utopische Vorstellung einer besseren Welt der Liebe mündet.
Betrunkene
von Iwan Wyrypajew
aus dem Russischen von Stefan Schmidtke
Regie: Stephan Rottkamp, Bühne: Robert Schweer, Kostüme: Justina Klimczyk, Dramaturgie: Katrin Breschke.
Mit: Darja Mahotkin, Götz van Ooyen, Pauline Kästner, Rika Weniger, David Simon, Hans-Werner Leupelt, Saskia von Winterfeld, Mattias Schamberger, Birte Leest, Alexander Wanat, Philipp Grimm, Andreas Bißmeier, Oliver Simon, Amelle Schwerk.
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-braunschweig.de
Kritikenrundschau
In der Braunschweiger Zeitung (3.4.2017 )schreibt Martin Jasper, man könne das Stück "total bescheuert" finden oder "genial" jedenfalls seien die Betrunkenen und ihre "typisch betrunkene zänkische Beharrlichkeit" eine "Zumutung". Aber man könnes das auch gut finden. Gerade weil sich die Situation nicht auflöse, der Suff "erbarmungslos" durchgezogen werde. "Bemerkenswert" wie eine "Sehnsucht nach Gott spürbar" werde. Das Stück sei ein "halbirres Ritual". Man müsse sich als Zuschauer mit hineinsteigern. Sonst bleibe es so platt wie es eigentlich sei. Die Inszenierung sei "etwas zu aufgekratzt", doch biete sie dem Ensemble die Möglichkeit, sich als "Ansammlung toller Schauspieler" vom Publikum zu verabschieden.
Auf braunschweig-spiegel.de schreibt Klaus Knodt (2.4.2017): Die Schauspieler meisterten die "Mammutaufgabe" von zweieinviertel Stunden ohne Pause Präsenzpflicht vor dem Publikum mit Bravour. Stephan Rottkamp sei es zu verdanken, dass die "Komödie nie zur zotigen Plotte" werde. Die "großen Begriffe des Daseins" würden "auf den Kopf gestellt" und die "vermeintlichen Wahrheiten unserer Zivilisation" ins Gegenteil verkehrt in dieser "dionysischen Nacht". Das komme "gottlob" ohne erhobenen moralischen Zeigefinger aus.
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Das Wort Scheiße wird dauernd geäußert, ebenso das Wort Gott. Soll man das nun gedanklich verbinden?
Einige Zuschauer verließen die Vorstellung, viele schauten dauernd auf die Uhr.
Eine Beleidigung für die Sinne und vor allem für den Geist.
Das Stück ist nicht aus den 60ern- die Uraufführung war 2014! Ist demnach immer noch ein Gegenwartstext. Ansonsten teile ich Ihre Meinung total.