Haus der gebrochenen Herzen - Dagmar Schlingmann startet als Intendantin am Staatstheater in Braunschweig mit einer fast vergessenen Kostbarkeit von Bernard Shaw
Alle mit allen
von Michael Laages
Braunschweig, 16. September 2017. Nein – so richtig Karriere gemacht hat das Stück nicht; nicht mal vor drei Jahren, im Bemühen der Theater, die damals 100 Jahre zurück liegende Katastrophe des Ersten Weltkrieges für die Zeitgenossenschaft heute kenntlich werden zu lassen. Deutsche Flieger ziehen über England hin und werfen im Licht der Flak-Scheinwerfer Bombenlast ab auf das sonderbare Landhaus des einstigen Kapitäns Shotover. Der ist schon 88 Jahre alt und treibt sehr bewusst auf das Ende zu, nur noch interessiert an der letzten Erleuchtung; seine etwas wunderliche Familie treibt derweil in ziemlich endzeitlicher Todessehnsucht neben ihm her. Zwei Gäste, gebeten der eine, ungebeten der andere, sterben sogar in der finalen Bombennacht – weil sie sich retten wollten. Aber ist der Krieg Motiv genug für die Wiederbegegnung mit dem "Haus der gebrochenen Herzen"?
Kriegsführung gegen sich selbst
Dagmar Schlingmann hat das Staatstheater in Braunschweig mit dieser Spielzeit von Joachim Klement übernommen, der nach Dresden wechselte; der Theaterweg durch die Provinzen hat die neue Intendantin über Linz, Konstanz und schließlich Saarbrücken hierher geführt. Dass sie Bernard Shaws wirklich entlegenes Stück an den Beginn gestellt hat, müsste eigentlich etwas bedeuten – aber wird da wirklich nur die furchtsame Beschwörung europäischer Beinahe-Endzeit anvisiert? Die Lust gar nach Untergang – "Hoffentlich kommen sie morgen Nacht wieder" heißt es im letzten Wort über die Bomber ... Oder wollte die Hausherrin einfach nur nicht routiniert mit Tschechow beginnen? Shaws Stück von 1919 hat ja viel von der komödiantischen Leerlauf-Strategie des Russen – nur dass die Gesellschaft im Haus des Kapitäns in allgegenwärtigem Zynismus immer auch Krieg gegen sich selber führt; jede gegen jeden, alle gegen alle.
Shotover hat zu Beginn Besuch bekommen; Tochter Hesione, leidvoll verehelicht mit dem Rundum-Herzensbrecher Hector Hushabye, hat eine junge Dame namens Ellie eingeladen, damit sie den vermeintlich wohlhabenden Mister Mangan kennen- und vielleicht lieben lernt. Auch die zweite Kapitänstocher Ariadne ist im Anmarsch, nach sehr langer Abwesenheit und mit Schwager Randall im Gepäck. Dieser Zweig der Familie heißt "Utterword" – noch so ein im Englischen sprechender Name: die Dame ist eine recht überkandidelte Plaudertasche. Die junge Ellie hat ihrerseits Papa dabei, Mister Dunn, den der Kapitän prompt mit einem anderen Mister Dunn verwechselt, der mal bei ihm auf dem Schiff Dienst tat und danach in die Kleinkriminalität abdriftete. Dieser andere Mister Dunn bricht dann zur Pause auch noch ein im Haus des früheren Arbeitsgebers ... Shaw gab sich in der Tat extrem viel Mühe mit der Verstrickung aller mit allen.
Grandioses Parlando in intimster, kluger Bosheit
Umso intensiver geraten die Verführungen und Beleidigungen, die diese Landhausmenschen von nun an untereinander pflegen. Immerzu werden dabei Herzen gebrochen; und weil das so ist, würde die junge, mächtig desillusionierte Ellie kurz vor der Bombardierung am liebsten den greisen Kapitän ehelichen, wenn schon überhaupt geheiratet werden muss. Der Magnat (und zeitgemäß oberzynische Politiker!) Mangan seinerseits nimmt den andauernden Seelen-Striptease kurz vor dem Anflug der Bomber auch körperlich wörtlich, flüchtet danach aus dem Haus, um nicht verschüttet zu werden – und wird prompt draußen im sicheren Versteck getroffen. Generell geht Shaw nicht sehr liebevoll um mit dem Personal.
Aber er lässt alle reden und reden und reden in extrem geschliffenen Dialogen. Das ist der Kern des Stückes: das andauernde Gespräch. Messerscharf analytisch oder grob angriffslustig, altersweise und hoffnungslos wird ununterbrochen räsonniert – vor allem über die Unfähigkeit des Menschen, wirklich und von Herzen Mensch zu sein. Wer grandioses Parlando in intimster, kluger Bosheit sucht, wird bei Shaw fündig – wie einst Thomas Langhoff am Deutschen Theater, 1990 mit der jungen Johanna Schall als Miss Ellie, umgeben vom Meister-Ensemble der gewesenen DDR.
Das sieht nach Ablenkung aus
Aber intim müsste es dabei zugehen, immerzu Auge in Auge. Das gelingt in Braunschweig nicht. Denn zur Eröffnung muss es die große Bühne sein – Sabine Mader hat Shotovers Haus als Schiffsrumpf angelegt, mit Schlafstätten an den abschüssigen Bodenseiten links und rechts und einem bühnenbreiten Schott im Hintergrund, über das zu Beginn per Leiter immer wieder hinüber- und heruntergeklettert werden muss; im zweiten Akt dreht sich die Bühne, und zu ahnen ist auf der Rückseite ein toter Garten mit kahlen Bäumen drin. In diesem Raum verliert sich der vielstimmige Dialog viel zu oft im Palaver. Shaws große Stärke, der intime Dialog, kommt hier kaum an; von rechts muss nach links hinübergerufen werden, und kaum jemals lassen sich die Partnerschaften der bitteren Gesellschaftsanalysen umstandslos fokussieren. So beginnt sich plötzlich weißes Rauschen breit zu machen im Schiff ...
Obendrein (und womöglich im Erkennen dieses strukturellen Problems) hat die Regisseurin dem Personal allerlei neckische Gimmicks verpasst – Miss Ariadne fummelt ständig in der weißblonden Haarpracht herum, Schwager Randall spielt unentwegt Flöte, Hausmädchen Guinness (!) balanciert gern auf den Bodenstreben im Schiffsrumpf herum und bedient das Harmonium. Viel zu oft halten sich die Figuren viel zu lange an szenischen Marotten fest, Mister Mangan rutscht minutenlang immer wieder an einer Bodenschräge herab, als er schlafen will; um sich danach zornig zu entkleiden. All das aber sieht nach Ablenkung aus – und wenn sich Dialoge dann auch noch überlappen, geht das Stück komplett verloren im viel zu großen Raum.
Allemal eindrucksvoller wäre das "Haus der gebrochenen Herzen" (original übrigens "Heartbreak House", meist als "Haus Herzenstod" eingedeutscht) vorstellbar im kleinen Braunschweiger Haus. Aber nun – wohl-wollend und offenbar wirklich neugierig nimmt das Braunschweiger Premierenpublikum das überwiegend neue Ensemble und die Herausforderung des gemeinsamen Neustarts an.
Haus der gebrochenen Herzen
von Bernard Shaw
Deutsch von Hans Günter Michelsen
Regie: Dagmar Schlingmann, Bühne: Sabine Mader, Kostüme: Inge Medert, Musik: Alexandra Holtsch, Licht: Frank Kaster, Dramaturgie: Claudia Lowin.
Mit: Tobias Beyer, Gertrud Kohl, Klaus Meininger, Georg Mitterstieler, Götz van Ooyen, Saskia Petzold, Mattias Schamberger, Larissa Semke, Saskia Taeger, Heiner Take.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.staatstheater-braunschweig.de
"Als Wolfgang Gropper einst hier Generalintendant wurde, setzte er seine erste Inszenierung, Shakespeares 'Wintermärchen', in den Sand. Es wurde dann aber doch noch eine höchst erfolgreiche Intendanz", erinnert sich Martin Jasper in der Braunschweiger Zeitung (18.9.2017). "Insofern mag es für Dagmar Schlingmann ein gutes Omen sein, dass auch ihre erste Braunschweiger Regiearbeit den Betrachter ziemlich ratlos zurücklässt." Jasper beklagt die Wahl des "ziellos wabernden Stücks" sowie eine "manierierte Inszenierung, die einem keine einzige der handelnden Figuren wirklich nahe bringt".
Sperrig findet auch Klaus Knodt das Stück von George Bernard Shaw im Braunschweiger Spiegel (17.9.2017), es erinnere aber auch an Tschechow und "schließt damit ganz frappierend an die letzte Inszenierung 'Betrunkene' der letzten Spielzeit an", so Knodt. Und überhaupt: "Dagmar Schlingmann hat es hervorgeholt, entstaubt und in einen Kontext gestellt, der gerade heute wieder aktuell ist."
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(Die Übersetzung stammt von Hans Günter Michelsen, was im Besetzungskasten inzwischen nachgetragen ist. Auch der englische Titel wurde korrigiert. Herzliche Grüsse aus der Redaktion, Esther Slevogt)