Die Übriggebliebenen - Karin Henkel baut sich einen Thomas-Bernhard-Horrorfamilien-Abend am Deutschen Schauspielhaus Hamburg
Hassknechte in der deutschen Dunkelkammer
von Katrin Ullmann
Hamburg, 16. Februar 2019. Wer will hier leben? Wer will hier Kind gewesen sein? Und wer will hierher zurückkehren? In dieses Haus, das Muriel Gerstner und Selina Puorger gebaut haben? Portalfüllend steht es auf der Bühne des Schauspielhauses. Rundum, die Wände, die Decke, der Boden, schwarz. Es ist ein Haus wie ein Sarg. Nein, viel liebloser, viel rauer als ein Sarg. Düster, todverheißend. "Verwandtschaft bedeutet den Tod", heißt es bei Thomas Bernhard auch. Aber diese Figuren, diese Verwandten, diese einander ausgelieferten Hass-Geschwister sind so gar nicht totzukriegen.
Hass, Häme, Hitler-Verehrung
Drei Thomas-Bernhard-Texte hat Karin Henkel für ihre Inszenierung am Hamburger Schauspielhaus ineinander gewoben. "Die Übriggebliebenen" heißt die theatrale Bernhard-Wucht, die die Regisseurin gemeinsam mit der Dramaturgin Rita Thiele aus den Stücken "Vor dem Ruhestand", "Ritter, Dene, Voss" und dem Roman "Die Auslöschung. Ein Zerfall" destilliert hat. In allen drei Texten geht es – kurz und grob gesagt – um Familien. Um männerdominierte Geschwisterkonstellationen, um ziemlich beunruhigende Elternhäuser, um lebenslangen Hass, Demütigung und in großen Teilen auch um faschistisch-nationalistischen Fanatismus. Auf der Theaterbühne werden diese Schnittmengen durchgespielt. Aus einer dröhnenden Düsternis offenbaren sie sich klar und deutlich, manchmal fast didaktisch, meist aber stichwortgenau.
Drei Dreierkonstellationen werden angerissen: Drei Brüder jeweils, die in das Haus ihrer Kindheit zurückkehren. Gezwungenermaßen. Oder aus Gewohnheit. Alle drei stecken sie sofort wieder fest in ihrer Vergangenheit, dominieren die Dynamik unter den Schwestern, schüren Hass, Häme und Hitler-Verehrung. Langsam steigt der Zuschauer ein in die Parallelwelten, die sich in Karin Henkels Inszenierung ein- und dieselbe Dunkelkammer teilen. Bald entblößen die beiden Beinahschauspielerinnen (Bettina Stucky, Gala Othero Winter) ihre defizitäre Ohnmacht gegenüber ihrem unberechenbar philosophierenden Bruder Ludwig (Lina Beckmann), und genauso bald zeigt sich Gerichtspräsident Höller (André Jung) in SS-Uniform und Feierlaune anlässlich Himmlers Geburtstag, den seine Schwester Vera (Angelika Richter) eilfertig mit Fürst-Metternich-Sekt ausrichtet. Während der "Auslöschung"-Protagonist Franz-Josef Murau (Tilman Strauß) – im Wechsel mit einem zehnköpfigen Kinderchor – erstmal und vor allem seine kunstvoll aufgebahrten Unfallopfereltern umstreift.
Kühl und technisch
Als Geschichte bleibt jede Familienaufstellung – eine hassenswerter als die andere – geordnet für sich. Allein die Textebenen verzahnen sich. Das Timing ist fein abgestimmt: Spricht Rudolf etwa von seiner Erkältung, setzt der aus der Anstalt nachhause geholte Ludwig am Nachbartisch mit einem "Ich bin nicht krank" ein. So gesellt sich an diesem Abend Krankheit zu Krankheit, Kindheit zu Kindheit, Elternhaus zu Vaterland, Gedankengut zu Denken, Unfall zu Tod und Selbstgemachtes zu Eingekochtem. Das ist sprachlich einleuchtend und macht ein paar große Bernhard'sche Themenwelten auf – doch leider auch gleich wieder zu. Denn das Stück, die Stücke wollen, sollen ja zu Ende erzählt werden. Und dafür lässt Henkel dann ihr großartiges Ensemble meist die Texte an der Rampe sprechen. Kühl. Technisch. Sprachgenau.
Vermutlich ist es das, was den Abend dann so statisch, so mechanisch wirken lässt. Diese fast eifrige Genauigkeit, die Ernsthaftigkeit, mit der die intertextuellen Bezüge aufgezeigt werden. An diesem Abend dürfen Assoziationen keine Assoziationen bleiben, alles Gedachte muss unbedingt ausgesprochen werden. Auslassungen sind nicht erlaubt. Schließlich ist die Sprache die eigentliche Hauptperson. Die präzise Textarbeit ist Karin Henkel zu verdanken, manche der Sätze hallen nach, als hätten die Schauspieler sie soeben mit ihrer Stimme aufgeschrieben. Doch Raum für schräge Interaktionen, für feinsinnigen (Bernhard'schen) Witz lässt Henkel den Darstellern kaum. Da bleiben die liebevolle Komik, die Klaus Bruns in seine Kostüme verarbeitet, ein paar grandiose Spracheskapaden von Lina Beckmann und ein Jan-Peter Kampwirth, dem es als Verbrennungsopferschwester Clara auf faszinierende Weise gelingt, im Gehen zu kriechen. Aber all das reißt den Abend nicht wirklich ins Unterhaltsame oder ins Launig-Groteske.
Die Übriggebliebenen
nach Texten von Thomas Bernhard
"Vor dem Ruhestand", "Ritter, Dene, Voss" und "Auslöschung. Ein Zerfall"
Fassung: Karin Henkel, Rita Thiele
Regie: Karin Henkel, Bühne: Muriel Gerstner, Selina Puorger, Kostüme: Klaus Bruns, Leitung Maske und Haartrachten: Susan Kutzner, Maskenbildnerinnen: Isabel König, Wiltrud Jüchter. Elisa Zarniko, Licht: Annette ter Meulen, Sound: Arvild J. Baud, Ton: Christian Jahnke, Matthias Lutz, Christoph Naumann, Video: Marcel Didolff, Alexander Grasseck, Dramaturgie: Rita Thiele.
Mit: Lina Beckmann, Jean Chaize, Brigitte Cuvelier, André Jung, Jan-Peter Kampwirth, Angelika Richter, Tilman Strauß, Bettina Stucky, Gala Othero Winter.
Premiere am 16. Februar 2019
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause
www.schauspielhaus.de
Kritikenrundschau
Für Falk Schreiber vom Hamburger Abendblatt (17.2.2019) macht Karin Henkels Kopplung der drei Bernhard-Dramen Sinn, denn in allen dreien gehe "es um ungesund ineinander verflochtene Geschwisterbeziehungen". Henkel verknüpfe die Geschichten in "Die Übriggebliebenen" geschickt, überspiele mit ihrer Raffinesse jedoch auch, "dass ihre Inszenierung vor allem aus Schauwerten besteht, die nicht viel mehr sind als ein Kratzen an der Oberfläche." Fazit: "Bilder wie den dunkelromantischen Kinderchor, der mehr Stimmung transportiert als Haltung."
Stefan Grund schreibt in der Welt (18.2.2019, 1:25 Uhr), Karin Henkel ordne "die Figurenkonstellationen, nutzt strukturelle und inhaltliche Ähnlichkeiten" der drei Bernhard-Dramen. Die Verbindung der drei Stücke hat ihn überzeugt, dadurch gewinne der Abend erstens "an Tiefe, indem er die Perspektiven von Tätern und Opfern einander gegenüberstellt und so ein Gesamtbild zeichnet, das beängstigender wirkt, als es eine einzige radikale Sicht könnte. Zweitens macht Karin Henkels Requiem deutlich, wie stark der politische Diskurs erneut von Schatten der NS-Zeit vergiftet ist."
Till Briegleb schreibt in der Süddeutschen Zeitung (19.2.2019): Komisch sei die Parallelerzählung von Bernhards Roman "Auslöschung" und den Stücken "Ritter, Dene, Voss" und "Vor dem Ruhestand" wirklich nicht. Obwohl dessen antifaschistische Hass-Satiren von den meisten seiner Leser und Leserinnen "vermutlich als beißend komisch rezipiert" würden. Die Fassung kranke an "Überambition mit statischen Folgen". Die Verwebung der Texte führe zu einer "extrem komplizierten Stichwortmaschinerie", die dem Konglomerat "jede Leichtigkeit" stehle. Es wirke, als sagten die Schauspieler*innen ihre Texte vor allem auf. Nur Lina Beckmann verfalle ins Gegenteil und verkaspere ihren Ludwig Wittgenstein durch "Dauergrimassieren". So entstehe ein "Aggressionsglossar zu Thomas Bernhard", das "leider akademisch bitterernst und ziemlich sauertöpfisch" wirke.
Bernd Noack schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung (online 18.2.2019, 17:06 Uhr ): Man blicke in einen "grausigen Abgrund" bei Henkels komplizierter Zusammenführung von zwei Stücken und einem Roman, am Ende bleibe von der "verheerenden Wiederholungswucht" Bernhards nur so "eine Art Best-of des bekannten Schlechten". Dreimal gehe es um die Lüge, und man habe das kapiert nach den ersten Szenen. Karin Henkel sei "viel zu sehr damit beschäftigt", das "Erzählknäuel im Spiel zu halten", als dass sie "mit dem Sampler-Einfall eine neue, andere Sicht auf die Werke des alten Meisters ermöglichen" könne. Man werde nicht schlau aus dieser literarischen Fleissarbeit. "Alles relativ brav, künstlich, uninspiriert, humorlos hauptsächlich."
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Ein anspruchsvoller, aber toller und intensiver Theaterabend, den man sich auf jeden Fall noch ein zweites Mal ansehen kann. Das Ensemble war beeindruckend. André Jung war fantastisch und Lina Beckmann einfach grandios.
Zum Glück ist der Abend von Karin Henkel und ihrem großartigen Team weit weg von diesen Begriffen!! Es ist ein phantastischer Abend!
(Teile des Kommentares entsprechen nicht unserem Kommentarkodex https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=12&Itemid=102 und wurden gekürzt. Mit freundlichen Grüßen, die Redaktion)
Das fällt unseren nördlichen Nachbarn aber traditionell schwer.
Karin Henkel's Abend fühlt sich im explizit Düster-Tragischen deutlich wohler.
Ich fands schade, weil die Bernhardsche Komödie letztlich tiefer und menschlicher ist, als der Ernst.
Auch schrecklicher....
LN (Michael Berger, 19.2.) und dem Flensburger Tageblatt (Sabine Oehmsen, 22.2.) sehen diesen Abend ganz ähnlich, wie es der obige Pressespiegel und die Nachtkritik ausweisen. Ich werde an späterer Stelle noch auf den einen oder anderen Punkt davon eingehen bzw. einige Textstellen daraus exemplarisch in den Thread stellen. Ganz vergröbert gesagt, auch ich sah am Premierentag vor allem das Problem des zu didaktisch geratenen Theaterabends, was sich an so mancher Pausenbemerkung bzw. Zuschauerreaktion nach dem Abend auch ganz gut illustriert fand, als zB. mein etwa 25-jähriger Nachbar zu seinen Eltern begeistert davon sprach, daß man an so einem Abend mehr über die historischen Mechanismen gen Nazitum und "Wehret den Anfängen !"
lerne als in Schule oder Studium. Es wurde schlichtweg den Vielen, die sich teilweise auch öffentlich als DIE VIELEN artikulieren, zu leicht gemacht, auf etwas zu zeigen, vor dem man sich zu hüten habe, ohne gleichzeitig erschüttert zu werden von den Abgründen eigener Denk- und Fühlenseinsamkeiten, welche Bernhards Protagonisten nunc stans zu ereilen pflegen, von scharfen Querschnitten beispielsweise castorfschen Zuschnittes (man hätte zB. soetwas wie den Dialog der Schwestern aus "Die bleierne Zeit", so ein "Du wärest BDM gewesen""
bzw. heutige und hiesige Markenmacherideologien irrlichternd dazwischenfahren lassen können, die Stockwerke des Hauses noch einmal befragend, denn die Dreizahl spielt einerseits eine Rolle, andererseits füllt diese sich kaum mit Leben) ; vor allem aber hätte Regie und Dramaturgie wohl eine Fallhöhe schaffen müssen, wie sie der
Zerrissen- oder Hinundhergerissenheit der sich in Monologe nach außen hin verstrickenden Berrnhardschen Protagonisten entspricht, beispielsweise dadurch ,die Ludwigrolle eben auch als Identifikationsangebot an das Publikum stark zu machen, auch durch den Reiz des eigenen Sprachduktus, Wittgenstein sprach von Verhexungskraft der Sprache, davon, daß die Sprache feiere; gerade den Ludwig von Lina Beckmann finde ich eben auch vertan -ganz so, wie ich es bei Herrn Briegleb lese-, was besonders schwer wiegt, da "Ritter. Dene, Voss" den Takt des Dreierabends meineserachtens am stärksten formt, zumal auch ein Problem mir zu sein scheint, daß der dramatisierte Prosatext am meisten in den Schatten gerät (gegenüber den beiden Dramen-Strichfassungen, wobei eben "Ritter, Dene, Voss" dominiert), leider verstärkt von der schwachen Resonanz durch die beiden Französisch sprechenden Zwillingsschwestern, die den Spieler im oberen Stockwerk weiter isoliert (sollte die Isolation doch nicht äußerlich, sondern von innen her kommen wohl). Letztendlich wirkt der Abend, so einseitig wie er vorliegt, fast so, als hätte Berhard vornehmlich Lehrstücke geschrieben, und das ist schade; immerhin aber gäbe es wohl auch etwas zu entdecken und weiterzuarbeiten am Ansatz Karin Henkels, denke ich, sollte sehr akzentuiert etwas vermißt werden; es ist ein Verdienst des Abends, Falk Schreiber schreibt, daß Bernhard selten geworden ist im deutschsprachigen Bühnenraum, an dieser Stelle ernsthaft eine Beschäftigung mit Thomas Bernhard angeregt zu haben, frei nach dem Motto: "Wie visionär auf das Heute hin war Bernhard wirklich ?"
hier der Klassikbegriff, denen sich dann doch wieder gut nachhorchen und nachspüren läßt, um mittelbar auf etwas zu stoßen, frei nach dem Motto "Man kommt nicht von irgendwo an dieser Stelle auf den "Klassikbegriff" , an dieser Stelle auf soetwas wie eine KLASSIKERINSZENIERUNGANMUTUNG durch die Inszenierung. Tatsächlich geht doch da so mancherlei in diese Richtung, von der klassischen Aufteilung des Hauses in drei Ebenen via dessen Hermetik, also Unentrinnbarkeit unter anderem, bishin zu dem auftretenden Chor, und mich wundert es sogar ein wenig, diesen recht naheliegenden Befund so recht in keiner Kritik von "Die Übriggebliebenen" wiederzufinden.
Und was überhaupt für ein Haus das ist ??
Ich bin eigentlich noch einmal ein wenig überrascht, und das schreibe ich gerne als ein mögliches Pro für eine Inszenierung (mindestens der Anlage nach) , daß ein durch sie tatsächlich umgesetztes "Bild" unter den Tisch fällt (wie die Augen des ersten Teils bzw. das eine Auge des zweiten), nicht an irgendeiner Stelle etwas von der Assoziation "Kopf"
("Riesen-Einzel-Kopf") zu lesen, obschon mir das Bühnenbild, das ich sehr mag !, vor allem einen solchen zu zeigen scheint, Kopftheater wie sonst nur Kopfkino suggerierend als Dauerzustand, losgelöst vom Rumpf, vielleicht nur noch durch frisches Blut (Kinderchor) via "Aufzug" versorgbar ?, beinahe losgelöst jedenfalls, und so ein RIESENKOPF ist nun wirklich sehr kennzeichnend für Bernhard; fast höre ich noch frisch Bruno Ganz in "Der Ignorant und der Wahnsinnige" sagen in etwa "Und so ein Kopf (unter Köpfen) ist das nicht ein erbarmungswürdiger Zustand ??"
Die Botschaft ist schnell begriffen, die dreifache Familien-Tragödie nimmt dennoch weiter ihren Lauf: handwerklich perfekt, aber auf die lange Strecke doch etwas zäh und eintönig. So ist es eine Erlösung, als Lina Beckmann die berühmten Brandteigkrapfen, die schon Gert Voss mit so viel Abscheu herunterwürgte, in sich hineinmampft und der Alt-Nazi Höller zur Strecke gebracht ist.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/02/10/die-ubriggebliebenen-schauspielhaus-hamburg-kritik/