Der Geizige oder Die Schule der Lügner - Thalia Theater Hamburg
Horst Harpagon
von Katrin Ullmann
Hamburg, 12. September 2020. Tatsächlich muss man zwei Mal hinschauen, um Jens Harzer zu erkennen. Mit künstlichem Überbiss, Schnäuzer, Bauch und Buckel schleppt er sich über die Bühne des Thalia Theaters. Er feuert ein paar Schüsse aus seiner kleinen Pistole ab, bevor er es schwer atmend, schnaufend und auch ein wenig humpelnd bis zur Bühnenrampe schafft. Eine Lesebrille baumelt ihm um seinen eingezogenen Hals, die Haare sind zum spießigen Bürstenschnitt frisiert. So, in schlecht sitzender Hose, die keine Hosenträger der Welt retten können, und in Rentner-beigem Jackett (Kostüme: Janina Brinkmann) spielt er Harpagon, den Geizigen aus Molières gleichnamigen Stück.
Angstvolles Stottern und Fiepsen
Der eingeschüchterte Diener La Flèche (Sebastian Zimmler) bringt diesem herrlichen, lungenschwachen Horst-Schlämmer-Harpagon schnell einen Plastikstuhl. Dort hinein versinkt Jens Harzer augenblicklich und spielt aus dieser scheinbar erschlafften Haltung jenen lebensunfähigen Patriarchen, den alle fürchten. Vor allem natürlich seine Kinder Cléante (Steffen Siegmund) und Elise (Toini Ruhnke).
Allzu gern möchten diese beiden ihre Verliebtheiten und ihre damit verbundenen Heiratswünsche an ihn herantragen, doch aus den Ecken des Bühnenportals heraus, gelingt ihnen nur noch ein angstvolles Stottern und dünnes Fiepsen. Gnadenlos macht sich Harpagon über sie lustig, hat er sich doch schon längst zwei einträgliche Zweck-Ehen für sie ausgedacht. Dass Elise eigentlich Valère (herrlich: Pascal Houdus) liebt, der sich als Diener in Harpagons Haus geschlichen hat und das mit dem Verbeugen noch üben muss, und Cléante beide Augen auf eine gewisse Mariane geworfen hat, ist ihm völlig schnurz. Die Sache mit Mariane allerdings nicht ganz, denn diese gedenkt Harpagon, selbst zu heiraten.
Leander Haußmann inszeniert die Molière'sche Komödie, die fast auf dem Tag genau vor 352 Jahren zur Uraufführung kam, auf einer leeren Bühne. Fünf Glühbirnen lässt Peter Schubert, der wegen der der Corona-Pandemie seinen ursprünglichen Entwurf über den Haufen werfen musste, von der Decke baumeln – eine Reminiszenz an das Geisterlicht, das man aus Aberglauben im unbespielten Theater anlässt. In diesem Raum entspinnt sich bald ein unterhaltsames Konversationsstück auf Plastikstühlen. Und bald auch ein Machtkampf zwischen Vater und Sohn, die zwar dieselbe Frau heiraten wollen, aber ansonsten unterschiedlicher nicht sein könnten. Geizig und festgefahren der eine, verschwenderisch und lebensdurstig der andere.
Einsam unter Kunstscheeflocken
Es ist auch ein Generationenkonflikt, den Jens Harzer als kränkelnder Papiertiger und Steffen Siegmund als mehr und mehr rebellierender Sohn da ausfechten. Harzer ist dabei ein grandioser, peinlich-komischer Entertainer: Er macht schlechte Alt-Herrenwitze, nestelt regelmäßig an seinem Reißverschluss herum, mimt spitzzüngig einen unsympathischen Patriarchen, der, wenn er von einem Stuhl aufgestanden ist, erstmal minutenlang seine steif gewordenen Beine schütteln muss, um überhaupt wieder in Bewegung zu kommen. Siegmund ringt mal verschreckt nach Worten, mal stürzt er mit bebender Stimme in einen rauschhaften, schwärmerischen Redeschwall, mal verschenkt er waghalsig den Diamantring seines Vaters an Mariane, die – von Rosa Thormeyer gespielt – sich zwischen Schnappatmung und Entsetzen an ihre Clutch klammert. Oft genug übernimmt dann Frosine (lasziv: Marina Galic) die vermeintliche Vermittlung und ist doch selbst nur auf das Geld des Geizigen aus.
Haußmann inszeniert ein kurzweiliges Stück Theater, das zwar gut und gerne auf manche Slapstickeinlage hätte verzichten können, aber er inszeniert es mit starkem Fokus auf die grandiosen Schauspieler und – zumindest weitgehend – pur. Entsprechend spielt Harzer seinen zentralen Monolog, in dem er den Diebstahl seiner Geld-Kassette betrauert, einsam und unter fallenden Kunstschneeflocken. Nur mehr in Unterwäsche steht er dann auf der leeren Bühne, großartig traurig und verloren. Man ertappt sich bei einen kurzen, merkwürdigen Mitfühlmoment, bevor sich um diese tragische Harpagon-Figur herum wie aus dem Nichts heraus eine Theaterkulisse aufbaut. Eine Freitreppe, ein naiv gemalter Palast und auch die Schauspielerkollegen erscheinen nun mit hochtoupierten Perücken und in höfischen Kostümen.
Den Schlussakt, der die Verwicklungen, in die Mariane und auch der Diener Valère verstrickt waren, wie wundersam auflöst, und der den Verbleib der Geld-Kassette aufklärt, inszeniert Haußmann darin hysterisch und übertheatralisch: Da purzeln die Schauspieler immer wieder die Treppe runter, gestikulieren manieriert, sprechen verdreht, changieren zwischen Schein und Sein. Allein Harpagon sackt fassungslos in sich zusammen. Ohne Geld hat er keine Macht, keinen Lebenssinn, keine Liebe. "Ich will meine geliebte ………… Kassette wieder haben." Ein Schlusssatz mit Pause.
Der Geizige oder Die Schule der Lügner
von Molière
Aus dem Französischen von Frank-Patrick Steckel
Regie: Leander Haußmann, Bühne: Peter Schubert, Kostüme: Janina Brinkmann, Dramaturgie: Susanne Meister, Licht: Jan Haas.
Mit: Jens Harzer, Steffen Siegmund, Rosa Thormeyer, Pascal Houdus, Toini Ruhnke, Marina Galic, Sebastian Zimmler, Tim Porath.
Premiere am 12. September 2020
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause
www.thalia-theater.de
"Virtuos stolpern und fallen die Figuren als eine in Erosion begriffene Gesellschaft, die Haußmann in hemmungsloser Anarchie implodieren lässt", schreibt Annette Stieckele im Hamburger Abendblatt (14.9.2020). Leander Haußmann gewinne dem Klassiker starke Seiten ab, indem er den Kern als Charakterkomödie freilegt und ihn als Generationen- und vor allem als Vater-Sohn-Drama erzähle. Bei aller Kargheit und allem gebotenen Abstand schöpft das Ensemble ihrem Eindruck zufolge aus dem wortwitzigen und windungsreichen Text, finde in den burlesken Szenen zu körperlichem Spiel und der Abend rasch an Tempo. "Berechtiger Jubel".
"Eine starke Vorstellung mit vielen guten und humorvollen Einfällen und der einen oder anderen Überraschung", schreibt "KAM" in der Hamburger Morgenpost (14.9.2020) und gibt "Standing Ovations" zu Protokoll. Das Vergnügen schöpfte das Publikum KAM zufolge vor allem aus den Darbietungen aller sehr starken Schauspielerinnen und Schauspiueler, die sich um diese Jens-Harzer-Show gruppieren.
Haußmann folge der Stückvorlage genau, verkneife sich regiebesserwisserische Flausen, so Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.9.2020). Und das mit famosen Spielern. "Jedoch bleibt seine Inszenierung recht eigentlich eine beredte Skizze, der man ansieht, wie manche Szene digital angelegt, aber nicht auf der Bühne entwickelt wurde." Dann aber komme der fulminante Schluss. "So erweist sich Leander Haußmann an diesem Abend als meisterlicher Regisseur für alle Lebenslagen – keine theoriebeflissene Plappertasche, sondern ein Pragmatiker des Herzens und der Künste."
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Es ist das Highlight dieses Theaterabends, wie er diese Ankündigung umgesetzt hat. Ifflandring-Preisträger Jens Harzer mimt einen alten, weißen Mann mit Überbiss, Buckel und großem Kaffeefleck auf dem schmuddligen Shirt. Vor seiner schmierigen Übergriffigkeit sind weder die Mitspielerinnen noch das Abo-Publikum aus Poppenbüttel sicher.
Wie der Hamburger Cousin von Horst Schlämmer, Hape Kerkelings legendärer Lokaljournalisten-Figur vom Grevenbroicher Tagblatt, wirkt dieser Harpagnon aus Molières Tragikomödie aus dem 17. Jahrhundert.
Die ersten zwei Stunden werden auf einer fast komplett leeren Bühne gespielt. Klapprige Bürostühle mit dem Glamour eines Gemeindesaals am Niederrhein sind die einzigen Requisiten, bis zum Finale eine märchenhafte Rokoko-Treppenkulisse aufgebaut wird, über die die Spieler*innen allzu slapstickhaft kugeln, purzeln und taumeln.
Bis dahin ist der Abend aber ein schöner Komödienspaß, der ganz klassisch auf die Komödien-Mechanik des französischen Altmeisters vertraut und das Wort und die Schauspielkunst in den Mittelpunkt rückt.
Um Horst Harzer alias Jens Schlämmer als Fixstern schwirren seine schüchternen Kinder, die kaum ein Wort herausbekommen (Toini Ruhnke und Steffen Siegmund), seine Bediensteten und Frosine (Marina Galic) als manipulative Strippenzieherin. Es ist ein Glücksfall für die Inszenierung, dass er und Galic auch privat ein Paar sind, so dass die beiden die Komik der Verführungskunst der Frosine und der treudoofen, auf jede Schmeichelei hereinfallenden Selbstverliebtheit des Harpagnon genüsslich und ohne Abstands-Regeln ausspielen können.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/09/25/der-geizige-moliere-thalia-theater-hamburg-kritik/
Die Schauspieler*innen waren
BELLE CUISINE.
BRAVISSIMO dem Ensemble.
Plappertasche theorie-bäh-flissen
in die hohle Hand gesch . . .
Sei du Leander nur Pragmat-Dicker des Herzens und der Künste -
O Meister Regisseur für alle Lebenslagen so wie allen Lebensplagen!
Alles das mit famosen und nicht bäh-mosten Spielern.
Er verkneift sich regiebesserwisserische überkluge Flausen
und sonst was, folgt der Stückvorlage genau - na, bravo!
Alle sehr starke Schauspielerinnen und Scha-u-Spieler -
vor Vergnügen hüpft das Publikum.
Strake (starke) Vorstellung und Darbietungen mit vielen vielen
guten humorvollen, humor-gefüllten Einfällen. Überraschung der einen
oder anderen.
Burleske Szenen zu körperlichen und nicht körper-losem Spiel,
der Abend gewinnt rasch im Tempo - Jubel, Jubel!
Wortwitzig-windungsreich der Molière-Text schöpft daraus
das Ensemble bei Allah-Kargheit und allem gebotenen Ab-Stand.
Oho dies Vater-Sohn-Drama und differtente (differnete, nein, differente)
Generationen!
Im innersten Kern als moralische Charakterkomö-die und Drama
der Generationen frisch frei-gelegt und serviert.
Leander H. gewinnt - dem französischem Klassiker alle starken und
stärksten Seiten ab, legt schwächere beiseite und gewinnt andere und
anderes dazu.
Die Figuren als eine in Erosion und Generosion begriffene Gesell-Schaft,
stolpern und fallen virtuos famos - sie lässt H. in hemmungsloser
Anarchie implodieren und die Auf-Führung extraordinary ex-plo-tieren!