Das Ministerium der Träume - Staatstheater Kassel
Unter Helikopter-Müttern
4. Juni 2023. Rassismus, Terror, Trauma im Albtraumland Deutschland sind die Themen in Hengameh Yaghoobifarahs Bestseller-Roman. Den hat jetzt Laura N. Junghanns in Kassel auf die Bühne gebracht – und als komisch-schrecklichen Albtraum inszeniert.
Von Karin Yeşilada
4. Juni 2023. Ist es Zufall oder Absicht, dass die Uraufführung eine Woche nach dem 30. Jahrestag des Mordanschlags von Solingen stattfindet? Jedenfalls passt es, denn rechtsextreme Gewalt im wiedervereinigten Deutschland ist eines der Grundmotive im Stück "Das Ministerium der Träume". Regisseurin Laura N. Junghanns und Dramaturg Dirk Baumann haben es nah am gleichnamigen, 2021 erschienenen Roman von Hengameh Yaghoobifarah erarbeitet. Um gleich zu spoilern: Die Uraufführung wurde nach einem ebenso eindrucksvollen wie unterhaltsamen Abend zurecht bejubelt.
War’s ein Unfall? War’s Selbstmord?
Kriminalfälle waren bereits eine Schriftsteller*innen-Generation zuvor schon Thema der interkulturellen Literatur (Kemal Kurt, Zafer Şenocak), ebenso die Auseinandersetzung mit den Schrecken des Mullah-Regimes in Iran mitsamt der Erkenntnis, dass politische Exilant*innen im rassistischen Deutschland abermals um ihr Leben fürchten müssen (SAID). Aber Yagoobifarahs Bestseller-Roman, eine tragische Geschichte einer iranischen Familie, die erst vom Mullah-Regime in die Deutschlandmigration getrieben, dann durch den politischen Mord am Vater und später noch durch den Unfalltod der Tochter/Schwester erschüttert wird, trifft genau den Ton der neuen Generation.
Während die queere Ich-Figur Nasrin aka Nas um die verstorbene Schwester Nushin trauert, muss sie gleichzeitig ihr zerrüttetes Verhältnis zur verbitterten Mutter aufarbeiten und sich um die verwaiste Nichte kümmern – eine Zerreißprobe für die durch Verlust, Exil und sexuellen Missbrauch traumatisierte Frau, deren Leben nur mit Verdrängung oder exzessiven Cannabiskonsum im Gleichgewicht gehalten wird. Während für die Polizei schnell klar ist, dass der Autounfall mit Clan-Kriminalität zusammenhängt, quälen sich Nushins Schwester, Mutter und Tochter mit der Frage, ob es Selbstmord war: Verzweifelte Nushin zuletzt doch an der Dysfunktionalität der Familie, an der allgegenwärtigen rassistischen Gewalt? Die hinterbliebenen Frauen geraten in einen Strudel aus gegenseitigen Vorwürfen und belastenden Rückblicken, bis eine wie der Deus ex machina erscheinende Jugendfreundin Licht ins Dunkel bringt.
Geflüstertes und Gesummtes
Im Theater im Fridericianum, dem Studio-Ableger des Kasseler Staatstheaters, überträgt die mit hippiebunten Lamellenvorhängen und quietschgrünen Miniaturmöbeln ausgestatteten Zimmer-Szenerie auf der von Jule Saworski gestalteten Bühne die ironische Distanz der Erzählung effektvoll, was durch den Sound aus oft dramatisch pochenden Bässen und zumeist leise eingespielten Songs (die Playlist des Stücks ist aus dem QR-Code im Programmheft abrufbar) konterkariert und in Spannung gesetzt wird. Der Albtraum einer verkorksten Kindheit wirkt nicht nur optisch, sondern auch akustisch, über Geflüstertes und Gesummtes (Sound: HANNS). Traumatische Ereignisse werden symbolisch über Requisiten (die Vergewaltigung der Mädchen durch Hochheben des Fernsehers) und soundtechnisch (Geräusche des Unfall-Crashs, der Song "I Just Died in Your Arms Tonight" von Cutting Crew) abgerufen. Unablässig schrillt das grell-grüne Schaumstoff-Telefon. All das lärmt und triggert um die agierenden Figuren herum und funktioniert zusammen mit deren Spiel ganz hervorragend.
Die vier Schauspieler*innen, alle in mehreren Rollen, leisten dabei Großartiges. Katharina Brehl – als einzige in nur einer Rolle – gibt Nasrin-Nas energiegeladen und ist auch in der Pantomime zu den vom Bühnenrand aus erzählten Romanpassagen stark. Zusammen mit Zazie Cayla tanzt sie gegen Ende des Stücks einen wunderbar erotischen Pas de Deux, und auch Cayla überzeugt in wechselnden Rollen als Geliebte Filiz, stocksteifer Notar und schleimige Polizistin. Jakob Benkhofer gibt die tragische Figur der Mâmân und erzeugt als pädophiler Nazi Gerhard allein über seine Stimme ziemlichen Grusel. Und dann ist da noch Marcel Jacqueline Gisdol, der überragend in seinen Rollen aufgeht, sei es als kindlich-plärrende Schwester-Bratze, als verzickt-verzweifelter Teenager oder als dauerpopelnder Polizist.
Intensiv und realitätsnah
Wie dieses Quartett Yaghoobifarahs Text unter Junghanns' Regie umsetzen, ist mitreißend, reizt zum Gelächter, macht betroffen. Eine der stärksten Szenen ist die Konfrontation der gebeutelten Neu-Mutter Nasrin mit den rassistischen Helikopter-Müttern (den "Annikas") in der Schule: Wie Brehl da auf den genervten Lehrer (Benkhofer) einredet, während die im Publikum befindlichen Annikas (Cayla und Gisdol) ihre Ressentiments mit uns teilen, ist intensiv und realitätsnah.
Hier schreibt, inszeniert und spielt eine Generation, die Hoyerswerda nur aus dem Fernsehen kennt, den NSU-Skandal aber inhaliert hat, und haut uns ihre postmigrantische Antwort um die Ohren. Yaghoobifarah, selbst im Publikum, ist am Ende ebenso begeistert wie das stehend applaudierende Publikum. "Das Ministerium der Träume" soll demnächst als Fernseh-Serie herauskommen. Die Kasseler Bühnenfassung hat die Latte schonmal ordentlich hochgelegt.
Ministerium der Träume
von Hengameh Yaghoobifarah
Bühnenfassung von Laura N. Junghanns
Regie, Konzept: Laura N. Junghanns, Bühne, Kostüme, Konzept: Jula Saworski, Sound: HANNS, Dramaturgie: Dirk Baumann.
Mit: Jakob Benkhofer, Katharina Brehl, Zazie Cayla, Marcel Jacqueline Gisdol.
Premiere am 3. Juni 2023
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-kassel.de
Kritikenrundschau
Hegameh Yaghoobifarah schreibe "radikal parteiisch. Voller Wut über die Scheinheiligkeiten der Mehrheitsgesellschaft, voller Zärtlichkeit für den Alltag, die Nöte und die Selbstbehauptung migrantischen Lebens," so Joachim F. Tornau in der Frankfurter Rundschau (5.6.2023). Wie der Roman erzähle auch Laura N. Junghanns’ Bühnenversion in einem Wechsel aus Gegenwart und Rückblenden in die Vergangenheit. Das hat aus Sicht des Kritikers "eine Menge Zug"."Die Dialoge, die sich im Roman gelegentlich etwas hölzern lesen, werden quietschlebendig. Nur die Auflösung, wie Nushin wirklich gestorben ist und was das mit migrantisch-antifaschistischer Selbstermächtigung zu tun hat, wirkt am Ende etwas abgespult. Das vorwiegend junge Publikum der Premiere aber war begeistert und applaudierte minutenlang im Stehen."
Von 100 überaus gelungenen Theaterminuten, "die der literarischen Vorlage gerecht werden und den Stärken eines Romans Raum geben" spricht Bettina Fraschke in der HNA (5.6.2023). Und von frenetischem Jubel am Ende. "Fast slapstickartige witzige Szenen verbinden sich mit nachdenklichem inneren Monolog und tänzerischen Performance-Elementen", die etwa die Gedankenschleifen "eines verzweifelten Nachdenkprozesses und die Erinnerung ans Verliebtsein visualisieren. Eine sehr abstrakte, aber höchst beklemmende Szene erzählt von Kindesmissbrauch. Rückblenden führen außerdem in eine Zeit des Heranwachsens mit der migrantischen Jugendclique."
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Zitat stocksteifer Notar, schleimige Polizistin pädophiler Nazi Gerhard kindlich-plärrende Schwester-Bratze, als verzickt-verzweifelter Teenager oder als dauerpopelnder Polizist.
Super