z.B. Philip Seymour Hoffman - Staatstheater Kassel
Digitale Auferstehung
von Michael Laages
Kassel, 20. September 2020. Vielleicht trügt die Erinnerung ja schon: an erste Begegnungen mit dem argentinischen Dramatiker Rafael Spregelburg. War's in der kurzen Zeit des Intendanten Tom Stromberg am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, dass er als eine der jüngeren, wichtigen Stimmen der lateinamerikanischen Bühnen-Literatur entdeckt wurde? An diesem Status hat sich in den etwa zwei Jahrzehnten seither nicht allzu viel geändert, zumindest auf deutschsprachigen Bühnen hat sich Spregelburds Sound bislang nicht durchgesetzt. Womöglich ändert sich das auch jetzt wieder nicht, nach Wilke Weermanns Versuch mit Spregelburds modisch-medialem Verwirrspiel in der Beschwörung von "z.B. Philip Seymour Hoffman".
Figur im Medienzeitalter
Der starb vor sechs Jahren, nicht mal 47 Jahre alt; und neben Filmen wie "Capote" (für den Hoffman mit dem Schauspieler-Oscar geehrt wurde) hat auch dieser frühe Drogen-Tod ihn zur Kino-Ikone werden lassen. Spregelburd mit seiner überbordend vielgestaltigen Theater-Phantasie nutzt nun Hoffman als Beispiel für eine zentrale Frage im Medien-Zeitalter – wie viel Realität wäre denkbar, wenn es gelänge, einen wie "z.B. Philip Seymour Hoffman" digital und virtuell wiederauferstehen zu lassen; wer wäre dann der "richtige" Hoffman am Markt der Bilder?
Aber das ist nur einer der Denk-Stränge. Das Stück wirft eine Art Spinnennetz aus Traum und Alptraum aus, durchdrungen und unterfüttert mit Assoziationen zu einigen Filmen, die der Programmtext aus der Dramaturgie auch für jene Kundschaft benennt, die nicht gar so oft vor Leinwänden und Bildschirmen und dafür lieber im Theater hockt. Die Film-Anleihen mögen rote Fäden sein für zwei pausenlose Theaterstunden; derart viele aber sind hier verknäuelt, dass sie im Grunde nicht wirklich weiter helfen. Und wenn der Bericht hier ein bisschen wirr wirkt, ist das unbedingt angemessen – das Stück ist noch wirrer.
Geheimnisse des modernen Menschen
Immerhin hilft Paula Wellmanns Ausstattung – die Bühnen- und Kostümbildnerin hat ein japanisch wirkendes Papierhaus auf die kleine Bühne im Keller des Fridericianums in Kassel gebaut, und der kleine, von allen Seiten her durchsichtige Raum mit Durchblicke stiftenden Fenstern und Schiebetüren kann sich sogar drehen. Tendenziell sind wir meistens in Japan, und von der fundamentalen Geheimnislosigkeit des modernen Menschen ist auch recht regelmäßig die Rede – ein Prominenter im Kunst- und Kulturbetrieb etwa ist kurz nach Beginn total schockiert darüber, dass ein Mädchen bei einer Quizshow im Fernsehen offenbar mehr über ihn zu wissen scheint als er selbst sich eingesteht.
Gleich darauf aber sind wir in einem Ehe-Haushalt zu Gast, wo der Mann gerade teilnimmt an einem Film-Casting (als Hoffman-look-alike?), die Frau sich allerdings gerade scheiden lassen will. Gleich darauf aber stellt sich all das als Film-im-Film-im-Stück-Spielerei heraus, und nicht sehr viel später wünscht sich ein US-amerikanischer Polit-Potentat (mit bananenartiger Trump-Tolle auf dem Kopf) die Inkarnation des toten Helden Hoffman als nationaler Identifikationsfigur herbei.
Wilde Collagen
Sicher jedenfalls darf sich der jeweiligen Situation niemand jemals sein. Wie im Delirium absurden Bilder- und Ideen-Wahns treibt das Stück voran, auch dank Wellmanns ziemlich überkandidelten Kostümen und einem Bewegungsrepertoire fürs Ensemble wie aus Monty Pythons legendärem Wettbewerb der verrücktesten Gänge und Gesten.
Das ist zuweilen recht komisch, und das begeisterungswillige Publikum in der kleinen Kellerbühne freut sich den ganzen Abend über fleißig mit. Auch dann, wenn Weermanns Inszenierung sich zu verlieren scheint im Niemandsland zwischen Theater und Film – gegen Ende gewinnt das elektronische Bild deutlich die Oberhand: in den Video-Sequenzen über die zuvor schon (noch ein roter Faden!) angedeutete Geschichte über ein siebenjähriges Kind, das bald sterben wird und für das die gesamte Nachbarschaft schon im November das allerletzte Weihnachtsfest fingiert. Komik und Kitsch finden da zu einander, während die medialen Ebenen immer weiter voneinander weg driften.
Haltlos, grenzenlos
So japanisch bunt in Kostüm und Frisuren das Spektakel gerät, so werden doch mit der Zeit ein paar grundlegende Zutaten des Theaters vermisst. So lässt sich zwar immer behaupten, das wirre Durcheinander wie aus dem Krimskrams-Kramladen entspreche der medialen Unordnung und Unübersichtlichkeit heutzutage – das mag zwar stimmen als Motiv, wirkt aber auch schon ein bisschen zerlesen und zerfleddert. Auch darum aber wird das Ensemble in Kassel zum festen (und einzigen!) Anker in all der intellektuellen Über-Ambition das Abends – es erinnert auch in der albernsten Ulk-Nudeleien daran, dass das Delirium durch "richtige" Menschen hindurch geht, durch Spielerinnen und Spieler, auch wenn "z.B. Philip Seymour Hoffman" digital wiederaufersteht. Das Vergnügen des Ensembles, auch und vielleicht vor allem an der enormen Menge von Rollen- und Typenwechseln, ist immer echt und gar nicht virtuell.
Regisseur Weermann bewährt sich auch mit dieser Arbeit in Kassel als Spezialist für sehr schwer zugängliches Material, Szene und Markt schätzen ihn ja auch dafür. Womöglich wird er bald mal einen Film von Roy Andersson fürs Theater entdecken. Aber gelegentlich, und gerade an diesem Weermann-Abend, schmeckt diese enorm forcierte Halt- und Grenzenlosigkeit in Spiel und Phantasie halt auch nach Beschränkung.
z.B. Philip Seymour Hoffman
von Rafael Spregelburg, Deutsch von Klaus Laabs
Regie: Wilke Weermann, Bühne und Kostüme: Paula Wellmann, Musik: Constantin John, Video: Christian Neuberger, Dramaturgie: Thomaspeter Goergen, Licht; Dirk Thorbrügge.
Mit: Marius Bistritzky, Tim Czerwonatis, Eva-Maria Keller, Alexandra Lukas, Isabel Rudek, Stephan Schäfer, Artur Spannagel.
Premiere am 20. September 2020
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.staatstheater-kassel.de
Kritikenrundschau
"Zwar ist der Abend mit reichlich zwei Stunden etwas zu lang, aber es ist ein absolut lohnendes Theatererlebnis entstanden, das sowohl viel Augenfutter als auch intelligente, witzige Denkanstöße zum Thema Identität bietet", schreibt Bettina Fraschke von der Hessischen Niedersächsischen Allgemeinen (22.9.2020). "Wieviel Tiefe die Darsteller ihren zahlreichen Figuren verleihen – so absurd sie zugleich die Münder verrenken, und die Hüften beim Gehen abknicken müssen, ist wundervoll."
Detlev Baur schreibt in der Deutschen Bühne (online 21.9.2020): "Der junge Regisseur Wilke Weerman … verwandelt den unbekannten belgischen Hofmann-Doppelgänger in einen Brandenburger und konzentriert so das so anregende wie überbordende Drama." Weerman und dem "beeindruckenden Ensemble" aus sechs Darstellerinnen und Darstellern gelänge "mit Hilfe der Konzentration auf japanische Fremdheit ein sehenswertes Kammerspiel". Vor nicht mehr als 30 Zuschauern entwickele sich ein "unterhaltsames Gruselkabinett" aus menschlichen Puppen, das durch deren Verletzlichkeiten eine eigenwillige Schönheit entwickele.
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hier folgt keineswegs eine Kritik der Kritik; es ist immer die Inszenierung, die für sich spricht, und die erreicht, wen sie erreicht. Manchmal geht es indes nicht um Interpretation, sondern um die Sachlichkeit einer Beschreibung. Herr Laages schreibt von „Film-Anleihen“ als roten Faden, von „einigen Filmen, die der Programmtext (…) auch für jene Kundschaft benennt, die nicht gar so oft vor Leinwänden (…) und dafür lieber im Theater hockt.“ Wie in den ersten drei Szenen des Abends deutlich wird, handelt es sich bei diesen Filmen um freie Erfindungen des Autors. Es sind keine realen Filme, bei denen man Anleihen nehmen oder vor denen man hätte hocken können. Dies hätte der Kritiker gewiss realisiert, wenn er nicht über zehn Minuten zu spät gekommen wäre und eben den ganzen Anfang versäumt hätte. Wohl verstanden: Jeder kann zu spät kommen und jeder verspätete Gast ist uns herzlich willkommen. Allerdings ist dies doch etwas, dass Ihre Leserinnen und Lesern wissen sollten.
Mit herzlichen Grüßen aus Kassel
Thomas Bockelmann
Intendant
Hallo Herr Bockelmann, Intendant! Vor "frei erfundenen Filmen" hocke ich persönlich im Theater etwa genau so ungern wie vor "Anleihen" realer … insofern ändert der wichtige Hinweis auf "die ersten drei Szenen" (die alles erklären, was ich nicht verstanden habe) an der Wirkung des Abends (auf mich, nur auf mich) überhaupt nichts. Die Verweise auf Filme im Text für's Programm-Faltblatt bleiben. - Zur Verspätung: Ich habe nach zwei Stau-Lagen auf der ja sonst angenehm leeren A 38, von Leipzig kommend, im Endspurt eine kleinere Portion Regeln übertreten, um überhaupt noch halbwegs pünktlich anzukommen in Kassel. Das werde ich in Zukunft nicht mehr tun, zumindest nicht für die Nachtkritik; wenn Verspätung unvermeidbar ist, werde ich Premiere Premiere sein lassen … Mit herzlichen Grüßen nach Kassel.