Lolita - Schlosstheater Moers
Schluss mit dem Nymphetten-Syndrom
29. April 2023. Nabokovs Lolita ist keine Verführerin, sondern wird Opfer sexuellen Missbrauchs. Punkt. Im kunstvoll konstruierten Roman kann man nur so leicht auf den Erzähler hereinfallen, der seine Tat rechtfertigt. Ein bekanntes Muster, oder? Susanne Zaun und Leander Ripchinsky wollen es durchbrechen.
Von Gerhard Preußer
29. April 2023. Lolita ist heute ein Name für eine junge Verführerin. Ganz anders als in Vladimir Nabokovs Roman, wo sie das Opfer eines raffinierten Pädophilen ist. Dieses Missverständnis gründet in Nabokovs Konstruktion seines Roman-Erzählers: Professor Humbert, der im Gefängnis seine Erinnerungen an sein Verbrechen aufschreibt, ist ein Ich-Erzähler, dem man eigentlich nicht glauben kann, wenn er andere Personen beschreibt, der aber alles darauf anlegt, dem Leser (oder: der Jury) seine Gefühle glaubhaft zu machen. Und der sich selbst immer zugleich rechtfertigt und ironisch verurteilt.
Sympathie der Leser:innen mit dem Verbrecher ist das Ziel des Erzählers, nicht des Autors. Das Ziel des Autors ist es, die Leser:innen mit aller sprachlichen Kunstfertigkeit in eine Perspektive hineinzuverzaubern, die sie eigentlich ablehnen. So wird aus der Verführten die Verführerin. Die Figur hat sich verselbstständigt. Man hat vergessen, dass Lolita im Roman zwölf Jahre alt ist.
Brechung einer verkehrten Spiegelung
Auf dieses Missverständnis weist die Inszenierung im Schlosstheater Moers gleich zu Anfang hin. In einer Art interaktiv-didaktischen Aktivierung des Vorwissens fragen die zwei Schauspielerinnen und ein Schauspieler die Zuschauer, was sie über Lolita wissen. Prompt kommt: "Sie verführt einen Mann." Dann stellen sich die drei auf der Bühne vor mit ihren realen Schauspieler:innen-Namen – Matthias Heße, Joanne Gläsel, Emily Klinge – und zugleich als Britney Spears, Poppy und Baby Jane, die nun Lolita spielen werden. Entsprechend sind sie auch kostümiert.
Keine der Bühnenfiguren entspricht nach Alter oder Geschlecht der Romanfigur. So kommt in zweifacher Brechung sowohl das Original als auch seine verkehrte Spiegelung in der Rezeptionsgeschichte in den Blick. Die Pop-Lolitas von heute sind allesamt älter als die originale, nutzen aber immer noch dieses Verführerinnenmädchen-Image. Und dass sich heute bei tumblr junge Mädchen als Lolitas inszenieren, kann man nicht als Subversion durch Imitation, als feministische Selbstermächtigung der Opfer des Patriarchats, feiern.
Trennschicht zwischen Text und Aktion
Was folgt, ist eine Lolita-Demontage. Die Figur wird in ihre Einzelteile zerlegt. Und diese Teile sind Sätze. Textgrundlage der Inszenierung von Susanne Zaun und Leander Ripchinsky ist nicht der Roman, sondern das Drehbuch, das Nabokov für die Verfilmung seines Romans durch Stanley Kubrick 1960 geschrieben hat. Kubrick hat es nicht verwendet, aber es ist ein Versuch des Autors, aus seinem Epos eine Art spielbares Drama zu machen. Die Inszenierung pflückt sich aus dieser Fassung einzelne Sätze heraus und trennt systematisch Mimik, Gestik und Aktion von der Sprache.
Eine Schauspielerin agiert mit stummen Mundbewegungen, der Schauspieler spricht daneben ins Mikro. Immer wieder derselbe Text, mal ekstatisch, mal verschämt, mal aggressiv, mal lüstern, mal sabbernd, mal geröchelt. Die Methode collagiert Text und Aktion, klebt sie übereinander, ohne sie zu verbinden, schiebt eine Trennschicht zwischen Wort und Sprecher:in ein. Auf der Bühne ist neben drei Stühlen nur ein golden glitzernder Vorhang aus Schnüren, durch den hindurch man die drei Lolitas sieht. Aber gelegentlich durchbrechen sie diese Glamour-Wand, die Schnüre wehen in der Windmaschinenbrise oder glühen sanft im Nebel.
Blick frei auf Lolita
So sieht man ein intelligentes Konzept, so ideologiekritisch wie gegenwartsorientiert, umgesetzt mit den einfachen Mitteln des kleinsten Stadttheaters in NRW. Und dank Mattias Heße in der Röckchen-Rolle kann man auch über weibliche Posen im falschen Körper lachen.
Mit der Methode der Satzzerlegung wird auch die Handlung weitergeführt, soweit möglich durch originale Dialogfetzen. So wird der Blick frei für die Reaktionen Lolitas, nicht verstellt durch die selbstgerechten, kunstvollen Rechtfertigungstiraden des Erzählers Humbert. Allerdings fehlt Humberts Rivale Quilty, zu dem Lolita im Roman schließlich flüchtet. Aber der war sowieso nur eine Figur, mit der Nabokov die Leser weiter in die Arme des sympathischen Pädophilen Humbert treiben wollte. Wenn Quilty der noch Bösere ist, kann man Humbert besser entschuldigen. Und das ist nicht das Ziel der Inszenierung.
Zum Schluss wird die Intention noch deutlicher. In rosarote Plastiksäcke gehüllt liefern sich die drei Darsteller:innen eine Wasserschlacht. Ein Dreikampf mit Wassern und Worten. Jeder kotzt dem oder der anderen Nabokov'sche Satzbruchstücke ins Gesicht, bespritzt, bespeit sich gegenseitig mit schlichtem Wasser, schüttet Wassereimer übereinander aus, immer kombiniert mit Satzfetzen aus dem Roman oder Drehbuch. Nabokovs feine Sprache wird entweiht, zerhackt, entästhetisiert. Ein Ekelsatzwassergemetzel. Und die gute Botschaft fehlt dann doch auch nicht. Kurz vorm Ende des Abends ertönt aus dem Off eine Kinderstimme: "Diesmal geh ich dahin, wo ich hin will." So ist der Lolita-Mythos demontiert und der Weg ist frei.
Lolita. Ein Drehbuch
von Vladimir Nabokov
Deutsch von Dieter E. Zimmer
Inszenierung und Raum: Susanne Zaun, Leander Ripchinsky, Kostüme: Mari-Liis Tigasson, Dramaturgie: Sandra Höhne.
Mit: Matthias Heße, Joanne Gläsel, Emily Klinge, Milla Bosbach-Plonka.
Premiere am 28. April 2023.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.schlosstheater-moers.de
Kritikenrundschau
Jonas Burgwinkel zitiert in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (1.5.2023) Zuschauer*innenreaktionen.
Ein Zuschauer lobt "die Haltung und Energie des Ensembles", die "Hinterfragung der Gesellschaft" sei interessanter als die Geschichte. Ein anderer beschreibt die Darstellung des Missbrauchs als "subtil aber deutlich".
"Hier wurden alle Register gezogen, die das Theater als Schau- und Showbühne, wie auch als moralische Anstalt zu bieten hat", staunt Olaf Reifegerste von der Rheinischen Post (1.5.2023). Die Stars in der Manege der Dreierbeziehung seien die drei Lolitas, verkörpert von Heße, Gläsel und Klinge. "Sie spielen und sprechen wie besessen, schaffen somit eine berauschende Theaterinszenierung mit grellen Effekten, verwunschenen Verfremdungen und einer Wasserschlacht, die es in sich hat."
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