Parade 24/7 - Schlosstheater Moers
Tragödie ohne Konsequenzen
von Sascha Westphal
Moers, 19. Februar 2020. Auf der Facebook-Seite des WDR 3 findet sich gegenwärtig eine Umfrage, die die Frage stellt: "Darf man ein Theaterstück über die Katastrophe machen?" Gemeint ist die Katastrophe, die sich am 24. Juli 2010 bei der Love Parade in Duisburg ereignete und 21 Menschenleben forderte. Außerdem wurden damals weit über 600 Besucher teils schwer verletzt.
Anlass für diese Umfrage sind zwei Theaterstücke: Ulrich Grebs am Schlosstheater Moers entstandenes Rechercheprojekt "Parade 24/7" und eine am Kom'ma-Theater-Duisburg geplante Produktion, die Ende März Premiere haben wird und schon vor Monaten mediale Entrüstung provoziert hat. Und mit eben dieser Entrüstung spielt auch die Umfrage, die nur zwei simple Antworten anbietet und damit auch nur zwei polarisierte und polarisierende Haltungen zulässt: "Ja klar, das ist Kunst!" und "Nein, das ist pietätlos!"
Rechercheprojekt mit Zwischentönen
Genau dieser simplen Schwarzweiß-Logik stemmen sich allerdings Ulrich Greb und sein Ensemble mit ihrer Arbeit konsequent entgegen. Ja, "Parade 24/7" ist ohne Frage Kunst, und zwar eine Kunst, die nach Zwischentönen sucht, die keine vorgefertigten Antworten gibt, die Räume für Gedanken und Debatten lässt.
Und nein, dieses Rechercheprojekt, das auch auf Gesprächen mit Opfern der Katastrophe und mit Hinterbliebenen der Verstorbenen basiert, ist keinesfalls pietätlos. Es dokumentiert die Vorgänge vor, während und nach der Katastrophe durch eine collageartige Sammlung von meist kurzen Zitaten, deren Quellen die Performerinnen und Performer immer auch offenlegen. Dabei vermeidet diese Kompilation von Originalzitaten, die aus dem Funkverkehr der Einsatzkräfte am 24. Juli 2010, aus öffentlichen Äußerungen der Veranstalter, aus den Prozessprotokollen und aus Schilderungen der Überlebenden stammen, jegliche Form von Sensationalismus.
Untergang in Ballon-Fluten
Auf nüchterne Weise erschafft Ulrich Greb im ersten Teil seiner Inszenierung ein akustisches Porträt der Ereignisse kurz vor und während der Katastrophe. Die vom sechsköpfigen Ensemble eingesprochenen Texte kommen dabei komplett vom Band. Sie werden so zu einer Tonspur, die eine von Constantin Hochkeppel entworfene Choreographie begleitet. Ein schwarzes Netz trennt den Zuschauerraum von der nach hinten von einer schwarzen glitzernden Wand begrenzen Spielfläche. Diese Wand endet etwa 30, 40 Zentimeter oberhalb des Bodens, unter ihr stecken große, schwarz-gräuliche Luftballons fest. Patrick Dollas, Lena Entezami, Matthias Heße, Roman Mucha, Elisa Reining und Frank Wickermann tragen alle graue Anzüge und stehen mit dem Rücken zum Publikum.
Zu Emilio Gordoas zunächst eher dumpfen elektronischen Sounds bewegen sie erst einmal nur einzelne Bereiche ihrer Körper. Mal sind es die Schultern, die sich rhythmisch heben und senken, mal sind es die Hände. Mal gehen sie rückwärts einzelne Schritte auf das Publikum zu. Während die Stimmen vom Band die Eskalation der Situation während der Love Parade schildern und die Katastrophe zeitlich immer näher rückt, füllt sich die Spielfläche mehr und mehr mit den dunklen Luftballons, die von unsichtbaren Händen unter der Hinterwand durchgedrückt werden. Nach und nach verschwinden die Spielerinnen und Spieler in den Luftballon-Fluten. Nur einzelne Köpfe sind noch sichtbar, und man erahnt, dass sie versuchen, sich einen Weg durch die Ballons zu bahnen, aber immer wieder zurückgedrängt werden.
Konfrontation mit dem Unfassbaren
Aus der Trennung von Bild und Text erwächst eine ganz eigene Atmosphäre. Natürlich steht das Bild der sich füllenden Spielfläche in Korrelation zu den Ereignissen am 24. Juli 2010. Aber die dezente Choreographie engt die Wahrnehmung der Zuschauer nicht ein. Sie deutet die Panik und Verzweiflung der Opfer ebenso wie die Hilflosigkeit der Sicherheitskräfte und die Sorglosigkeit der Verantwortlichen nur an. Jede Bewegung der sechs Performerinnen und Performer lässt unterschiedliche Deutungen und Assoziationen zu und konfrontiert einen so mit dem Unfassbaren.
Im zweiten Teil der Inszenierung, der sich der Vorgeschichte wie dem (juristischen) Nachspiel der Love Parade widmet, sprechen die Schauspielerinnen und Schauspieler die Texte live. Zugleich werden auch die Choreographien eindeutiger. Wieder und wieder formieren sich die Sechs in ihren Anzügen zu einer Art grauem Block, der von rechts nach links, von vorne nach hinten über die Bühne huscht. Man macht sich unangreifbar, sucht den Schutz der Masse. Denn wenn viele schuld sind, dann ist die Schuld des Einzelnen nicht groß genug für strafrechtliche Konsequenzen. Genau deswegen wird der Prozess gegen die für die Katastrophe mutmaßlich Verantwortlichen am 28. Juli 2020, dem Tag, an dem das Geschehen verjährt, ergebnislos enden.
Man spürt in diesen Bewegungen aber auch die Wut der Betroffenen und die Ratlosigkeit einer Gesellschaft, die miterleben muss, wie eine solche Tragödie ohne Konsequenzen bleibt. Und man erkennt noch etwas ganz anderes. Es geht alles so weiter wie zuvor. Was vor zehn Jahren geschehen ist, kann jederzeit wieder geschehen. Und alleine für diese Erkenntnis braucht es Theaterabende wie "Parade 24/7".
Parade 24/7
Ein Rechercheprojekt von Ulrich Greb
Regie und Textfassung: Ulrich Greb, Bühne: Birgit Angele, Kostüme: Michaela Springer, Choreographie: Constantin Hochkeppel, Sounds: Emilio Gordoa, Dramaturgie und Mitarbeit Textfassung: Larissa Bischoff.
Mit: Patrick Dollas, Lena Entezami, Matthias Heße, Roman Mucha, Elisa Reining und Frank Wickermann.
Premiere am 19. Februar 2020
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause
www.schlosstheater-moers.de
Kritikenrundschau
Von "druckvollen 90 Minuten", an denen "keine Zeile" Dichtung sei, berichtet Lars von der Gönna in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (20.2.2020, hinter Paywall). Mit der erdrückenden Bälle-Flut erzeuge der Abend "eine Ahnung, was Menschen damals widerfahren ist". Das Stück sei "kein Coup neuer Erkenntnisse", aber: "Die Addition der Verfehlungen und Dreistigkeiten bombardiert uns an diesem Abend massiv, Täterprofile im Telegrammstil gewissermaßen". Fazit: "Gerade weil einen dieser Fall bis heute sprachlos machen kann, tut es gut, dass Theater nicht dazu schweigt."
"Die im Vorfeld geäußerte Sorge, dass das Theater auf Sensationslust aus sein könnte, hat das Ensemble entkräftet. Die Inszenierung hinterfragt mutig, wie es zu der Katastrophe kommen konnte und was in einem System falsch läuft, in dem die Aufarbeitung der Tragödie ohne strafrechtliche Konsequenzen für eine Vielzahl von mutmaßlich Schuldigen bleibt", schreibt Anja Katzke von der Rheinischen Post (20.2.2020).
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