Unerträglich schön ist das Sein

15. Oktober 2022. Rosa von Praunheim, Filmemacher und Pionier der bundesdeutschen LGBTIQ*-Bewegung, hat ein neues Theaterstück geschrieben. Und umkreist eines seiner Lebensthemen: Hinter der Fassade einer Normalexistenz führen seine beiden titelgebenden Fleischfachverkäuferinnen ein wildes Leben: als Bankräuber:innen, als Südseereisende. Und alles wird bei ihnen Wurst. Außer Räubern und Wölfen. 

Von Sascha Westphal

"Zwei Fleischfachverkäuferinnen" von Rosa von Praunheim, uraufgeführt am Schlosstheater Moers © Jakob Studnar

15. Oktober 2022. Es beginnt wie ein Film, aber nicht wie eine dieser millionenschweren, bis ins Letzte perfektionierten und damit gänzlich sterilen Erfolgsproduktionen. Die Art, in der die Anfangscredits auf den hinteren von zwei durchsichtigen Vorhängen projiziert werden, erinnert an Experimentalfilme, die auf 16mm oder gar auf Super 8 gedreht worden sind. Die handbeschrifteten Folien, auf denen neben dem Titel "Zwei Fleischfachverkäuferinnen" auch die Namen des Autors, Rosa von Praunheim, und die der Spielenden samt ihrer Rollen genannt werden, rückt eine Hand etwas umständlich ins rechte Licht.

Die kleinen Komplikationen, die sich aus dieser Handarbeit ergeben, verströmen einen ganz besonderen Charme. Es ist wirklich nie sicher, ob sie gerade einfach passieren oder ob sie nicht doch zur Inszenierung gehören. Und so soll es auch sein. Das Unfertige, eben nicht Perfekte, das zum Fragen und sich Wundern einlädt, bringt erst Leben in die Kunst. Genau wie in den Filmen von Rosa von Praunheim, vor denen sich Damian Popp mit seiner Uraufführungsinszenierung von dessen neuem Stück auf wunderbar lässige Weise verbeugt.

Singende Drag Queens an der Fleischtheke

Die zwei Fleischfachverkäuferinnen sind Zarah Chi Chi und Karina, zwei Frauen, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Matthias Heße und Emily Klinge spielen sie in identischen rosafarbenen Lackkleidern und weißen Schürzen wie ein Paar alter Freundinnen, bei denen es immer unklar bleibt, ob sie sich nun lieben oder vielleicht doch lieber gegenseitig an die Gurgel gehen würden. Natürlich ist Heßes Spiel auch Travestie, eine liebevolle Huldigung aller Drag Queens. Aber letztlich vergisst man relativ schnell, dass hier ein Mann mit viel Chi Chi eine Frau spielt und sieht einfach nur eine patente Person, die furchtlos versucht, aus jeder noch so schwierigen Situation das Beste zu machen.

In gewisser Weise hat auch Emily Klinges Karina, hinter deren bezauberndem Lächeln sich tiefe Abgründe aus Zorn und Angst, aus Schuldgefühlen und Mordfantasien, verbergen, etwas von einer Drag Queen. In dieser leicht verzerrten Spiegelung der beiden Figuren liegt schon eine der tieferen Wahrheiten, über die Rosa von Praunheim und auch Damian Popp scheinbar scherzend und blödelnd hinweggehen. Jede Form von Identität, vor allem jede Form von geschlechtlicher Identität, wird im Zusammenspiel von Matthias Heße und Emily Klinge, die vom Sprechen immer wieder unvermittelt in Gesang wechseln, als Konstrukt kenntlich, als Entscheidung, die einem aufgedrängt wird und die man doch auch selbst trifft.

Mephistopheles-Figur im Twinset

Zarah Chi Chi und Karina führen eine Metzgerei, die offensichtlich schon bessere Tage gesehen hat. Im Hintergrund hängen zwar Schweinehälften, aufgeblasen und aus Plastik (Bühne: Tanja Maderner), aber Kund:innen verirren sich nur selten zu ihnen. Wobei Kund:innen schon zu hoch gegriffen ist, denn die beiden Fleischfachverkäuferinnen haben mit Frau Müller genau eine Kundin, die allerdings nie etwas bei ihnen kauft.

Fleischfachverkaeuferinnen 4 JakobStudnar uBlutige Angelegenheiten regeln hier Emily Klinge, Roman Mucha und Matthias Heße © Jakob Studnar

Bei ihren ersten Auftritten wirkt die von Roman Mucha verkörperte Frau Müller mit ihrem grünen Twinset und dem passenden Hut sowie ihrem kleinen (Stoff-)Hund, der genau wie sie gekleidet ist, noch wie eine schrullige alte Dame. Ihre Bemerkungen und ihr Verhalten sind zwar recht boshaft, aber auch ein wenig verwirrt. Erst später, nachdem sie eine flamboyante Wiederauferstehung erlebt hat, offenbart sich Mucha als mephistophelische Figur, die Zarah und Karina das Leben schon im Diesseits zur Hölle machen will.

Absurd geschwinde Albernheiten

Rosa von Praunheims eher lose Szenenfolge, die ihre beiden singenden Heldinnen auch zu Bankräuberinnen in der Schweiz, zu Arbeiterinnen in einem Schlachthaus und zu Südseereisenden werden lässt, trägt deutliche Zeichen des Absurden. So wechseln sich nicht nur ständig Dialoge mit Gesangspartien ab, auch die Tonlagen des Textes sind fortwährend im Fluss. Kalauer und Nonsens gehen unvermittelt über in ernsthafte Reflexionen über Liebe und die Schuld, die das Verarbeiten von Tieren zu Wurst mit sich bringt, weichen dann aber sofort wieder wilden Albernheiten.

Diesen dauernden Stimmungswechseln begegnet Damian Popp mit einer Geschwindigkeit, die das Absurde absurd selbstverständlich erscheinen lässt, und mit einer ansteckenden Lust an Spiel und Spielereien. In der Bankraub- wie in der Südsee-Szene kommen wieder gezeichnete Overheadfolien zum Einsatz, die einen daran erinnern, wie einfach es ist, im Theater die Fantasie (und Schweine) fliegen zu lassen.

Ganz am Ende des Stücks, Frau Müller ist zum zweiten Mal in den Orkus gefahren, singen Matthias Heße und Emily Klinge im Duett: "Die Schönheit des Lebens / Ist nicht zu ertragen." Und eben dieser unerträglichen Schönheit erweisen Rosa von Praunheim, Damian Popp und das Ensemble mit einer ungeheuren spielerischen Leichtigkeit und der Anarchie eines geradezu magischen Widerstandsgeistes ihre Reverenz.

Zwei Fleischfachverkäuferinnen (UA)
von Rosa von Praunheim
Regie: Damian Popp; Bühne & Kostüme: Tanja Maderner; Musik: Jonas Schilling; Dramaturgie: Viola Köster Regieassistenz: Victoria Wehrmann.
Mit: Matthias Heße, Emily Klinge, Roman Mucha.
Uraufführung am 14. Oktober 2022
Dauer: 1 Stunde, 25 Minuten, keine Pause

www.schlosstheater-moers.de


Kritikenrundschau

"Damian Popp hat diesen mitreissenden, herrlich intelligenten Riesenbloedsinn kongenialisch und lustvoll in Szene gesetzt", schwaermt Wolfgang Platzeck in der Neuen Rhein Zeitung (17. Oktober 2022). "Der ungeheure Reiz von Praunheims scheinbarem Nonsens Stueck liegt im konsequent ueberspielten Subtext." Unter der blutig-froehlichen Oberflaeche liessen sich ernsthafte Themen ausmachen, und trotzdem: "Nach knapp 90 Mminuten, die wie im Schweinsgalopp vergingen, war das Premierenpublikum einfach nur tierisch gut drauf."

"Damian Popp, der erstmals in Moers Regie führt, zelebriert das Absurde und die Absurdität. Er inszeniert Praunheims Text als pralle Farce, laut, skurril, der derben Wortwahl folgend, mit karikaturenhaft gezeichneten Figuren in Schweinchen-Latex-Optik, mit viel Klamauk und ein bisschen Karneval", schreibt Anja Katzke in der Rheinischen Post (17. Oktober 2022). "Dort, wo der Funke ob der Geschichte nicht überspringen will, holen die Schauspieler die Zuschauer im Schloss zum Glück mit ihrer großen Spielfreude und ihrer Bühnenpräsenz wieder ab." Was die Inszenierung letztlich bis zum Ende trage, sei die Musik. "Für fast alle Passagen, in denen Rosa von Praunheim sein Personal singen lässt, hat Jonas Schilling die Musik auf die mal hintergründigen, mal kalauernden Texten komponiert. (...) Das Ensemble beweist nach "21 Lovesongs" wieder einmal wunderbar, wie sangesfreudig es ist."

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