Tal der fliegenden Messer - René Polleschs Ruhrtrilogie erster Teil
Planwagen-Simulation
von Regine Müller
Mülheim an der Ruhr, 7. Juni 2008. Am Ufer der Ruhr steht eine Wagenburg. Fahrendes Volk kampiert an jenem Fluss, der dem Ruhrgebiet den Namen gab, und der hier, mitten in Mülheim, fast idyllisch wirkt. Angler gehen ihrem Hobby nach, und friedliche Biertrinker betrachten neugierig die Vorbereitungen. Und die ziehen sich hin. Angekündigt war der Einlass für 20 Uhr, Vorstellungsbeginn 21 Uhr, tatsächlich darf man erst nach 21.30 Uhr das Rollende-Road-Schau-Zelt im Stadthallengarten betreten, in dem sich knapp zwei Stunden lang René Polleschs neues Stück "Tal der fliegenden Messer" in einer Art rasendem Stillstand ereignet.
Angler und Regisseure wissen, was sie an der Ruhr haben
In der Mitte des Zelts befindet sich die obligatorische Videowand, auf der alles zu sehen ist, was sich innerhalb der hölzernen Wagen und außerhalb des Zeltes abspielt. Mehrere Kameras sind im Einsatz, die Technik funktioniert einschließlich der erwünschten Ruckeleffekte reibungslos. Für Pollesch ist Mülheim fast ein Heimspiel, bereits zweimal wurde er hier mit dem Dramatikerpreis des "Stücke"-Festivals ausgezeichnet und entsprechend wohlwollend familiär sind die Publikumsreaktionen. Zumindest eine erklärte Fangemeinde vor Ort mag die importierte Volksbühnen-Ästhetik, auch und gerade weil Frank Castorfs Ruhrfestspiele-Intendanz beim breiten Ruhrgebiets-Publikum so grandios scheiterte.
Das Ganze ist gedacht als erster Teil der so genannten Ruhrtrilogie, ein Vorspann zum Kulturhauptstadtjahr 2010, und noch dazu ein Teil der Feierlichkeiten des Mülheimer Stadtjubiläums. Da drängt sich ein Bezug zum Ort natürlich auf, doch Pollesch erledigt ihn eher beiläufig: die Wagenburg der Unbehausten, Prekären als lapidaren Kommentar zum ehrgeizigen Stadtentwicklungsprogramm "Ruhrbania" vor Ort, das Programmheft freilich donnert mit schwerstem Theoriegeschütz zum Thema Architekturkritik nach.
In der Tradition des fahrenden Volks
Zu Beginn schnattert Christine Groß beleidigt "Ja, wollt ihr die Geschichte nun hören?", gegen Ende triumphiert Volker Spengler, verkleidet als Vodoo-Priester (oder Wahrsagerin?), mit blechern heiserer Hysterie: "Es gibt keine Geschichte!" Was zwischendurch passiert, ist mit dem Wort Handlung schlecht erklärt, vielmehr wird ständig mit großer Aufregung so getan, als ob etwas geschehe. Die Situationen und Szenarien ähneln sich, wiederholen sich und klappern dem atemlosen Text zumeist rettungslos hinterher.
Was natürlich gewollt ist, denn wie immer geht es Pollesch nicht darum, eine Geschichte zu erzählen oder gar, Figuren und Charaktere zu entwickeln. Pollesch serviert reinstes Metatheater, wild mäandernde Textbandwürmer, die sich an der Denkschule der Dekonstruktion nicht nur abarbeiten, sondern sich sogar selbst dekonstruieren. Denn unterbrochen und ironisiert wird das Theorietext-Theater durch immer wiederkehrende Zwischenrufe: "Du sitzt auf meiner Jacke" oder "Geh' doch mal weiter" oder Spenglers Geröhre "Wo ist denn nur mein roter Slip?"
Verweigerung des Leistungsprinzips
Der Text kreist um die nur noch als Gespenst geisternde Idee eines sentimentalen Sozialismus, um verlogene Kollektivbehauptungen, um das Recht auf den eigenen Untergang, um die Verweigerung des Leistungsprinzips, um Schmerz und Kitsch und um "Phantomschmerzen einer fehlenden Gemeinschaft". Brillantes steht neben Banalem, luzide Gedanken zur Ökonomisierung des Alltags münden in kabarettistischen Witzchen, und Rainer Werner Fassbinder und Alexander Kluge kriegen kräftig eins auf den Deckel.
Den szenischen Aufhänger bildet das Striplokal "Crazy Horse West", das einmal bessere Tage gesehen hat und sich in mieser Lage befindet. Der Chef hört auf den schönen Namen Cosmo Vitelli und wird von wechselnden Damen und Herren verkörpert, während Volker Spengler Volker Spengler, den Stuntman Mike und den erwähnten Vodoo-Priester gibt. Die Damen tragen Paillettenfummel, Netzstrümpfe und Stöckelschuhe, die Herren Zirkusuniformen, man tanzt, man raucht, man trinkt. Cosmo Vitelli gerät in Geldnot, verliert beim Glückspiel und hat Ärger mit einem chinesischen Buchmacher.
Charme der Baustelle
Es gibt ein paar Autofahrten, wobei Pollesch Quentin Tarantinos letztem Film "Death Proof" mit einer zitierten Stunt-Szene seine Reverenz erweist, eine Bootsfahrt über die Ruhr in einem DLRG-Rettungsboot und eine Schießerei am anderen Ruhrufer. Und irgendwann versickert der Text in Wiederholungsschleifen in sich selbst, und der Abend ist vorbei. In der letzten halben Stunde hat die Souffleuse ordentlich zu tun, was den Baustellencharakter von Polleschs Text zwar unterstreicht, den Theaterabend, der vorher mit dem Dilettantismus virtuos spielt, schließlich in selbigen durch seine Unfertigkeit abrutschen lässt, aber doch in der Summe amüsiert.
Tal der fliegenden Messer
Text und Regie: René Pollesch, Bühne: Bert Neumann, Kostüme: Nina von Mechow, Kamera: Ute Schall.
Mit: Inga Busch, Christine Groß, Nina Kronjäger, Martin Laberenz, Trystan Pütter, Volker Spengler.
www.ringlokschuppen.de
Mehr: ein umfangreiches Dossier über René Pollesch steht auf www.nachtkritik-stuecke08.de weiter zum Lesen und Downloaden bereit. Liebe ist kälter als das Kapital entstand im September 2007 in Stuttgart als Auftrag zu den Stammheim-Projektwochen und wurde im Mai 2008 zum "Stücke"-Festival nach Mülheim eingeladen. Wohin Die Welt zu Gast bei reichen Eltern, Premiere im November 2007 am Thalia Hamburg, es auch verdient hätte. Zuletzt inszenierte Pollesch an der Berliner Volksbühne Darwin-Win & Martin Loser-Drag-King & Hygiene auf Tauris und im Oktober 2007 ebendort Diktatorengattinnen I. Und hier spricht Pollesch höchstpersönlich über Mülheim und Das Tal der Fliegenden Messer.
{denvideo http://www.youtube.com/watch?v=IXaUNHmYs1U}
Kritikenrundschau
Ein "Mittelklasse-Pollesch" sei dies, schreibt Stefan Keim in der Frankfurter Rundschau (10.6.2008). Sowieso nutze Pollesch das von ihm "stets heftig kritisierte ökonomische System perfekt und hat seine eigene Arbeit zum Erfolgsprodukt designt, dessen Nachfrage ungebrochen ist." Dass die Themen dabei kaum variieren, findet er diesmal besonders schade, weil es ja nun speziell ums Ruhrgebiet gehen solle, was es aber – wohl weil die Inszenierung ab September in Berlin funktionieren müsse – nur selten tue. Auch wirkt der Text "unfertig" für ihn. Natürlich gehört das zum Stil, aber hier seien einfach "zu viele Längen und Wiederholungen". An den Schauspielern läge es nicht. Die seien prima und hätten viel Spaß. Aber das ästhetische Mittel, den Hauptteil der Aufführung nur über Video sichtbar zu machen, "hat sich langsam erschöpft, wirkt diesmal sogar wie eine Kapitulation des Theaters vor dem Kino, der Heimat der 'Kitschnudeln' und großen Gefühle, die hier nur noch zum ironischen Spielmaterial taugen, aber insgeheim ersehnt werden."
Jacqueline Siepmann konstatiert anlässlich von René Polleschs erstem Teil der bis 2010 geplanten Ruhr-Trilogie in der Neuen Ruhr/Rhein Zeitung (9.6.2008): "Keimender Ruhrbania-Glanz versus Arte Povera-Ambiente. Ambulantes Theater unter halbfreiem Himmel vor der Kulisse eines Stadtentwicklungsvorzeigeprojekts." Von dem, was mit 45 Minuten Verspätung beginnt, zeigt sich die Kritikerin jedoch eher enttäuscht: "das, was man von Pollesch kennt und erwartet". Der Text mäandere "systematisch zwischen trivialem Nonsens, intimen Bekenntnissen, Soziologenduktus und Wirtschaftswissenschaftshauptseminar", werde "bevorzugt dargebracht von Akteuren der A-Kategorie", die sich allerdings "alles andere als textsicher" zeigen. Das titelgebende "Tal der fliegenden Messer" könne überall sein, und genau das sei "ein Problem dieses Abends", da "der allseits beschworene Zusammenhang zum Ort, zum Ruhrgebiet überhaupt" in dem "zähflüssigen Werk reichlich unklar" bleibe.
Für Constanze Schmidt von dpa (8.6.2008) hingegen "fällt der Mangel an äußerer Logik wenig ins Gewicht", da hier "ohnehin die Sprache, die vor allem aus atemlos aneinandergereihten Theorietexten besteht, die eigentliche Hauptrolle spielt". "Schnoddrige Alltagsätze" sorgten in den "schwer zu verfolgenden Textströmen" und für ironische Brechung, wobei dieser "Eindruck der Verfremdung" noch durch das "parodistische, mit enormem Körpereinsatz arbeitende Spiel der grandiosen Akteure" unterstrichen werde. "Trashige Halbwelt-Optik zwischen Zirkus, Varieté und Rotlichtbezirk" sorge "zuverlässig für Stimmung", auch wenn der Abend am Ende leider zusehends ausfranse: "Die Textbausteine wiederholen sich und die Probenzeit reichte offensichtlich nicht, denn die Schauspieler haben immer häufiger Texthänger, so dass die Souffleuse einspringen muss." Ihr Fazit: "ein streckenweise erhellender, oft amüsanter Abend. Aber weniger wäre mehr gewesen".
"Lustlos" nennt Vasco Boenisch in der Süddeutschen Zeitung (11.6.2008) den Auftakt von Polleschs Ruhrtrilogie, die 2010 abgeschlossen sein soll. Der erste Teil gerate "so unschnittig und bodenlos, dass es fast an Arbeitsverweigerung grenzt". Das Stück mäandere lieblos zwischen seinen Versatzstücken, "als da wären: mafiöser Verdrängungswettbewerb im Nachtclubbusiness, Kritik am Teamworkgeschwafel und das übliche 'Dass du dich von den Handlungen emanzipierst, die nichts mit dir zu tun haben'." Immerhin das gelänge den Schauspielern. Boenischs Fazit: "Ein Zirkuszelt der faulen Entzauberung."
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es dürfte sich nicht ausschließlich um ein Problem der Nachtkritik handeln, das Sie da ansprechen. Denn auch die übrigen Kritiken, wie sie hier in der Umschau wiedergegeben sind, bleiben anscheinend analytisch unterambitioniert, distanziert und ziehen sich auf Allgemeinplätze zurück.
Vielleicht erwartet man hier aber auch zu viel. Dass sich Polleschs verwickletes Theater dem spontanen Zugriff, den die Premierenrezensenten - die Aktivisten der ersten Stunde - riskieren müssen, ist schon oft deutlich geworden (nicht nur in Mülheim). Die besten Texte, die man über ihn lesen kann, also z.B. die Texte von D. Diedrichsen, sind ja auch nicht unmittelbar auf eine Aufführung hin entstanden. Pollesch markiert gewissermaßen die Leistungsgrenzen des Genres Kritik. Und betrüblich ist es dann nur, wenn Kritiker probieren, ihre Probleme routiniert zu überspielen, und den Eindruck vermitteln, was da zu erleben ist, sei längst unendlich vertraut/verbraucht/bereits abgegessen. Das ist es sicherlich nicht.
Sie haben in der Tat Recht, nicht nur die Kritik von Regine Müller ist unzureichend und flach, auch die anderen Kritiken scheinen zumindest in der Übersicht nicht viel mehr zu bieten zu haben, außer vielleicht eine flottere Schreibweise. Vielleicht ist es wirklich so, wie Sie vermuten, wir kommen hier an die Grenzen der Theaterkritik, ein schnell geschriebener Text, der die üblichen Kategorien abhakt, kann nur scheitern und richtet mehr Schaden an (in Bezug auf Verfehlung des Gegenstandes etc) als Nutzen... Konsequent wäre deshalb, entweder gar nicht mehr über diese Inszenierungen schreiben zu lassen oder die Grenzen zu erweitern und anders zu schreiben, bspw. als theoretische Erörterung von jmd. der kundig ist, da gibt es doch bestimmt auch jenseits der Diederichsen Prominenz noch Leute. Generell müsste nach einer Theaterkritik jenseits des Mainstreams gesucht werden, die den Inszenierungen, den Abenden oder was auch immer passiert, gerecht wird - vielleicht ist es ja soweit?