Milch und Kohle - Theater Oberhausen
Im Käfig der Erinnerung
21. September 2024. Staublungen und Alkoholexzesse, Nescafé und Tanzabende, "Gastarbeiter"-Bekanntschaften und Gewalterfahrungen: Bis heute kommen einem die Figuren aus Ralf Rothmanns Ruhrgebiets-Familienroman verdammt nahe, obwohl er in den 1960er Jahren spielt. Die Regisseurin Maike Bouschen macht daraus ein kunstvolles Kammerspiel.
Von Sarah Heppekausen
21. September 2024. Wenn sich der eiserne Vorhang öffnet, stehen da zweifelhafte Gestalten, mit weißen Gesichtern, schwarz umrandeten Augen, Perücken auf dem Kopf. Figuren einer vergangenen Zeit, die der Erzähler Simon mit Zigaretten ins Leben haucht. Schnell ist klar: Erzählt wird hier Erinnerung, eine Geschichte, inszeniert als kunstvolles Kammerspiel.
Prägnant-poetische Ruhrgebietsliteratur
Solch eine Deutlichkeit passt erst mal gut zu Ralf Rothmann, der als Schriftsteller schon mehrmals das alte Ruhrgebiet in prägnant-poetische Worte gebündelt hat. Auch "Milch und Kohle" aus dem Jahr 2000 ist so eine Familiengeschichte im Ruhrgebiet der 1960er Jahre, zwischen Staublungen und Alkoholexzessen, Nescafé und Tanzabenden, "Gastarbeiter"-Bekanntschaften und Gewalterfahrungen, erzählt aus der Perspektive des Sohnes Simon. Der kommt zur Beerdigung seiner Mutter und erinnert sich an seine Jugendzeit – im proletarischen Milieu des Bergbaus.
Wie in einem Entwicklungsroman folgen wir dem älter werdenden Jugendlichen, wie er mit seinem Freund Pavel auf dem frisierten Moped unterwegs ist, um Bier zu trinken oder Frauen aufzureißen. Pavel – wütend, hoffnungslos und draufgängerisch bis zum Selbstmord. Simon – zurückhaltender, nachdenklicher und weniger belastet. Wir verfolgen mit ihm, wie sein Bruder einen "Piepmatz" in seinem Käfig erdrosselt. Wie seine ausgehfreudige Mutter ihr genähtes Kleid anprobiert. Wie sein Bruder den italienischen Gastarbeiter Gino im heimischen Bett entdeckt. Rothmann springt auch mal in den Szenen, es sind Erinnerungsstückwerke, erzählt wie beim Anschauen eines Fotoalbums, das nicht immer die chronologische Reihenfolge berücksichtigt.
Naiv staunender Beobachter
In ihrer Textfassung für das Theater Oberhausen gehen Regisseurin Maike Bouschen und Till Beckmann aber noch weiter, setzen eine eigene Reihenfolge, verschränken Szenen miteinander und wiederholen andere, kürzen sie an der einen Stelle und lassen sie dann später ausspielen – wie die Szene, in der Pavel seinen betrunkenen Vater brutal zusammenschlägt, weil der ihm den Garagenschlüssel verweigert. Als wollte Simon den Moment noch kurz verdrängen, nicht an sich ranlassen. Bei Tim Weckenbrock ist dieser Erzählersohn ein fast naiv staunender Beobachter dieses Schauspiels, mit seinen nach vorn hängenden Schultern wie in ständiger Abwehrhaltung.
Mehr Raum als im Roman bekommt Liesel, Simons Mutter, die bei Susanne Burkhard stolz mit toupierten Haaren und in Gummistiefeln (ein Relikt ihres früheren Bäuerinnenlebens) über die Bühne tanzt. Sie vereint so vieles: Bodenständigkeit und Sehnsüchte, Wille und Wehrlosigkeit, Trotz und Abhängigkeit. Jedes ihrer pinkfarbenen Kleider ist zugleich Ausrufezeichen und Stoppschild. Wirklich nah kommt ihr niemand, schon gar nicht ihre Kinder. Liesel zur Seite steht sogar ein ganzer Chor, um die Rolle der Frau(en) zu stärken. In ihren Kittelkleidern sitzen sie als Fabrikarbeiterinnen vor Mini-Nähmaschinen oder nähern sich als mahnender Pulk ihren Gesprächspartner*innen.
Ein Käfig für Kunstfiguren
Bühnen- und Kostümbildnerin Franziska Isensee hat das ganze Ensemble in einen nur nach vorne hin geöffneten Gerüstbau gesteckt. Wer gerade nicht spielt, klettert die Stangen empor, verknotet sich darin, hängt kopfüber herunter. Ein Käfig, der niemanden entkommen lässt. Ein Käfig für die Kunstfiguren.
Und genau hier liegt die Schwierigkeit. In Rothmanns Roman kommen diese Menschen im Ruhrgebiet der 1960er Jahre den Lesenden auch heute noch verdammt nahe, trotz oder vielleicht auch gerade wegen seiner nüchternen, aber detaillierten Schilderungen, trotz oder wegen seiner Sätze, die in ihrer brutalen Kargheit so viel mehr preisgeben von Wünschen, von Versäumnissen, von Lebenseinstellungen. In der Inszenierung bleiben die Menschen ferne Figuren. Und trotz mancher Komik (zum Beispiel, wenn Simon und Pavel den Kopf zu tief in die Lebensmitteltüten voller italienischer Köstlichkeiten stecken, aus denen dann vor allem reichlich Plastiktomaten purzeln) und Tanzeinlagen liegt auf diesem Szenensplitter-Abend eine Bedeutungsschwere. Und die ist kaum zu durchdringen.
Milch und Kohle
von Ralf Rothmann
In einer Fassung von Maike Bouschen und Till Beckmann
Regie: Maike Bouschen, Bühne und Kostüme: Franziska Isensee, Musik: Lutz Gallmeister, Licht: Alexandra Sommerkorn, Mitarbeit Choreinstudierung: Mattia Cedric Meier, Dramaturgie: Laura Mangels.
Mit: Tim Weckenbrock, Susanne Burkhard, Jens Schnarre, Daniel Rothaug, Philipp Quest, David Lau, Klaus Zwick, Torsten Bauer, Chor: Gizem Aliusta, Hürrem Balaban, Sevda Beser Cidal, Frieda Becker, Lisa Brandenberg, Jorid Disteldorf, Manuela Dost, Sarah Grebe, Sophie Köller, Andrea Wilming.
Premiere am 20. September 2024
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
theater-oberhausen.de
Kritikenrundschau
"In den ersten Sätzen ist da noch ein bisschen Ruhrgebiets-Romantik", berichtet Klaus Stübler in den Ruhr-Nachrichten (23.9.2024, €), aber das ändere sich schnell in Maike Bouschens Inszenierung, die die Chronologie des Romans zugunsten "assoziativer Gedankensprünge" auflöse. Tim Weckenbrock sei als Hauptfigur Simon "eine Wucht", so der Kritiker. "Ein Clou der Inszenierung ist der eingefügte Sprech- und Bewegungschor junger Frauen, welche mit kurzen Einwürfen auf das Geschehen reagieren und es kommentieren. So ergibt sich ein intensives, fast schon klassisches Stück versuchter Vergangenheitsbewältigung."
Von einer "dunkel-glänzenden Uraufführung" schwärmt Ralph Wilms in der WAZ (23.9.2024, €). Anders als der Roman sei die Inszenierung "ein langer Moment der Rückschau". Die "bleich geschminkten Gesichter hätten auch Regie-Altmeister Robert Wilson entzückt, die überzuckert bunte Garderobe nicht minder", mutmaßt der Kritiker. "Ein echter Bühnen-Coup" sei "der große Frauenchor aus neun Laien-Darstellerinnen": "In ihren weißen Kleidern ähneln sie nicht nur äußerlich dem Chor der griechischen Antike, sondern auch in der Funktion. Sie kommentieren die Dialoge mit Biss und punktgenauen Pointen, wie sie Rothmanns herber Text en gros liefert."
"Sehr schnell" und "teilweise auch sehr kleinteilig" sei der Erinnerungsstrom der Hauptfigur angelegt, berichtet Christoph Ohrem im WDR (21.9.2024). "Da fehlt es zumindest mir ein wenig an der Zeit, das auch einmal sacken zu lassen und das, was Rothmanns Roman ausmacht, emotional mitzunehmen: nämlich dieses Mitfühlen", urteilt der Kritiker.
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