Am Ende eines kleinen Dorfes - Im Thalhof in Reichenau an der Rax inszeniert Anna Maria Krassnigg eine Novelle von Marie von Ebner Eschenbach
Klein, marginal, erdrückt
von Veronika Krenn
Reichenau / Rax, 4. August 2017. Durchs Fenster grüßt das mächtige Gebirgsmassiv der Rax, die alpine Kulisse des Heilkurorts Reichenau. Drinnen, im einstigen Grandhotel Thalhof, wirken die drei Menschenwesen klein, marginal, erdrückt von ihrer eigenen Geschichte. Zumal sich eine von ihnen selbst die "Untote" nennt: Stets muss sie sich ihres Körpers neu versichern, der wie ein faszinierendes Kostüm an der Seele zu baumeln scheint. Wieder und wieder blicken die gottvergessenen Kreaturen hinaus, durch die gläserne Fensterfront, die den Kräften der Natur und dem Schauspiel des Himmels eine luftige Bühne ist.
Herrliches Flickwerk
Am Premierenabend von "Am Ende eines kleinen Dorfes" senken sich Nebelschwaden über die Berge, durchzucken Blitze den sich verdunkelnden Himmel, als Anna, die schmale, großgewachsene und rehäugige Protagonistin, den Staub ihrer Jugend von sich schüttelt. Anna Maria Krassnigg hat dafür die Novelle "Die Totenwacht" von Marie von Ebner Eschenbach bearbeitet. Die mährisch-österreichische Grande Dame der psychologisch-gesellschaftskritischen Erzählkunst ist nur selten auf der Bühne zu erleben – mit einer Singspielbearbeitung ihres wohl bedeutendsten Romans Das Gemeindekind würdigte sie 2015 das Wiener Schauspielhaus unter Andreas Beck.
In "Am Ende eines kleinen Dorfes" begegnet Anna am Totenbett ihrer Mutter dem verhassten Nachbarssohn Georg, der sich allzu spät ein Herz fasst, Anna um ihre Hand zu bitten – und scheitern muss. Auf seinem Gewissen lasten kindliche Gewalt und ein sexueller Übergriff, der für Anna Folgen hatte, denen er sich aber durch Verleugnung entziehen konnte. Die Mutter, die Doina Weber hier als schelmische Untote und gewitzte Kupplerin spielt, wirkt als eine herrliche Erzählerin, die die Dialoge wie von geisterhafter Hand mit Nahrung speist. Anna trägt sogar zwei Gürtel eng geschnallt – ihr Rock ist aus Hosen und anderen Teilen zu einem herrlichen Flickwerk genäht (Kostüme: Antoaneta Stereva).
Geschichte weiblicher Selbstermächtigung
Bühnenbildnerin Lydia Hofmann hat den Boden mit weißem Scherenschnitt-Papier ausgelegt, darauf sind Ballen roher Wolle verweht. Ein Spinnrad und weiß getünchte Holzfenster stehen ruinenhaft verwaist auf Kommoden im Raum. Das Fensterglas ist längst trübe geworden. Hier strecken Anna und Georg einander in Wortgefechten nieder – Petra Gstrein und Jens Ole Schmieder bedienen sich dabei der gesamten Gefühlsfarbpalette. Regisseurin und Autorin Anna Maria Krassnigg inszeniert das auf epischer Bühne mit feinem Gespür für die Sprache, die immer neue Räume für ihr herrliches Ensemble öffnet und so kurzweilig eine der vielen vergessenen Geschichten weiblicher Selbstermächtigung erzählt.
Bezüge zur Gegenwart bleiben in der Inszenierung selbst ausgespart, nicht aber bei den eng mit der Vorstellung verknüpften "salon.gesprächen", wo sich am Premierenabend etwa Literaturexpertin und Leporellobuchhändlerin Rotraut Schöberl mit der Regisseurin über Frauen, Frauenliteratur, Arbeit und die soziale Frage austauschte. Krassnigg, Regieprofessorin am Max Reinhardt Seminar, bespielt seit 2015 den Thalhof in Reichenau mit Entdeckergeist, der sie Klassiker ebenso wie junge, zeitgenössische Autor*innen schürfen lässt. Salon-Gespräche mit Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und anderen eröffnen dabei zusätzliche Ein- und Ausblicke auf Literat*innen und Theatertexte. Der Thalhof, lange ein Landgut, wurde Ende des 19. Jahrhunderts zum Grand Hotel, wo sich die künstlerische und intellektuelle Elite ein Stelldichein gab, etwa auch Arthur Schnitzler – und Marie von Ebner-Eschenbach.
Am Ende eines kleinen Dorfes
Regie: Anna Maria Krassnigg, Regiemitarbeit: Jérôme Junod, Bühne: Lydia Hofmann, Kostüm: Antoaneta Stereva, Musik: Christian Mair, Regieassistenz: Marie-Therese Handle.
Mit: Petra Gstrein, Jens Ole Schmieder, Doina Weber.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
salon5.at
Kritikenrundschau
"Ein großes Drama geschieht hier zwischen kleinen Leuten. Dass Krassnigg es aus der ebenso kleinen Form der Novelle zum Theaterstück vergrößert hat, mutet erst wie zu viel der Ehre an: zwar tragisch, doch zu zart, zwar übertragbar, doch verstaubt", schreibt Michael Wurmitzer im Standard (6.8.2017). Aber "diese Anna" sei eine höchst bemerkenswerte Frau. "Nicht nur weil Gstrein sie mit glasigen Augen schluchzend und zugleich bodenständig-stark gibt, imponiert sie." Überhaupt habe sich das gesamte Ensemble den Schlussjubel verdient.
"Ebner-Eschenbach beweist viel Einfühlungsvermögen. Doch die Autorin lässt es nicht dabei bewenden, dass Anna bloß ein Opfer bleibt", schreibt Norbert Mayer in der Presse (6.8.2017) "Anna wird hier zur starken Heldin. Manchmal meint man, eine antike Rächerin zu sehen, so stolz und verhärmt, mit viel Pathos und auch Sentiment wird diese Rolle von Gstrein gespielt. Sie ist wirklich furios, wenn sie Gott und die Welt verflucht."
'Am Ende eines kleinen Dorfes' sei ein packender, fesselnder und kurzweiliger Theaterabend, so Benedikt Fuchs vom ORF (5.8.2017). "Das Bühnenbild und die Leistung des Schauspielensembles überzeugen. Literatur wird im Thalhof lebendig."
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