Die Gräuel der eigenen Geschichte

30. Januar 2022. Die Klage vieler verlassenen Frauen raunt durch den neuen Abend von Frank Castorf. Geschrieben hat den Text Irina Kastrinidis, seine ehemalige Lebensgefährtin. Der gemeinsame Sohn steht mit auf der Bühne, auf der ein Verfall erzählt wird.

Von Gabi Hift

"Schwarzes Meer" in St. Pölten © Alexi Pelekanos

30. Januar 2022. Eine elegante Frau im schwarzglitzernden Witwenfummel tritt an die Rampe der kleinen St. Pöltner Bühne und deklamiert in makelloser Sprache: "Verloren ist das Land. Offen vor mir, klaffend blutende Wunde, liegt das Meer. Zeit und Liebe fallen auseinander." Ihr glühender Blick richtet sich in die Ferne, hinter die letzte Reihe. Mit feinnervigen Tragödinnenhänden greift sie in die Luft. Hinter ihr ein weißer Felsen aus Packpapier, griechische Insel oder Mondkrater. Ist das ernst gemeint? fragt man sich. Es wäre möglich.

Julia Kreusch beherrscht den gehobenen Ton, adelt die Unebenheiten des Textes mit ihrer wunderschönen Sprache, sieht aus wie Angela Winkler in Grübers "Iphigenie", hat sogar den gleichen Schönheitspunkt über der Lippe. Oder ist es ein Scherz?

Aber wenn es einer sein sollte, dann wäre es ein grausamer. Denn der Regisseur des Abends heißt Frank Castorf, der Text, der hier jeden Augenblick in die Lächerlichkeit abstürzen kann, stammt von Irina Kastrinidis, seiner früheren Lebensgefährtin. Und der kleine Astronaut, der hinter der schwarzen Witwe auf dem weißen Felsen steht, ist Mikis Kastrinidis, der Sohn der beiden.

Klage der verlassenen Frau

Der Text ist ein langer, mäandernder Monolog einer verlassenen Frau, durch die die mythischen Gestalten der alten griechischen Sagen ebenso sprechen wie die Vorfahren der Autorin – und er ist in einer gebundenen, poetisch sein wollenden Sprache voller Klischees geschrieben. Im Vorfeld konnte man rätseln, was Castorf mit so einem Text anstellen würde. Ich hielt es immerhin für möglich, dass er, der die Autorin so gut kannte, hinter dem unbeholfenen Text etwas entdeckt hatte, das mir beim Lesen entgangen war.

Die andere Möglichkeit schien mir, dass er die Schwäche des Textes zwar gesehen, ihr aber einen Gefallen tun und ihr mit seinem Namen zu einer Uraufführung hatte verhelfen wollen (was ich sehr anständig fand). In dem Fall so dachte ich, würde er einen klassischen Castorf liefern, mit massenhaft Fremdtexten, 90 Prozent Heiner Müller, jeder Menge Filmeinspielungen und einem Riesen Remmidemmi – wie er das allerdings mit nur drei Leuten bewerkstelligen würde, eins davon ein Kind, war mir ein Rätsel.

Absturz-Erzählung

Tatsächlich hat er etwas völlig anderes getan, er hat das Thema von der Klage der verlassenen Frau verschoben zu einem Psychothriller, bei dem man den Verfall der Sprecherin beobachten kann. Zunächst versucht es der Regieassistent, "Herr Schimböck", in einer Parodie schlichter Regieversuche, mit simplen Illustrationen. Aus dem kleinen Holztisch wird mithilfe eines weißen Tischtuchs und einer Flasche Wein eine griechische Taverne; er drückt Elefteria, als sie von einer Zeit in Paris spricht, flugs zwei rote Luftballons in die Hand; kaum sagt sie: "Und da erscheint, ganz unverhofft, das alte Lied der Ahnen wieder", ertönt der Sirtaki aus "Alexis Zorbas".

SchwarzesMeer 1 AlexiPelekanos uViele Figuren in einem, von Medea bis Blanche du Bois, Romy Schneider oder Cassavetes' Myrtle: Julia Kreusch in "Schwarzes Meer" mit Mikis Kastrinidis © Alexi Pelekanos

Aber schon bald lässt sich Julia Kreusch das nicht mehr gefallen, greift zur Flasche und beginnt ihren langen entsetzlichen Absturz. Sie sieht sich abwechselnd als Wiedergängerin von Medea, von Romy Schneider im Film "Swimmingpool", von Ida Rubinstein, der schillernden russischen Tänzerin aus den 20er Jahren, und als Vertriebene von den Küsten des Schwarzen Meeres. Aber dahinter sieht man bald eine zitternde Säuferin, die mit letzter Kraft ihre Illusionen über die eigene Grandiosität aufrechterhält. Sie ist eine Schwester von Blanche du Bois aus "Endstation Sehnsucht", von Myrtle aus Cassevetes‘ "Opening night" – und von der verzweifelten Frau in Cocteau’s Melodram "Die geliebte Stimme".

Hysterie am Telefon

Und auf die spielt Castorf nun tatsächlich an: nach etwa einem Drittel läutet auf der Bühne ein altmodisches Telefon, aus dem eine hysterische Stimme tönt – und Julia Kreusch sagt zu Mikis Kastrinidis, das sei seine Mutter, die sie, Julia Kreusch, ja gerade verkörpert. Irina Kastrinidis, so die Annahme, sitzt in Zürich, und verlangt von Julia Keusch, dass sie sie beim Proben zuhören lässt.

Kreusch hält den Hörer zu und macht sich zum Publikum gewandt über sie lustig. Sagt, sie könne diese Stimme nicht ertragen (und alles lacht), seufzt und verdreht die Augen. Mikis wiederum will nicht nach Hause nach Zürich, behauptet die Verbindung sei schlecht und legt den Hörer auf.

Als Zuschauerin kann man sich nicht dagegen wehren, zum Komplizen zu werden, wenn sich hier über Irina Kastrinidis lustig gemacht wird – insbesondere, weil man den Text ja selbst als unerträglich selbstverliebt und hohl empfindet. Aber man möchte trotzdem nicht mitmachen, wenn der berühmte und mächtige Mann Castorf, der selbst Gegenstand des klagenden Textes ist, sie hier eiskalt opfert zu Gunsten eines funktionierenden Theaterabends.

Demütigung ohne Transformation

Man kann aber auch nicht wegschauen, denn Julia Kreusch spielt grandios. Und man hat auch von Castorf noch nie das Psychogramm einer einzelnen Person gesehen, so psychologisch wie Cassevetes oder Abel Ferrara. Zwar geht sie durch die üblichen Qualen, mit denen Castorf seine Spielerinnen gern an den Rand des Zusammenbruchs treibt: Sie ist schon bald halb nackt, den Kopf muss sie immer wieder in eine Tonne mit Wasser tauchen, waterboarding durch eine höhere Gewalt, und als sie schon fast erstickt, kommt Herr Schimböck mit der Mahnung, das sei noch lange nicht genug.

Gleich darauf muss sie den nackten Fuß übers Feuer halten. Mikis kommt mit einer Ziege (bezaubernd wie die Castorf Tiere immer sind und auch Mikis ist lustig und charmant), deren Meckern Elefteria als schreckliches Stottern in den Leib fährt. Was ihre Qualen von denen unterscheidet, mit denen Castorf üblicher Weise seine Leute in die Selbstentäußerung treibt, ist, dass hier zwar aus der Demütigung – wie oft bei ihm – eine großartige künstlerische Leistung erwächst, aber die Person, die gedemütigt wird und die deren bloßgelegtes Inneres man danach bewundert, sind hier zwei verschiedene Personen.

SchwarzesMeer 2 AlexiPelekanos uRunter auf vier Füße: Julia Kreusch, eine Ziege und Mikis Kastrinidis in Castorfs "Schwarzes Meer" © Alexi Pelekanos

Gedemütigt wird die Autorin Irina Kastrinidis, aber deren Text bleibt schlecht. Die großartige schauspielerische Leistung, die bewundert werden kann, kommt von Julia Keusch. So wird die Demütigung nicht transformiert. Das Theater wirbt damit, dass in dem Stück "ein dunkler Teil der Geschichte Griechenlands" behandelt werde, nämlich die Vertreibung und Ermordung der Pontosgriechen nach dem Ende des türkisch-griechischen Kriegs.

Allerdings wartet man darauf vergeblich. Der eine Großvater von Kastrinidis war Pontosgrieche, aber mehr erfährt man nicht. Kastrinidis benutzt das nur, um dem eigenen Beziehungsdrama Tiefe und historischen Nachhall zu verleihen und lässt ihre von der Liebe geschlagene Elefteria sagen: "In Trauer und gedankenleer kehr ich zurück als Überlebende des Holocaust". Das berührt peinlich.

Warten auf die Verbeugung

Kurz vor Ende hat Castorf in Abweichung vom Text einige entsetzliche Berichte über Vertreibung und Todesmärsche eingefügt, die in klarer, nicht verschwiemelter Sprache verfasst sind. Es ist als wollte er sagen: "So, genug Psychologie, nun wieder zum wirklich Wichtigen, das auf der Welt vorgeht." Allerdings diskreditiert er damit den selbstbezogenen, die Gräuel der eigenen Familiengeschichte romantisierenden Text nachträglich noch mehr.

Castorfs Haltung erinnert an den ebenfalls zu seinen Partnerinnen in Kunst und Leben sehr grausamen Brecht. Der schrieb über eine ehemalige Geliebte: "Ich ließ sie, und sie fiel abwärts, denn dies war ihr Weg." Scheußlich, freilich, besonders wie er daraus eine elegante Gedichtzeile macht; wie auch Castorf hier einen eleganten und scheußlichen Theaterabend aus dem Ärmel geschüttelt hat.

Bei Brecht kommt dann allerdings noch: "Aber nachts, zuweilen, wenn ihr mich trinken seht, sehe ich ihr Gesicht, bleich im Wind, stark und mir zugewandt, und ich verbeuge mich in den Wind." Auf eine solche Verbeugung von Castorf wartet man vergebens.

Schwarzes Meer
von Irina Kastrinidis
Inszenierung: Frank Castorf, Bühne: Aleksandar Denić, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Musik und Video: Martin Andersson.
Mit: Julia Kreusch, Mikis Kastrinidis, Sebastian Schimböck.
Premiere am 29. Januar 2022
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.landestheater.net

 

Kritikenrundschau

"Was wollten uns die Dramatikerin und ihr Regisseur mit diesem Werk eigentlich sagen? Das Rätsel bleibt ein Enigma", schreibt Norbert Mayer in der Presse (31.1.2022). Seltsam durchwachsen sei der Text. "Stark ist er im Grauenhaften, eitel wirkt er im Selbstreferenziellen aus dem künstlerischen Milieu." Stets wechsele sich Poetisches und Banales, Tragisches und Heiteres ab. "Kastrinidis betreibt wilde Assoziationen, denen Uneingeweihte wohl kaum folgen können." Mit Hanswurstiaden und auch mit kontrastreicher Musik durchbreche die Regie den hohen Ton. "Diese Kunstgriffe hellen den dunklen Monolog auf."

Kastrinidis vermittle in erster Linie eine sehnsüchtige Atmosphäre wie Udo Jürgens' 'Griechischer Wein', "nur mit viel mehr Worten, oft banal, mit manchmal schiefen Sprachbildern", schreibt Martin Thomas Pesl in der Welt (31.1.2022). "Castorf war wohl bewusst, dass der Text, gelinde gesagt, nicht so viel hergibt, also arbeitete er an ihm vorbei." Der Hauptgrund für den Applaus des Publikums sei Julia Kreusch. Sie rezitiere "klar und melodisch, inbrünstig und auswendig die ganze leidige Leier des Stücktextes, verausgabt sich körperlich und macht auch einigermaßen würdevoll Castorfs maue selbstreferenzielle Scherze mit". Für diese bemerkenswerte Leistung gebühre ihr der Friedensnobelpreis. "Oder Schmerzensgeld."

"Was dieser Text, in Kreuschs überschnappender Manier, nicht alles in rollenden Jamben zum Besten gibt: das Heimweh der Medea. Das Leid der Entwurzelten. Die erotischen Wechselfälle Eleftherias, die als eine Art Romy Schneider der lavendelduftenden Küste mit Alain Delon poussiert ("Achilleas"). Man darf auch an Jane Birkin denken, an Serge Gainsbourgs Begattungsgesänge“, schreibt Ronald Pohl vom Standard (30.1.2022). "Vor allem aber wird der vergessenen Opfer der Umsiedlungskatastrophe von 1923 würdig gedacht. Das heißt: gespickt mit Zitaten aus der historischen Fachliteratur. Versehen mit zahlreichen Anspielungen auf die reale Person Kastrinidis. An allen Ecken aber lodert ein archaisches Begeisterungsfeuer, das hellhörige Bewusstsein für die Macht des Eingedenkens." Der Kritiker erlebte dank der "ingeniösen" Schauspielerin Kreusch "zweieinhalb göttliche Theaterstunden". Frank Castorf nehme St. Pölten im Sturm ein.

"Kastrinidis deutet mehr an, als dass sie konkret erzählt. Ihr Text trieft vor Pathos, ist hochgestochen und doch relativ hohl", schreibt Karin Cerny von der Wiener Zeitung (31.1.2022). "'Schwarzes Meer' ist ein zäher Abend, der erst gegen Ende Fahrt aufnimmt. Castorf fügt Fremdtexte ein über Kriege in Ruanda und Afghanistan, über zerhackte Leichen, die am Straßenland liegen und Kinderhandel. Diese Erdung tut dem Geschwurbel gut zu erzählen, worum es konkret geht bei einem Genozid. Kreusch wird ruhiger, eine schöne Erschöpfung macht sich breit."

Castorf wisse "genau, wie er das Publikum bei Laune hält", urteilt Thomas Trenkler im Kurier (31.1.2022). Zum Stück habe er "eine Parallelhandlung erfunden", die er "bis zum Schluss" durchhalte. Und: "Er hebt hervor, lockert auf, spitzt zu." Damit erzeuge er eine "Beklemmung", die sich bis zum Ende dieses "ganz großen Abends" bis zum Ende "unaufhörlich" steigere.

"Kreusch schauspielert sich die Seele aus dem Leib", ist Juliane Fischer in den Salzburger Nachrichten (31.1.2022) von der "Meisterleistung" der Hauptdarstellerin begeistert: "Eindringlich, kompromisslos, textsicher - und das zweieinhalb Stunden lang." An ihr vor allem liege es, dass diese Premiere "glückte" und sich der "Ausflug" in die Antike der Pontusgriechen auszahle.