Splatter-Szenen einer Un-Ehe

31. März 2023. Markus Öhrn inszeniert nach Ingmar Bergman: Was verbindet den Arrangeur von Gewaltorgien auf der Bühne mit der feinnervigen Kunst des Filmregisseurs? Die Kritik am Bürgerlichen und seinen Abgründen. Was ihre Ästhetiken unterscheidet, lässt sich in Wien auch per Kombiticket vergleichen.

Von Gabi Hift

"Szenen einer Ehe" von Markus Öhrn nach Ingmar Bergman © Marcel Urlaub

31. März 2023. "Viel Spaß" wünscht gleich zum Auftakt die milde Stimme des Regisseurs Markus Öhrn vom Band. Viel Spaß?? Den erwartet man sich nicht gerade von "Szenen einer Ehe", und auch nicht von den berüchtigt brutalen und grausamen Performances von Markus Öhrn.

Die Bühne steckt in einem altmodischen Guckkastenrahmen mit kunstseidenem Vorhang, im Hintergrund klimpert eine Spieluhr "Für Elise". Öhrn sagt, er freut sich, als Schwede eingeladen worden zu sein, das Werk des berühmten Landsmannes in Wien zu interpretieren. Öhrn und Bergman teilen die Faszination für die Abgründe von Gewalt, Entsetzen und Abhängigkeit, die unter der Oberfläche von "ganz gewöhnlichen" bürgerlichen Beziehungen lauern. Insofern sollte "Szenen einer Ehe" die ideale Vorlage für diese erste Inszenierung eines fremden Textes für Öhrn sein.

Der Film von Ingmar Bergman wird im April im Wiener Gartenbaukino gezeigt – es gibt Kombitickets. Endlich einmal wird dem Publikum ein Interesse am Vergleich zweier verschiedener Zugriffsweisen auf denselben Stoff zugetraut. Endlich ein Regisseur, der seine Arbeit in einem gemeinsamen gedanklichen Raum mit einem anderen Künstler sieht.

Als Fernsehserie ein Straßenfeger und Scheidungsanlass

Als die sechs Folgen von "Szenen einer Ehe" im April 1973, vor genau 50 Jahren, wöchentlich im schwedischen Fernsehen ausgestrahlt wurden, sollen die Straßen von Stockholm leergefegt gewesen sein. Noch im selben Jahr ließen sich, heißt es, unzählige Paare scheiden. Die Geschichte ist ganz einfach: Marianne und Johan sind ein Musterehepaar aus dem bürgerlichen Mittelstand. Seit zehn Jahren verheiratet, zwei Töchter. Beide sind beruflich erfolgreich, er als Wissenschafter, sie als Anwältin. Am Anfang sehen wir sie, wie sie der Journalistin eines Lifestyle-Magazins ein Interview für einen Artikel über ideale Ehen geben. Danach geht es bergab. Beide fühlen sich eingeengt, können aber nicht ausdrücken, wovon. Dann verkündet Johan, dass er sich in eine junge Frau von 23 verliebt hat und mit ihr weggehen wird. Marianne ist zuerst verzweifelt, dann löst sie sich von Johan. Zwei Jahre später ist er es, der die endgültige Trennung nicht erträgt. Als sie auf Scheidung besteht, versucht er sie zu vergewaltigen und schlägt sie.

SZENENEINEREHE1 MarcelUrlaub uHier sind sie noch ein Paar: Bettina Lieder und Elias Eilinghoff als Marianne und Johan © Marcel Urlaub

Öhrn hat Bergmans Drehbuch-Text stark gekürzt aber ansonsten – bis auf kleine Modernisierungen – 1:1 übernommen. Während sich an den Gewaltstrukturen in der bürgerlichen Ehe in 50 Jahren erschreckender Weise so wenig geändert hat, dass sich der Text mühelos ins Heute übertragen lässt, könnte der Unterschied in der Form größer nicht sein. Markus Öhrn kommt aus der bildenden Kunst und ist (übrigens genau wie Signa Sörensen) über die Installation Art quasi ins Theater hinübergeschlittert.

Auf den engen Gleisen freundlicher Normalität. Oder?

Während Bergmans Film alles über die Ausdruckskraft der Gesichter von Liv Ullmann und Erland Josephson erzählt, haben die Figuren bei Öhrn keine beweglichen Gesichter. Bettina Lieder und Elias Eilinghoff tragen starre Pappmaché-Masken, die Augen sind wie draufgepappte Pancakes mit einem schwarzen Loch in der Mitte. Die Münder sind leicht offen, bei ihm zeigen die Mundwinkel nach oben, in unveränderlich blöder Belustigung, bei ihr nach unten, in festgefrorenem Dauerschreck. Die beiden sprechen selbst, die Stimmen sind aber verfremdet, seine verlangsamt und tiefer, ihre mickymausig hoch.

Solange die beiden so tun, als ob alles in Ordnung wäre, funktionieren die Dialoge auch mit diesen verfremdeten Kunstwesen perfekt. Sie bewegen sich in der spärlich eingerichteten Ikea-Wohnung (natürlich! Schweden!) auf den engen Gleisen freundlicher Normalität. Ein Billy Regal schlägt die Brücke über die Jahrzehnte, der Küchentisch ist aus der neuen Kollektion. Sobald es im Film ans Eingemachte geht, ein Riss in der Fassade auftaucht, wird das, was im Film an den Gesichtern abzulesen ist, von den Volkstheater-Schauspieler*innen konsequent ins Körperliche übersetzt. Als Marianne schwanger ist und Johan ihre Gefühle komplett ignoriert, zieht sie aus ihrem blutenden Unterleib eine meterlange Nabelschnur, an deren Ende in einem kleinen Säckchen ein blutiges Embryopüppchen steckt. Mit dem spielt sie, verhätschelt es mal, mal klatscht sie es gegen die Wand, solange bis beide gemeinsam es kaputt machen: die Sache hat sich erledigt, sie wollten beide kein weiteres Kind.

Angstlust, die sich in grandiosen Blödsinn wendet

In der Szene, in der Johan die Scheidung verweigert und gewalttätig wird, geht erwartungsgemäß ein wildes Gemetzel los. Allerdings sieht man – anders als in früheren Produktionen von Öhrn – niemals die Gewalt selbst, sondern nur den Zwischenstand. Sobald eine der Figuren das Messer hebt (in dieser Variante ist Marianne nicht mehr so wehrlos wie bei Bergman, sondern kommt mit einem Schlachtermesser in der Tasche zum Treffen) oder das Hackebeil schwingt, schließt sich possierlich der Vorhang, man hört Musik und Geräusche, und wenn er sich wieder hebt, sehen wir die beiden in jedes Mal noch desolaterem Zustand, mit aufgeschlitzten Bäuchen, aus denen immer mehr Gedärme herausquellen.

Beide, Bergman und Öhrn, erzielen ihre Wirkung durch Angstlust. Klassischer Horror-Splatter bei Öhrn, Psycho-Splatter bei Bergman. Nach dem fünften Durchgang sinken bei Öhrn die zu Unkenntlichkeit aufgerissenen und blutbeschmierten Körper in einem Darmschlingennest zusammen und sterben. Das war das vom schwedischen Schocker-Regisseur zu erwartende Ende – ohne die bürgerliche Milde Bergmans, der Marianne und Johan Jahre später noch eine versöhnliche Szene schenkt.

SZENENEINEREHE3 MarcelUrlaub uSplatter-Opfer Elias Eilinghoff © Marcel Urlaub

So dachte ich jedenfalls. Aber dann kommt es ganz anders: Das Licht wird romantisch rot, und aus dem Haufen zerfetzter Leichenteile erheben sich die beiden als Zombies, wanken Hand in Hand an die Rampe und singen im Duett: "You with the sad eyes" (das muss man sich an einen Partner mit Cupcake-eyes gerichtet vorstellen), "I see your true colors shining through" – Cyndi Laupers "True colors": "Don't be afraid to let them show, true colors are beautiful like a rainbow."

Das ist der grandiose Blödsinn, der in der Hoffnung liegt, die Menschen müssten sich nur öffnen und den anderen unerschrocken all die Scheußlichkeiten aus ihrem Inneren zeigen, dann würden sie dafür geliebt und alles würde gut. Was ist daran komisch? Schwer zu sagen. Was so befreiend? Unklar. Aber ungeheuer komisch ist es, und auch befreiend. Es ist ein sehr überraschendes und irgendwie Wienerisches Ende dieser skandinavischen Gewaltorgie: der süße Trost des Makaberen, der kleine Kuss mitten im Schlatz und Gatsch von Blut und Sinnlosigkeit. Beschwingt und ein bissl müde geht man hinaus in die laue Frühlingsnacht – voll Mitgefühl für Marianne und Johan und für sich selbst.

 

Szenen einer Ehe
Frei nach dem gleichnamigen Film von Ingmar Bergman
Regie und Bühne: Markus Öhrn, Kostüm: Eleonore Carrière, Sounddesign: Joachim Zach, Lightdesign: Anton Andersson, Dramaturgie: Henning Nass.
Mit: Elias Eilinghoff, Bettina Lieder.
Premiere am 30. März 2023
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause

www.volkstheater.at

Kritikenrundschau

"Die Inszenierung ist mit bald drei Stunden etwas zu lang geraten, aber Öhrn erweist sich einmal mehr als Meister des brutalen Kammerspiels," schreibt Petra Paterno in der Wiener Zeitung (31.3.2023). "Ob seine geradezu absurd-bestialische Deutung von 'Szenen einer Ehe' tatsächlich etwas über das gegenwärtige Beziehungsleben auszusagen vermag, darf bezweifelt werden - ein packender Theaterabend ist ihm allemal gelungen."

"Dieser Theaterabend beeindruckt durch eine ganz eigene, abgründige Komik," schreibt Theresa Luise Gindlstrasser in der Wiener Tageszeitung Der Standard (1.4.2023). "Die Öhrn’sche Fassung des Bergman-Dramas kehrt die Beziehungslosigkeit dieser bürgerlichen Beziehung hervor – bis ins Groteske überzeichnet. Jeweils zwischen den vier Teilen des Abends schließt sich der Vorhang für Umbaupausen. Musik von Bach oder die Fortführung der Carpe-diem-Sprüche an den Wänden des Foyers setzen das Bühnengeschehen als verstörend kunstvolle Gesamtabendgestaltung fort."

 

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